Was wäre eine Botschaft, die sich von den Werten und der Verfassung des Heimatlandes lossagt? Ein Botschafter, der für ein günstiges Entgelt wertlose, gefälschte Pässe seiner Heimat vergibt, nur um dem Vorwurf der Ausgrenzung und Exklusivität zu entgehen? Der die eigene Landesflagge nicht mehr hisst, aus angeblichem Respekt vor lokalen Befindlichkeiten? Als Christen sind wir Botschafter an Christi statt. Dazu muss auch gehören, Flagge zu zeigen und für die Werte und Verfassung unserer himmlischen Heimat einzustehen. Auch wenn diese mal unpopulär sind.
Tehran, 13. Dezember 2020. Im Iranischen Aussenministerium brodelt es gewaltig, die Luft ist dick. Grund für die Verstimmung ist eine offizielle Mitteilung des Deutschen Auswärtigen Amtes, welche die tags zuvor vollzogene Hinrichtung des regierungskritischen Bloggers und Journalisten Ruhollah Sam scharf kritisiert und die iranische Regierung explizit dazu auffordert, “alle politischen Gefangenen freizulassen und weitere Todesstrafen weder zu verhängen noch zu vollstrecken”. Keine Botschaft, die beim Iran besonders gut ankommt. Unverzüglich wird der deutsche Botschafter Hans-Udo Muzel im iranischen Aussenministerium wegen “inakzeptabler Einmischung” in Irans “Innere Angelegenheiten” einbestellt — es ist nicht zu erwarten, dass bei diesem Treffen in Kaffeekränzchen-Atmosphäre Nettigkeiten ausgetauscht wurden. Eine unangenehme Situation für den offiziellen Vertreter der deutschen Bundesregierung. Doch das gehört für einen Botschafter nun mal zum Berufsrisiko.
Zugegeben, ich stelle mir den Job eines offiziellen Botschafters als durchaus spannend vor. Man wird in ein fremdes Land und eine unter Umständen unbekannte Kultur entsandt mit dem Auftrag, die Interessen und Werte des Heimatlandes zu vertreten und zu repräsentieren. Man baut Brücken, wirbt für Verständnis und fädelt im Optimalfall fruchtbare internationale Kooperationen ein. Unzählige Empfänge, Apéros und offizielle Veranstaltungen inklusive. Doch wenn grundsätzlich unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinanderprallen, kann die Position des Botschafters auch eine unangenehme sein — es ist mit zügigem Gegenwind zu rechnen. In solchen Situationen gilt: Ruhe bewahren, Rückgrat zeigen und für die Werte und Haltungen des Vaterlandes einstehen. Denn diesem ist der Botschafter schliesslich verpflichtet, ja, er leiht seiner Heimat buchstäblich sein Gesicht und lässt auch einmal eine Schimpftirade über sich ergehen.
Britische Botschaft in Berlin. Bild: iStock
Wer ist Jesus?
In einem kürzlich veröffentlichen Interview greift der bekannte Theologe und Evangelist Ulrich Parzany einige “heisse Eisen” auf — Fragen, die uns bei Daniel Option schon seit Beginn beschäftigen und umtreiben:
Wer ist Jesus? Das ist eine der heißesten Fragen überhaupt. Viele sagen, die Schriftfrage sei ja nicht so wichtig, Hauptsache, wir glauben alle an Jesus. Doch genau das ist die Frage: Wer ist Jesus? Ist es der, der in den Evangelien bezeugt wird? Hat er das gesagt, was dort geschrieben steht? Hat er getan, was dort geschrieben steht? Was bedeutet seine Kreuzigung? Seine Auferstehung? Oder ist das alles, wie in Teilen der historisch-kritischen Bibelauslegung gesagt wird, „Gemeindebildung“, die man selektiv betrachten muss? Jesus Christus verkommt dadurch zu einer Leerformel, die jeder beliebig füllen kann. Damit ist das Fundament der Kirchen und Gemeinschaften berührt. (Ulrich Parzany im “Pro Medienmagazin”, 22.12.2020)
Diese Worte erzeugten bei mir eine unheimliche Resonanz: “Genau das ist es!”, fuhr es mir durch den Kopf: “Die Frage nach der Person von Jesus und der Verlässlichkeit der Überlieferung seiner Taten und Worte steht über und hinter allen Folgefragen, mit welchen wir uns als Christen heute konfrontiert sehen.”
Wir haben uns auf Daniel Option in den letzten 15 Monaten über eine Bandbreite an Themen geäussert: Ehe für Alle, Abtreibung, Sexualethik, ethnische und kulturelle Vielfalt, Ökologie und Umweltschutz, Toleranz, das biblische Frauenbild, Pandemie-Ängste und Vertrauen, das Verhältnis von Wahrheit und Macht und viele mehr. Mit der umfassenden “DNA”-Serie haben wir zu Beginn des Jahres 2020 einen Versuch gewagt, die einzigartigen Merkmale des Christentums über alle Zeiten herauszuarbeiten. Ein grosses Sammelsurium an Ansichten und Einsichten verschiedenster Autoren, könnte man meinen. Doch hinter der Bearbeitung all dieser Fragen und Themen steht das uns einigende, grundlegende Glaubensbekenntnis: Wir glauben an Jesus Christus, wie er sich durch die Bibel offenbart. Der Jesus der Bibel ist der Jesus, den wir verkündigen wollen. Der Jesus der Bibel ist der Jesus, den wir im heutigen Kontext unserer Kultur greifbar machen möchten. Wir zählen uns zum “People of the Book”.
