Einflussreiche Autoren in der christlichen Szene wie Richard Rohr und Brian Zahnd vertreten die Meinung, dass Jesus sich von zentralen Lehren des Alten Testaments nicht nur distanziert, sondern ihnen aktiv widerspricht und sie für ungültig erklärt. Stimmt das Bild von Jesus, das sie zeichnen? Was wären die Auswirkungen auf unseren Glauben, wenn sie recht hätten? In meiner Predigt (inklusive eindrücklichem Glaubenszeugnis am Anfang) lege ich dar, warum ich überzeugt bin, dass Jesus nicht auf Distanz geht zu den Alttestamentlichen Schriften.
Der Panentheismus-Mystiker Richard Rohr behauptet in seinem 2016 erschienenen Buch ‘Der göttliche Tanz’:
Interpretieren Sie die Bibel doch einmal so, wie Jesus es tat! Er ignoriert sie, leugnet sie oder widerspricht ihr, wo sie imperialistisch, strafend, ausschließend oder nach Stammesdenken klingt. (Richard Rohr. Der göttliche Tanz, Kindle Position 2167)
Mit dem ersten Satz dürften sich alle Christen einverstanden erklären. Das Problem fängt beim zweiten Satz an! Rohr fährt nämlich fort, Jesus auf eine Art zu beschreiben, die wir nirgends im Neuen Testament beschrieben finden. Rohr braucht das Wort ‘Jesus’, um über eine Person zu reden, die wir im Neuen Testament nicht finden. Nicht überall, wo ‘Jesus’ drauf steht, ist Jesus wirklich drin!
Einflussreicher Theologe und Autor Brian Zahnd toppt Rohr. Hier ein etwas längeres Zitat aus seinem 2017 erschienenen Buch ‘Sinners in the hand of a loving God’:
Verlangt Gott wirklich Tier-Opfer? In der Torah sagen die Priester und Leviten Ja. Mit der Zeit hinterfragen die Psalmen-Autoren und Propheten diese Überzeugung. David sagt: «An Schlachtopfern und Speiseopfern hast du kein Gefallen, aber du gabst mir Ohren, die offen sind für dich, Brandopfer und Sündopfer hast du nicht von mir verlangt» (Ps 40:7) In diesem Psalm widerspricht David auf krasse Weise der eindeutigen Lehre der Torah! Später behauptet Hosea, dass Gott keine Opfer will, sondern Barmherzigkeit. Schlussendlich kommt Jesus und bestätigt die Meinung von Hosea. (…) Die Bibel ist ein Buch, das sich auf der Suche befindet nach dem Wort Gottes. (…) Es ist Jesus, der den Disput klärt. (Brian Zahnd, Sinners in the hand of a loving God, Seite 14 — eigene Übersetzung).
Die Aussagen von Zahnd sind erstaunlich, weil wir Bibelstellen haben, die David und Jesus als Personen zeigen, welche das Opfer-System nicht nur einfach einhalten, sondern es respektieren und vielleicht sogar eine Liebe dafür zeigen. Zum Beispiel sehen wir in Psalm 51, wie David auf ähnliche Weise über das Opfer-System spricht, wie im von Zahnd zitierten Psalm 40:
Dir liegt nichts daran, dass ich dir Tiere als Schlachtopfer darbringe – ich würde es sonst bereitwillig tun. Nein, nach Brandopfern hast du kein Verlangen. Ein Opfer, das Gott gefällt, ist tiefe Reue; ein zerbrochenes und verzweifeltes Herz wirst du, o Gott, nicht zurückweisen. (Ps 51:18–19)
Bis zu diesem Punkt im Text müssten wir sagen: “Brian, vielleicht hast du recht!” Nimmt man sich aber die Zeit, den Text weiter zu lesen, entdeckt man folgendes:
Dann wirst du erneut Gefallen haben an den vorgeschriebenen Opfern, an Brandopfern, die vollständig in Rauch aufgehen. Dann werden auf deinem Altar wieder Stiere für dich dargebracht. (Ps 51:18–21)
Hier sehen wir nicht einen David, der proaktiv gegen das von der Torah bejahte Opfer-System vorgeht. Hier sehen wir einen David, der nach Busse des Herzens die Bedeutung des Tier-Opfers hervorhebt. David betont das Gefallen Gottes, dass die Opfer nun wieder auf richtige Weise eingesetzt sind. Und weil das Herz Davids nach seiner Busse wieder mit Gottes Herzen im Einklang ist, können wir vermuten, dass David hier auch Liebe zeigt für die Bedeutung des Opfer-Systems: Die stellvertretende Sühne.
