Foto von einer Hand auf rotem Hintergrund

War das Alte Testament Jesus peinlich?

Lesezeit: 4 Minuten
Lesezeit: 4 Minuten

by Paul Bruderer | 06. Sep. 2019 | 3 comments

Ein­flussre­iche Autoren in der christlichen Szene wie Richard Rohr und Bri­an Zah­nd vertreten die Mei­n­ung, dass Jesus sich von zen­tralen Lehren des Alten Tes­ta­ments nicht nur dis­tanziert, son­dern ihnen aktiv wider­spricht und sie für ungültig erk­lärt. Stimmt das Bild von Jesus, das sie zeich­nen? Was wären die Auswirkun­gen auf unseren Glauben, wenn sie recht hät­ten? In mein­er Predigt (inklu­sive ein­drück­lichem Glauben­szeug­nis am Anfang) lege ich dar, warum ich überzeugt bin, dass Jesus nicht auf Dis­tanz geht zu den Alttes­ta­mentlichen Schriften.

Der Panen­the­is­mus-Mys­tik­er Richard Rohr behauptet in seinem 2016 erschiene­nen Buch ‘Der göt­tliche Tanz’:

Inter­pretieren Sie die Bibel doch ein­mal so, wie Jesus es tat! Er ignori­ert sie, leugnet sie oder wider­spricht ihr, wo sie impe­ri­al­is­tisch, strafend, auss­chließend oder nach Stammes­denken klingt. (Richard Rohr. Der göt­tliche Tanz, Kin­dle Posi­tion 2167)

Mit dem ersten Satz dürften sich alle Chris­ten ein­ver­standen erk­lären. Das Prob­lem fängt beim zweit­en Satz an! Rohr fährt näm­lich fort, Jesus auf eine Art zu beschreiben, die wir nir­gends im Neuen Tes­ta­ment beschrieben find­en. Rohr braucht das Wort ‘Jesus’, um über eine Per­son zu reden, die wir im Neuen Tes­ta­ment nicht find­en. Nicht über­all, wo ‘Jesus’ drauf ste­ht, ist Jesus wirk­lich drin!

Ein­flussre­ich­er The­ologe und Autor Bri­an Zah­nd toppt Rohr. Hier ein etwas län­geres Zitat aus seinem 2017 erschiene­nen Buch ‘Sin­ners in the hand of a lov­ing God’:

Ver­langt Gott wirk­lich Tier-Opfer? In der Torah sagen die Priester und Leviten Ja. Mit der Zeit hin­ter­fra­gen die Psalmen-Autoren und Propheten diese Überzeu­gung. David sagt: «An Schlach­topfern und Speiseopfern hast du kein Gefall­en, aber du gab­st mir Ohren, die offen sind für dich, Bran­dopfer und Sün­dopfer hast du nicht von mir ver­langt» (Ps 40:7) In diesem Psalm wider­spricht David auf krasse Weise der ein­deuti­gen Lehre der Torah! Später behauptet Hosea, dass Gott keine Opfer will, son­dern Barmherzigkeit. Schlussendlich kommt Jesus und bestätigt die Mei­n­ung von Hosea. (…) Die Bibel ist ein Buch, das sich auf der Suche befind­et nach dem Wort Gottes. (…) Es ist Jesus, der den Dis­put klärt. (Bri­an Zah­nd, Sin­ners in the hand of a lov­ing God, Seite 14 — eigene Übersetzung).

Die Aus­sagen von Zah­nd sind erstaunlich, weil wir Bibel­stellen haben, die David und Jesus als Per­so­n­en zeigen, welche das Opfer-Sys­tem nicht nur ein­fach ein­hal­ten, son­dern es respek­tieren und vielle­icht sog­ar eine Liebe dafür zeigen. Zum Beispiel sehen wir in Psalm 51, wie David auf ähn­liche Weise über das Opfer-Sys­tem spricht, wie im von Zah­nd zitierten Psalm 40:

Dir liegt nichts daran, dass ich dir Tiere als Schlach­topfer dar­bringe – ich würde es son­st bere­itwillig tun. Nein, nach Bran­dopfern hast du kein Ver­lan­gen. Ein Opfer, das Gott gefällt, ist tiefe Reue; ein zer­broch­enes und verzweifeltes Herz wirst du, o Gott, nicht zurück­weisen. (Ps 51:18–19)

Bis zu diesem Punkt im Text müssten wir sagen: “Bri­an, vielle­icht hast du recht!” Nimmt man sich aber die Zeit, den Text weit­er zu lesen, ent­deckt man folgendes:

Dann wirst du erneut Gefall­en haben an den vorgeschriebe­nen Opfern, an Bran­dopfern, die voll­ständig in Rauch aufge­hen. Dann wer­den auf deinem Altar wieder Stiere für dich darge­bracht. (Ps 51:18–21)

Hier sehen wir nicht einen David, der proak­tiv gegen das von der Torah bejahte Opfer-Sys­tem vorge­ht. Hier sehen wir einen David, der nach Busse des Herzens die Bedeu­tung des Tier-Opfers her­vorhebt. David betont das Gefall­en Gottes, dass die Opfer nun wieder auf richtige Weise einge­set­zt sind. Und weil das Herz Davids nach sein­er Busse wieder mit Gottes Herzen im Ein­klang ist, kön­nen wir ver­muten, dass David hier auch Liebe zeigt für die Bedeu­tung des Opfer-Sys­tems: Die stel­lvertre­tende Sühne.