Mexikanische Botschaft in Prag. Bild: iStock
Abschreckende Debatten?
Nebst vielen positiven Reaktionen auf unsere teilweise durchaus streitbaren Artikel, kam uns auch immer wieder kritischer Gegenwind entgegen: “Ihr wirbelt unnötig Staub auf”, hiess es dann. Und: “Dem Grossteil der Gesellschaft um uns herum sind unsere innerchristlichen, theologischen Debatten völlig egal. Warum konzentrieren wir uns nicht besser alle gemeinsam darauf, die Leute mit Jesus bekannt zu machen?”
Nun — genau hier liegt der springende Punkt: Mit welchem Jesus denn? Mit welchem Jesus machen wir die Menschen bekannt, wenn wir gleichzeitig die Verlässlichkeit der Schrift in Frage stellen? Zu welchem Jesus wenden sich die Menschen hin, wenn sie ein Evangelium präsentiert erhalten, welches von allen Ecken und Kanten “befreit”, fein säuberlich geschliffen und poliert daher kommt? Noch einmal Ulrich Parzany dazu:
“Ihr glaubt an die Bibel, wir glauben an Jesus.” Was für ein Satz! Die Frage ist natürlich: An welchen Jesus glaubst du, wenn du der Heiligen Schrift nicht vertraust? Das ist die Kernfrage. Mich macht es inzwischen zornig, wenn dieser Satz bei frommen Leuten zitiert wird und natürlich Eindruck schindet. Alle nicken reflexartig, denn natürlich glauben wir an Jesus, wir beten zu Jesus, nicht zur Bibel. Das Vertrauen zur Heiligen Schrift aber ermöglicht uns den Zugang zu Jesus Christus. Die Bibel ist das Dokument der Offenbarung. Und wenn das, was in den Evangelien über Jesus steht, nicht stimmt, ja dann ist der Glaube an Jesus eine Leerformel, wie Paulus in 1. Korinther 15 gesagt hat, dann ist der Glaube leer. Und wir sind Lügner, „die elendesten unter allen Menschen“. (Ulrich Parzany im “Pro Medienmagazin”, 22.12.2020)
Man könnte auch fragen: Was für ein Botschafter wäre Hans-Udo Muzel gewesen, hätte er sich bei der Einbestellung ins iranische Aussenministerium um die Worte seiner Regierung geschert? Wie hätte er seine Heimat repräsentiert und vertreten, wenn er im Gespräch mit den iranischen Diplomaten die Verlässlichkeit der offiziellen Mitteilung der deutschen Bundesregierung in Frage gestellt oder gar als Fälschung dargestellt hätte? Ihr vielleicht einen metaphorischen Wert zugesprochen hätte, jedoch die Sicht der deutschen Regierung als längst nicht so scharf und schon gar nicht konfrontierend wiedergegeben hätte? Wahrscheinlich wäre das Gespräch für ihn etwas angenehmer verlaufen. Doch wäre eine solche Aussage des Botschafters an die Öffentlichkeit gelängt, wäre Herr Muzel ganz sicher umgehend seines Amtes enthoben worden. Es ist nicht die Aufgabe eines Botschafters, die Haltung seiner Regierung gegenüber dem Gastland in Frage zu stellen oder zu relativieren.
Ich möchte damit keinesfalls das Wirken Jesu und seine persönliche Offenbarung auch in unserer Zeit in Frage stellen: Als Leitungsmitglied einer Pfingstgemeinde bin ich vom Wirken des Heiligen Geistes und seinem persönlichen Reden zu uns überzeugt. Ich erachte diese sogar als ganz wichtigen, grundlegenden Bestandteil des Glaubenslebens jedes Christen. Doch misst sich diese persönliche Offenbarung immer auch an der Schrift, genauso wie sich die Äusserung eines Regierungsmitglieds immer an den schriftlichen Dekreten einer Regierung wird messen müssen.
Griechische Botschaft in Belgrad. Bild: iStock
Vorwärts oder rückwärts?
Hinter vielen Fragen, was denn die Kirche tun oder lassen sollte, wozu sie Stellung beziehen sollte, wo sie konstant bleiben sollte und wo gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung getragen werden muss — hinter all diesen Fragen stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis der Kirche. Wozu sind wir gerufen? Wozu sind wir gesandt? (Und mit „Kirche“ denke ich hier nicht primär an eine oder mehrere Institutionen, sondern an die Gemeinschaft der Gläubigen und somit letztlich an jeden Christen ganz persönlich.)
Besteht unser Auftrag primär darin, möglichst viele Menschen mit einem möglichst attraktiv „verpackten“ Jesus in Berührung zu bringen und sie „zum Glauben zu locken“? Oder ringen wir um eine möglichst treue Repräsentation und Verkündigung des historischen, menschgewordenen, gekreuzigten, auferstandenen, allmächtigen, im Himmel regierenden Gottessohns mit all seinen unbequemen Aspekten? Sind wir Botschafter des Evangeliums, oder sind wir dessen Verkäufer?