Auch Jesus wendet sich nicht gegen das Opfersystem, wenn er dazu Gelegenheit hat. Wir sehen z.B. in Mt 8:4, dass Jesus einen kranken Menschen heilt und ihn anschliessend auffordert, das zum mosaischen Gesetz passende Opfer zu verrichten. Er nutzt die Gelegenheit nicht, um dem Mann zu sagen: “In meinem Reich sind solche Opfer zu verabscheuen — gehe partout nicht hin, um das nötige Opfer zu verrichten!”
Mein Verdacht ist, dass Zahnd in der aktuell weit verbreiteten Polemik gegen das Sühne-Denken der Bibel vorgeht und dafür eine sehr selektive Lektüre der Bibel in Kauf nimmt. Über etwas sind sich die meisten Christen einig, und ich auch: Jesu Tod und Auferstehung führt zur Aufhebung des Opfers-Systems. Dies geschieht aber nicht, weil Jesus ein Problem hat mit dem Opfer-System oder mit dem Prinzip der Sühne. Im Gegenteil: Durch seinen stellvertretenden Tod (siehe z.B. 1Pet 3:18) schickt er sich eben grad in das Sühne-System hinein und bestätigt es dadurch mit seinem eigenen Leben!
Liebe, nicht Distanz, prägt die Beziegung von Jesus zum Alten Testament
Der Jesus des Neuen Testaments hätte das Alte Testament nie in der Weise kritisiert und davon Abstand genommen, wie Rohr und Zahnd uns weismachen wollen. Im Gegenteil bestätigt und verstärkt er dessen Lehre (z.B. in seinen ‘Ihr habt gehört… ich aber sage euch’ Aussagen in der Bergpredigt). Jesus gründet seine Identität und seinen Lebensauftrag auf dem Alten Testament (siehe z.B. Lk 24:25–27). Jesus entschuldigt sich nirgends für die peinlichen Geschichten das Alten Testaments, sondern nutzt sie, um zentrale Elemente seiner Lehre zu begründen (siehe z.B. Lk 10:12 oder Mt 24:37–39).
Der Jesus des Neuen Testaments geht nicht auf Abstand zum Alten Testament, sondern liebt diese Bücher-Sammlung als seine Bibel mit der Gewissheit, dass sein Vater im Himmel das Buch inspiriert hat und es dessen höchste Autorität trägt.
Wer Jesus als einen Mann darstellt, der auf kritischen Abstand zum Alten Testament geht, riskiert Jesus selbst zu verlieren. Denn er kommt letzlich nicht darum herum, Jesus selbst zu kritisieren oder bezeugte Aussagen von ihm anzuzweifeln. Und genau das ist mein Eindruck bei Rohr und Zahnd: Sie glauben nicht an den Jesus, wie ihn das Neue Testament beschreibt. Dieser Jesus ist es aber, in den ich mein Vertrauen setze.
Für mich ist es keine Frage, dass das Alte Testament für unsere Zeit anspruchsvolle und mitunter sehr schwierige Texte hat. Das Neue Testament hat sie übrigens auch! Aber ich denke nicht, dass wir die für uns unangenehmen Elemente aus dem Buch löschen können, das Jesus so liebt.
Unsere Aufgabe ist es, uns die Zeit zu nehmen mit dem Anliegen zu verstehen, weshalb Jesus sich ausgerechnet zu diesem Buch bekennt und es liebt.
Unsere Aufgabe ist es, die anspruchsvollen Lehren des Alten Testaments zu verstehen, und warum Jesus sie für gut befindet.
Lass uns lernen, ihre Lehren zu lieben, wie Jesus sie liebt.
Titelbild: unsplash
Jesus selbst nimmt Stellung zu seinem Denken über das Alte Testament. Matthäus zitiert ihn folgendermassen (Kapitel 5, Vers 17): “Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.”
Super wahrgenommen Simone, danke 🙏
“Im Gegenteil: Durch seinen stellvertretenden Tod (siehe z.B. 1Pet 3:18) schickt er sich eben grad in das Sühne-System hinein und bestätigt es dadurch mit seinem eigenen Leben!”
Gefällt mir einfach, diese Argumentation!