Ein Verkäufer hat genau ein Ziel: Verkaufen. So viel wie möglich. Potenziellen Kunden wird das Produkt so schmackhaft wie möglich gemacht. Sie werden umworben und bearbeitet. Und wenn sich die Marktbedürfnisse verändern, dann speist ein guter Verkäufer das in die Organisation zurück und die Produktpalette wird entsprechend angepasst. Vanille-Joghurt läuft nicht mehr so gut? Dann machen wir Avocado-Shakes, das liegt voll im Trend. Die Kundschaft goutiert einen hohen Zuckergehalt nicht mehr wie früher? Dann lass uns doch die Zuckermenge reduzieren (und die Reduktion ausführlich als grossen Schritt für die Menschheit bewerben). Ach, Milchprodukte an sich stehen in der Kritik? Dann satteln wir halt eben auf Soja- und Haferprodukte um. Der Kunde ist König.
Einer der weltgrössten Konzerne, Amazon, hat alle Produkt-Entwicklungsprozesse nach dem “Working Backwards”-Prinzip designed: Starte mit dem Problem des Kunden und arbeite dich “rückwärts” einer Lösung des Problems und Befriedigung des Kundenbedürfnisses entgegen. Durch persönlichen Kontakt mit Mitarbeitern aus den Amazon Produktabteilungen weiss ich, dass das in der Firma sehr konsequent so gelebt wird. Der kometenhafte Aufstieg des Konzerns in den vergangenen 20 Jahren gibt dem Ansatz wohl recht — die sprichwörtliche “Customer Obsession” verbunden mit einem Kundenbedürfnis-orientierten Ansatz im Produktdesign hat Amazon ein gigantisches Wachstum beschert.
Ein Botschafter hingegen arbeitet immer “vorwärts”. Er ist in erster Linie den Prinzipien, Haltungen und Werten seines Heimatlandes verpflichtet. Natürlich: Man schlägt kulturelle Brücken und ordnet sich, so gut es geht, in die kulturellen Gegebenheiten des Gastlandes ein. Um Verständnis für die Haltungen des Heimatlandes wirbt es sich besser, wenn dies mit den lokalen Gepflogenheiten verknüpft wird. Doch die Assimilation geht immer nur so weit, wie keine Kernwerte der Heimat verletzt werden: So scheint es mir z.B. selbstverständlich, dass auch lokale Hausangestellte in Schweizer Botschaften nicht ausgebeutet und fair bezahlt werden — selbst wenn das in der lokalen Wirtschaftskultur keinesfalls der Normalfall ist.
Wie arbeiten wir als Kirchen? Vorwärts oder rückwärts?
Mongolische Botschaft in Berlin. Bild: iStock
Was die Kirche attraktiv macht
Meines Erachtens gibt es nur eine Antwort auf obige Frage: Selbstverständlich arbeiten wir vorwärts. Wir starten beim Schöpfer, beim Ursprung, bei Christus selbst. Durch die Offenbarung der Schrift und die Hilfe des Heiligen Geistes sind wir befähigt, ihn, den Sendenden, bestmöglich zu repräsentieren. Wir werben um Verständnis für die Interessen seines Reiches, ja, wir laden sogar alle Menschen dazu ein, Bürger dieses Reiches zu werden. Und natürlich nehmen wir die Bedürfnisse unserer Mitmenschen wahr und reagieren darauf, haben wir doch eine gute Botschaft, welche die Bedürfnisse des Menschen im Innersten trifft und stillt. Wir bleiben dabei dem Gott der Bibel, seiner Haltung und seinem Wort verpflichtet — selbst wenn uns selbst vielleicht der eine oder andere Aspekt daraus nicht schmeckt. Selbst wenn wir dafür vielleicht auch mal öffentlich “einbestellt” werden und den einen oder anderen medialen Shitstorm über uns ergehen lassen müssen. (Zugegeben: Im Gegensatz zu einem echten Shitstorm ist der Tonfall bei einer offiziellen Einbestellung dann vielleicht doch wieder näher bei der Kaffeekränzchen-Atmosphäre.)
Ich bin überzeugt, dass wir uns Wachstum durch unsere diversen Strategien zur Steigerung der Attraktivität der Kirche gut durchdenken müssen. Es ist und bleibt ein schmaler Grat, gute kulturelle Kontextualisierung zu betreiben, ohne die Grundwerte der Heimat über Bord zu werfen. Dafür brauchen wir Fingerspitzengefühl. Und die Leitung des Heiligen Geistes. Kirche darf ruhig auch anstössig sein, kantig und quer in der Landschaft der Politischen Korrektheit. Kurzfristige Sympathiepunkte und Wachstum erkaufen wir uns sonst schnell auf Kosten von langfristiger Profillosigkeit sowie kultureller und geistlicher Irrelevanz.
Dazu gefällt mir ein schon etwas älterer Tweet von Johannes Hartl:
Ich kann die Frage nicht mehr hören, was Kirche tun müsse, um attraktiv zu werden. Es gibt genau eins, das attraktiv an Kirche ist: die Gegenwart Jesu. Wo tatsächlich sein Wort geglaubt, gebetet, gefastet und seiner Kraft konkret vertraut wird, ist auch Kraft da. Wo das Evangelium durch politisch nette Gemeinplätze ersetzt wird, die niemandem wehtun, wo nicht gebetet wird, wo nicht mehr an Wunder geglaubt wird, wo für keine klare biblische Botschaft mehr eingestanden wird, muss man sich nicht wundern, wenn keine Kraft mehr spürbar ist. (Johannes Hartl auf Twitter, 20. Juni 2019)
Und Hartl meint hier bestimmt nicht einfach irgend einen beliebigen Jesus, der dich in erster Linie total annimmt und liebt, dich auf deiner spirituellen Reise coacht und gute Tips für ein gelungenes Leben parat hat. Vielmehr ist er davon überzeugt, dass eine gesunde, bibeltreue Lehre über Jesus, eine gesunde Christologie, die Grundlage aller weiteren ethischen und kulturellen Standpunkte der Kirche sein wird:
Alle frühkirchlichen Konzilien handelten von der Christologie. Denn mit der Lehre über Jesus Christus entscheidet sich alles weitere. Und nein, darum zu ringen, ist nicht Arroganz oder Besserwisserei, sondern wir werden im NT explizit dazu aufgefordert (vgl. 2 Joh 4–7; Kol 2:8f; 2 Tim 4:2 etc.) […] Christliche Theologie muss dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift gerecht werden. […] Ist die Christologie erst einmal schräg, wird alles andere auch schräg. (Johannes Hartl in “Abschied von einem Lehrer” am 27.04.2020)
Eine Christologie, welche sich nicht auf die verlässliche Autorität der Heiligen Schrift stützt, hat keine Kraft. Sie macht auf den ersten Blick attraktiver und einladender. Doch zerstört sie die Essenz dessen, wofür sie eigentlich steht: Die Botschaft des menschgewordenen Gottessohns. Aus einer fehlgeleiteten Christologie erwächst eine Kirche, welche die Sünde nicht mehr als Problem und die Erlösung nicht mehr als notwendig erachtet. Eine Kirche, welche die Scham der Menschen nicht ernst nimmt, weil sie diese durch ein saloppes “Aber du hast doch gar keinen Grund, dich zu schämen” wegzuwischen versucht. Eine Kirche, welche in den Ruf der Gesellschaft nach grenzenloser Selbstbestimmung um des Friedens willen akzeptiert und es nahezu aufgegeben hat, sich für die Rechte von tausenden von ungeborenen Kindern einzusetzen. Eine Kirche, welche die hohe biblische Sicht der Körperlichkeit nicht mehr hervorhebt und sich lieber dem Druck der gesellschaftlichen Entwicklungen beugt. Eine solche Kirche mag vielleicht attraktiv erscheinen, mag gesellschaftliche Akzeptanz erleben und wachsen. Doch wird sie ihres Amtes als Botschafter an Christi statt nicht mehr gerecht. Sie wird an Kraft verlieren, so wie kraftlos gewordenes Salz. Oder, wie der Publizist Bernhard Meuser es treffend auf den Punkt gebracht hat:
Die Gesellschaft schreit gerade nach dem prophetischen Dienst der Kirche. Was aber macht die? Sie macht es wie Jona. Schifft sich ein nach Tarschisch. Sie hat aber einen Job in Ninive. Eine Kirche, die aus Populismus ihren prophetischen Dienst verweigert und dem Gott des Lebens entkommen möchte, wird wie Jona über Bord geworfen. Sie wird schwerer als die sie umgebenden Wasser hinabsinken in das Meer des Vergessens, wird verschluckt werden von der öffentlichen Meinung. Weil sie aber unverdaulich ist, wird sie am nächsten Strand wieder ausgespuckt werden. Sie wird so lange mit Irrelevanz bestraft sein, bis sie um des Wohles der großen Stadt willen ausgerichtet hat, was zu sagen ihr auferlegt ist. (Bernhard Meuser im Interview mit der Tagespost, 14.10.2020)
Nigerianische Botschaft im Vatikan, Rom. Bild: iStock
Welchen Jesus verkündigen wir?
Man möge mich nicht missverstehen: Ich bin absolut dafür, dass wir unsere Kräfte nicht mit “internen” Debatten und Reibereien verschwenden sollten. Dass wir uns mit vereinten Kräften dafür einsetzen, dass möglichst viele Menschen zu Jesus Christus finden. Doch die Frage bleibt: Zu welchem Jesus? Zu einem all-liebenden, all-umfassenden, unanstössigen und grenzenlos akzeptablen Jesus? Oder zum Jesus, der trotz (oder gerade wegen) seiner umfassenden Annahme auch mal zornig wird, seine treusten Freunde vor den Kopf stösst und zu einer guten Güterabwägung zum Preis der Nachfolge aufruft? Zum Jesus, der die von ihm über alles geliebte Menschheit als so hoffnungslos verloren einschätzt, dass er sich freiwillig dem Tod unterwirft um sie zu erretten? Zum Gott, der es für sich in Anspruch nimmt, uns und unsere Bedürfnisse besser zu kennen als wir selbst? Und uns darum die eine oder andere väterliche Weisung mit auf den Lebensweg gibt?
Auch ich habe meine Mühe mit manchen Aspekten des Evangeliums. Auch ich werde immer wieder von der Bibel in meinem Selbst- und Weltverständnis konfrontiert. Manche Kröten sind schwer zu schlucken. Doch das ändert nichts an meiner Berufung zum Botschafter und Gesandter von Christus:
So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. (Die Bibel, 2. Korinther 5,20)
Wir sind gerufen und gesandt, die Menschen zur Umkehr und Versöhnung zu rufen. Mit dem Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat. Mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Mit dem Gott der Mensch wurde, durch eine Jungfrau geboren. Dem Christus der gekreuzigt wurde und am dritten Tag auferstand. Der durch seinen Tod und seine Auferstehung unsere Sünden vergab und uns mit dem Vater versöhnt hat. Der in den Himmel aufgefahren ist und zur Rechten des Vaters sitzt und regiert. Kurz: Mit dem Gott, der von Christen seit Jahrtausenden im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekannt wird. Und mit dem Jesus, der selbst immer und immer wieder die Autorität der Heiligen Schrift betont und gelehrt hat.
Was wäre eine Botschaft, die sich von den Werten und der Verfassung des Heimatlandes lossagt? Ein Botschafter, der für ein günstiges Entgelt und ohne Einbürgerungsverfahren wertlose Pässe seiner Heimat vergibt, nur um dem Vorwurf der Ausgrenzung und Exklusivität zu entgehen? Der die eigene Landesflagge nicht mehr hisst, aus angeblichem Respekt vor lokalen Befindlichkeiten? Er wäre es nicht mehr wert, „Botschafter“ genannt zu werden. Und die Botschaft als Institution ginge als gesichtsloses amtliches Dienstleistungszentrum auf im System der Gastnation. Beliebt vielleicht. Aber auf kuriose Art und Weise komplett irrelevant.
Wie gute Botschafter wollen wir Wege finden, unsere Heimat treu und für unser Umfeld verständlich zu repräsentieren. Wir wollen eingehen auf die Kultur in der wir leben und ihr Wege eröffnen, die Botschaft von Jesus zu hören und mit ihrer Lebenswelt zu verknüpfen. Wir wollen Menschen den Weg aufzeigen, im Innersten frei und Bürger einer neuen Nation zu werden. Dazu brauchen wir Demut, Geduld und Toleranz. Dazu brauchen wir alle Ergänzung und Korrektur, ein Ringen um ein möglichst treues Verständnis unserer Heimat und ihrer Werte. Und dann und wann auch mal ein dickes Fell, wenn wir wegen unserer Haltungen und den daraus folgenden “inakzeptablen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten” unserer Gesellschaft auch mal zum Shitstorm einbestellt werden. Das gehört für einen Botschafter nun mal zum Berufsrisiko.
Das Zentrum des christlichen Glaubens ist der Glaube an die Auferstehung Jesu: “Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig”. Glaube ist Vertrauen. Das Vertrauen ins Unbekannte wird schwach sein, wenn es nicht durch überzeugende Argumente gestützt wird. Dazu kann die Bibel dienen, aber auch ablenken (wenn es um alle möglichen Bibelstellen geht, die nicht unmittelbar mit der Todüberwindung zu tun haben).
Glaube aber ist nicht einfach ein Abnicken mit dem Kopf, sondern vor allem das Erreichen einer neuen Lebensqualität durch die Auflösung falscher Seeleninhalte und der Erfüllung mit der Wahrheit, die im lebendigen Prozess der Heiligung immer mehr erkannt wird.
Was man heute unter “Glauben” versteht ist in den meisten Fällen nichts als “Schriftgelehrsamkeit” nach der einen oder anderen Seite. Zum wirklichen “Glauben” wird man kaum angehalten.
https://manfredreichelt.wordpress.com/2016/04/23/die-taegliche-erhoehung-der-lebensqualitaet/
Viele Dank für das interessante Bild: Botschafter oder Verkäufer. Ich frage mich jedoch — gerade beim Zitat Parzanys — geht es hier wirklich um die Frage “welchen Jesus?”. Parzany wird zornig, wenn die Aussage “glauben an Bibel vs. Jesus” gemacht wird. Da kann ich mich anschliessen, aber wahrscheinlich genau 180 Grad andersherum. Die Aussage “zu welchem Jesus führen wir die Leute?” wird immer wieder ins Gespräch geführt — besonders von der konservativ, evangelikal oder fundamentalistisch geprägten Seite. Das Grundproblem ist doch, dass zwischen den Bekenntnissen zur Bibel und zu Jesus eine Art tautologische Wechselbeziehung besteht. Ich (als Kind des christlich geprägten Westens) kann an keinen Jesus glauben, ohne die Bibel als Grundlage dafür zu nehmen. Gleichzeitig sehe ich aus der Bibel keine Heilsnotwendigkeit, an die Schrift zu glauben, sondern nur allein an den Namen Jesu. Was tun wir jetzt damit? Behelfen wir uns einmal mit dem Satz “Ich glaube an den Jesus der Bibel”. Aber welcher Bibel? Wie Heinz Etter im ersten Kommentar so gut angemerkt hat “Wer hat die Deutungshoheit über die Bibel?” Die Frage “zu welchem Jesus führen wir die Leute?” (wusste nicht, dass es mehrere soteriologisch wertvolle “Jesuse” gibt) könnte also genauso gut lauten “an welche Bibel glaubst du?” bzw. “wie glaubst du an die bzw. der Bibel?” — das ist doch die spannende Frage, weil durch die Brille, wie du die Bibel verstehst, wirst du zwangsläufig auch Jesus verstehen.
Jetzt wird mehrmals im Artikel davon geredet, dass ein Jesus, der sich nicht auf die “Autorität der Heiligen Schrift” gründet, ein sinnentleerter Jesus ist. Da bin ich auch einverstanden — unbedingt! Aber wer definiert, wie die Heilige Schrift autoritativ ist (das “wie” ist doch entscheidend)? Wer ist Generalexeget? Verstehe ich die Bibel wie Geri Keller & Bill Johnson? Wie Siegfried Zimmer & Thorsten Dietz? Wie John McArthur & Michael Kotsch? Wie Wolfgang Simson oder wie Torben Sondergaard?
Die Frage nach “welchem Jesus” ist — wenn man Jesus und die Bibel nicht unterscheiden darf — immer auch die Frage nach “welche Bibel” bzw. “welches Bibelverständnis”. Aber genau dieser Zusammenhang darf uns nicht dazu verleiten, Menschen, die ein anderes Bibelverständnis und somit logischerweise auch ein anderes Bild von Jesus haben, vorzuwerfen, dass ihr Jesus falsch, sinnentleert oder (wie in gewissen Kreisen) dämonisch ist. Die katholische Kirche sagte einst “Es gibt kein Heil ausserhalb der Kirche”. Wir in Evangelikalien sollten uns davor hüten zur Aussage “Es gibt kein Heil ausserhalb meines Bibelverständnisses” zu kommen.
Wir sind Botschafter Jesu — aber wir sehen wohl verschiedene Facetten dieses Jesus, genauso wie ein Parteimitglieder der SP die Schweiz als Botschafter/in anders vertreten würde, als ein SVP Mitglied — aber sie vertreten die gleiche Schweiz. Und nur weil ihre Parteien anders heissen, hat sich die Schweiz nicht verändert, im Gegenteil, sie bietet eben Platz für beide Polaritäten, sie besteht geradezu aus diesen Polaritäten. Ist das nicht wundervoll? Die Identität oder Integrität der Schweiz wird nicht angetastet durch eine (mehr oder weniger) einseitige Repräsentation.
Und genau hier macht es mich wütend, wenn Menschen davon reden, dass “ein anderer Jesus” verkündigt wird. Es gibt keinen anderen Jesus! Die Frage “zu welchem Jesus…” ist für mich sinnlos, weil sie für mich ungefähr so sinnvoll ist wie die Frage an den Schweizer Botschafter “Welche Schweiz vertreten sie?” Es gibt nur eine Schweiz. Es gibt verschiedene Ansichten, wie die Schweiz aussehen sollte und gewisse widersprechen derart der Schweizer Identität (bspw. wenn sie von Kommunisten oder Rechtsnationalisten beschrieben wird), dass man sagen darf “Das ist keine existierende Schweiz”. Aber die Frage “wie sehen sie die Schweiz?” ist richtig und wichtig. Das wäre für mich, übertragen, die sinnvollere Frage “Wie verstehst du die Bibel?” Das Bibelverständnis ist Subjekt meines Verstehens und wird davon beeinflusst — Jesus ist niemals Subjekt meines Verstehens er ist davon nicht beeinflusst. Mein Bild von ihm ist davon beeinflusst und dementsprechend verzerrt (und das ist bei uns allen so), aber er selbst nicht. Und hier kann/darf/muss ich mich darauf verlassen, dass er durch meine Unfähigkeit, ihn so zu erkennen wie er wirklich ist, trotzdem souverän durch mich arbeiten kann und Menschen zu sich zieht — Menschen ins Reich Gottes zu ziehen ist nicht die Vision der Jünger, und Jesus klinkt sich ein, wenn er das Gefühl hat, richtig repräsentiert zu werden, sondern es ist Seine Vision, und ich klinke mich amateurhaft darin ein. Es ist das heilige Geheimnis Gottes in irdischen, zerbrochenen Gefässen. Es ist der Sohn Gottes/ Gott selbst — geboren in einem Stall neben Eselsmist und gelegt in eine von den Tieren versabberte Futterkrippe.
Aus unserer Sicht sind wir Botschafter Jesu “wegen” unseres Bibelverständnisses, weil wir Jesus auf die, nach unseren Verstehensbedingungen geartete, “Autorität der Heiligen Schrift” stellen. Aber ich glaube aus Jesu Sicht sind wir immer wieder auch Botschafter Jesu “trotz” unseres Bibelverständnisses. Das sollte uns in all unserem Denken bewusst sein und uns demütig gegenüber unseren Brüdern und Schwestern machen, die denselben Jesus anders repräsentieren, denn wie Paulus schon sagte “so oder so, die Botschaft Jesu wird verkündigt”.
Besten Dank für deine ausführlichen Gedanken, Michael! Ich gebe dir völlig recht: In der Frage der Bibelinterpretation wird es immer eine Bandbreite geben. Und ich bin mit dir überzeugt, dass dieses Spektrum etwas Wertvolles ist! Wer sich sicher ist, die letzte Deutungshoheit über Jesus gefunden zu haben, ist schon mit grösster Sicherheit auf dem Holzweg. Wenn ich die durchaus plakative Frage “zu welchem Jesus führen wir die Menschen?” stelle, dann meine ich damit “Wie stellst du Jesus dar und worauf berufst du dich dabei?” oder, wie du es sagst “Wie siehst du Jesus? Wie verstehst du die Bibel und was sie über Jesus aussagt?”
Die Problematik, welche ich im Artikel beleuchten will, ist diese: Ich beobachte eine Tendenz, Jesus von der Offenbarung der Schrift zu lösen bzw. “meine persönliche heutige Offenbarung” gegenüber der Offenbarung der Schrift auszuspielen. Jesus “gesellschaftsfähiger” zu repräsentieren. Das erachte ich als eine Mogelpackung: Ich nenne mich weiterhin “christlich” und “Kirche”, betrachte aber die Bibel als höchstens gleichwertig zu aktueller Forschung und gesellschaftlichem Werte-Konsens. Und wenn sie sperrige Aussagen macht, wische ich diese mit dem Hinweis weg, dass diese Sperrigkeit dem damaligen historischen Kontext geschuldet sind.
Die Frage ist also: Habe ich die Demut, mich der Autorität des Wortes zu unterordnen? Seiner Sperrigkeit, seiner Eigenschaft, nie so richtig in die gesellschaftlichen Normen zu passen? Und das Verlangen, meine eigenen Präferenzen den guten Geboten und Weisungen, welche in der Bibel verbürgt sind, zu unterstellen? Im Wissen, dass mein Verständnis davon nie 100%ig akkurat sein wird, aber trotzdem nach bestem Wissen und Gewissen?
So wie jeder Botschafter seine eigene politische Gesinnung hat und immer auch seine eigene Sicht der Heimat, so wird es auch immer ein Spektrum des Bibelverständnisses geben und das ist gut so. Wenn aber ein Botschafter aufhört sich zu bemühen, den Werte-Konsens seiner Heimat überhaupt verstehen zu wollen und über seine eigene politische Meinung zu stellen, dann habe ich meine Bedenken. Und wenn er die Werte seiner Heimat absichtlich “beschönigt” und den Befindlichkeiten des Gastlandes anpasst, um nicht anzuecken oder Sympathiepunkte zu gewinnen, sind wir definitiv beim Verkäufer angelangt. Das ist etwas anderes, als wenn sein ehrliches Bemühen, die Werte der Heimat zu vertreten, immer durch seine persönliche politische Färbung und Werthaltung beeinflusst werden wird. Das ist unausweichlich. Kein Mensch kann ein Land oder Gott oder Jesus in ganzer Fülle verstehen und adäquat repräsentieren.
Darum geht es mir bei diesem Vergleich (der, wie alle Vergleiche, die Thematik nicht in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen mag).
Danke für die rasche Reaktion :). Ich finde es spannend, dass das Grundanliegen, welches ja auch in unserer Gesellschaft gross ist — sich nicht für jemanden oder etwas verbiegen zu müssen, also “echt” sein” — auch im christlichen Lager brandaktuell ist. Ich bin auch der Meinung, dass man die Schrift ihr Wort sagen lassen muss und sie nicht zu beschönigen oder “verbessern” braucht. Auch soll sie immer ein kritischer Spiegel der Gesellschaft sein. Und ja, wir brauchen die Demut, uns der Autorität des Wortes unterzuordnen. Was ich mir manchmal wünschen würde ist, dass wir erkennen, dass diese Demut auch darin bestehen kann zuzugeben, dass man vielleicht in der Vergangenheit das Wort schlicht falsch oder nur einseitig verstanden hat und nun gewisse Dinge anders sehen darf bzw. eben demütig anders sehen muss — nicht, weil man sich dem Zeitgeist anpassen will, aber weil vielleicht “die Welt” gewisse Dinge verstanden hat, die wir nicht verstanden haben. Das ist ja dann keine Mogelpackung, sondern ein tieferes Verständnis von etwas, das eigentlich schon immer da war.
Hier hängen wir wahrscheinlich alle an Auslegungen, die uns Lieb und Teuer sind, und die wir nur ungern erneuern, verbessern oder in einigen Punkten ganz aufgeben. Aber auch das ist Teil der Nachfolge Jesu. Man stelle sich vor, wie völlig Abwegig das Apostelkonzil in Apg 15 für gläubige Juden klingen musste. Über Jahrhunderte weg war klar — Wir sind das auserwählte Volk Gottes! Kinder Abrahams! — und plötzlich geht für die Nationen auch eine Tür auf, in eine Erwählung hinein, die ihrer ähnelt bzw. gleichgestellt ist.
In solchen Momenten denke ich einfach, dass sich der Schrift unterordnen nicht (immer) automatisch heisst, sich der eigenen Prägung unterzuordnen (was ich immer wieder erlebe), sondern mutig Fragen zu stellen und im weitesten Sinne “Ausgangsoffen” mit der Schrift umzugehen und darin Jesus zu finden, zu erkennen und lieben zu lernen.
Lieber Gruss
Michael
Danke Michael, da bin ich ganz bei dir.
Ich stimme dir zu, es geht um den Jesus der Bibel. Wer aber hat die Deutungshoheit darüber, was sie sagt? Wie verstehen wir Jesu Leben vom Kreuz her?
Was ist Sünde? Die meisten Menschen denken dann an ein Verhalten. Das ist Sünde, jenes nicht. Jesus hat gelehrt, dass es um die Motive geht und nicht so sehr um die Taten. (Stichwörter dazu: Ehebruch; lass deine rechte Hand nicht wissen, was die linke tut; die Opfergaben im Tempel usw.).
Die Christenheit hat das nie wirklich ernst genommen. Wir sagen lieber: Stehlen ist Sünde, Lügen ist Sünde, Geschlechtsverkehr ausserhalb der Ehe ist Sünde usw. und stellen uns die Frage nach dem Motiv nicht. Geschlechtsverkehr in der Ehe kann sehr wohl Sünde sein, immer dann, wenn er nicht wirklich einvernehmlich ist. Auch der Verzicht darauf kann Sünde sein. Auf die Motive kommt es an. Die Frage nach der Sünde sollten wir anders stellen: Was immer ich nicht aus der Verbindung mit Jesus heraus tue, (was der Liebe widerspricht?)das ist Sünde. Das wäre dann die Ebene der Motive.
Unsere Evangelisation richtet sich immer an Menschen, die sündigen und deshalb Erlösung brauchen. Die meisten Christen haben ein verhaltensorientiertes Sündenverständnis und sind deshalb nur scheinbar Botschafter des Evangeliums. Im Grunde sind sie Botschafter eines gewissen Bibelverständnisses, das sich anmasst das einzige zu sein und doch so einseitig ist. Die wenigsten Menschen leiden unter ihren Sünden und fühlen sich erlösungsbedürftig. Für sie ist auch diese Art des Chrstentums irrelevant.
Wenn man Menschen unserer Zeit hingegen mit ihren Motiven konfrontiert, wie viel wir tun, weil wir Angst vor irgendwelchen Konsequenzen haben und wie wenig wir tun, weil es der Liebe entspricht, dann fühlen sich die meisten erlösungsbedürftig.
Ich träume von einer neuen Art der Evangelisation mit einem wahrhaft biblischen Sündenbegriff und nicht mit einem abendländisch konservativ christlichen. Unsere Bundesrätin Calmy-Rey hat anlässlich eines Besuches in Teheran ein Kopftuch getragen und wurde (nicht nur, aber vor allem) von Christen als Verräterin am Vaterland gebrandmarkt. Sobald wir uns die Frage nach dem Motiv stellen, sieht die Sache anders aus. Wie sagte es Paulus? Er wolle den Römern ein Römer und den Griechen eine Grieche sein. Freilich, nachdem wir ihre Motive nicht kennen sollten wir noch weniger urteilen als sowieso.
Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt untereinander und nicht daran, wie ihr über Schwule und Lesben denkt oder über die Masturbation, über vorehelichen Geschlechtsverkehr usw. Die eifrigsten Verfechter einer sog. christlichen Moral prangern jene “Sünden” an, die ihnen fremd sind und halten sich über die anderen bedeckt.
Wenn wir es schaffen, endlich von einem christlichen Verhaltenskodex zum Evangelium zu finden und darin unser Heimatland sehen, dann stimme ich deinem Text gerne zu. Der Vergleich “Botschafter” gefällt mir sehr. Und noch etwas: Ich habe nichts gegen den christlichen Verhaltenskodex, nur sollte er aus der Liebe kommen und aus der Erkenntnis, wie sie Paulus formuliert hat: Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich. Alles ist mir erlaubt, aber ich will mich von nichts beherrschen lassen. 1.Kor. 6,12.
Heinz Etter
Ich stimme dir zu Heinz: Die „Heimat“ ist keinesfalls ein Verhaltenskodex. Über das Verständnis von Sünde wurden Bücher gefüllt und es ist gar nicht meine Absicht mit diesem Artikel, ein gewisses Sündenverständnis zu definieren / propagieren. Es geht mir darum: Wem sind wir in erster Linie verpflichtet? Christus und seinen Wort? Oder den (vordergündigen) Bedürfnissen und Befindlichkeiten unserer Kultur? Getrauen wir uns noch, auch über die konfrontierenden Aspekte des Evangeliums zu sprechen? Z.B. über die Botschaft, dass wir alle in höchstem Masse erlösungsbedürftig sind? Dass wir alle lernen müssen/dürfen, unsere Identität in Christus zu finden? Dass die Annahme Christi nicht einfach bedeutet „Bleib wie du bist, Jesus mag dich schon“? Darüber, dass Gott sich selbst als das Mass aller Dinge sieht, auch wenn wir das lieber selbst wären? Und letztlich: Glauben wir, dass wir auch im 21. Jahrhundert die Ressourcen für das Verständnis des Evangeliums und dessen Anwendung in unseren Leben in der Bibel finden, dass sie verlässlich und wahr ist?