Auch Jesus wen­det sich nicht gegen das Opfer­sys­tem, wenn er dazu Gele­gen­heit hat. Wir sehen z.B. in Mt 8:4, dass Jesus einen kranken Men­schen heilt und ihn anschliessend auf­fordert, das zum mosais­chen Gesetz passende Opfer zu ver­richt­en. Er nutzt die Gele­gen­heit nicht, um dem Mann zu sagen: “In meinem Reich sind solche Opfer zu ver­ab­scheuen — gehe partout nicht hin, um das nötige Opfer zu verrichten!”

Mein Ver­dacht ist, dass Zah­nd in der aktuell weit ver­bre­it­eten Polemik gegen das Sühne-Denken der Bibel vorge­ht und dafür eine sehr selek­tive Lek­türe der Bibel in Kauf nimmt. Über etwas sind sich die meis­ten Chris­ten einig, und ich auch: Jesu Tod und Aufer­ste­hung führt zur Aufhe­bung des Opfers-Sys­tems. Dies geschieht aber nicht, weil Jesus ein Prob­lem hat mit dem Opfer-Sys­tem oder mit dem Prinzip der Sühne. Im Gegen­teil: Durch seinen stel­lvertre­tenden Tod (siehe z.B. 1Pet 3:18) schickt er sich eben grad in das Sühne-Sys­tem hinein und bestätigt es dadurch mit seinem eige­nen Leben!

Liebe, nicht Distanz, prägt die Beziegung von Jesus zum Alten Testament

Der Jesus des Neuen Tes­ta­ments hätte das Alte Tes­ta­ment nie in der Weise kri­tisiert und davon Abstand genom­men, wie Rohr und Zah­nd uns weis­machen wollen. Im Gegen­teil bestätigt und ver­stärkt er dessen Lehre (z.B. in seinen ‘Ihr habt gehört… ich aber sage euch’ Aus­sagen in der Berg­predigt). Jesus grün­det seine Iden­tität und seinen Leben­sauf­trag auf dem Alten Tes­ta­ment (siehe z.B. Lk 24:25–27). Jesus entschuldigt sich nir­gends für die pein­lichen Geschicht­en das Alten Tes­ta­ments, son­dern nutzt sie, um zen­trale Ele­mente sein­er Lehre zu begrün­den (siehe z.B. Lk 10:12 oder Mt 24:37–39).

Der Jesus des Neuen Tes­ta­ments geht nicht auf Abstand zum Alten Tes­ta­ment, son­dern liebt diese Büch­er-Samm­lung als seine Bibel mit der Gewis­sheit, dass sein Vater im Him­mel das Buch inspiri­ert hat und es dessen höch­ste Autorität trägt.

Wer Jesus als einen Mann darstellt, der auf kri­tis­chen Abstand zum Alten Tes­ta­ment geht, riskiert Jesus selb­st zu ver­lieren. Denn er kommt let­zlich nicht darum herum, Jesus selb­st zu kri­tisieren oder bezeugte Aus­sagen von ihm anzuzweifeln. Und genau das ist mein Ein­druck bei Rohr und Zah­nd: Sie glauben nicht an den Jesus, wie ihn das Neue Tes­ta­ment beschreibt. Dieser Jesus ist es aber, in den ich mein Ver­trauen setze.

Für mich ist es keine Frage, dass das Alte Tes­ta­ment für unsere Zeit anspruchsvolle und mitunter sehr schwierige Texte hat. Das Neue Tes­ta­ment hat sie übri­gens auch! Aber ich denke nicht, dass wir die für uns unan­genehmen Ele­mente aus dem Buch löschen kön­nen, das Jesus so liebt.

Unsere Auf­gabe ist es, uns die Zeit zu nehmen mit dem Anliegen zu ver­ste­hen, weshalb Jesus sich aus­gerech­net zu diesem Buch beken­nt und es liebt.
Unsere Auf­gabe ist es, die anspruchsvollen Lehren des Alten Tes­ta­ments zu ver­ste­hen, und warum Jesus sie für gut befindet.
Lass uns ler­nen, ihre Lehren zu lieben, wie Jesus sie liebt.

Artikel als PDF herunterladen

Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

Werde Teil der Diskussion

Kommentare zu diesen Beitrag

3 Comments

  1. Simone Lehmann

    Jesus selb­st nimmt Stel­lung zu seinem Denken über das Alte Tes­ta­ment. Matthäus zitiert ihn fol­gen­der­massen (Kapi­tel 5, Vers 17): “Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekom­men bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekom­men aufzulösen, son­dern zu erfüllen.”

    Reply
    • Paul Bruderer

      Super wahrgenom­men Simone, danke 🙏

      Reply
  2. Daniel Dörig

    “Im Gegen­teil: Durch seinen stel­lvertre­tenden Tod (siehe z.B. 1Pet 3:18) schickt er sich eben grad in das Sühne-Sys­tem hinein und bestätigt es dadurch mit seinem eige­nen Leben!”

    Gefällt mir ein­fach, diese Argumentation!

    Reply

Submit a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt weiterstöbern

Mehr Blogposts entdecken

Fundiert unfundamentalistisch

Fundiert unfundamentalistisch

Die evangelische Weite zwischen fundamentalistischer Engführung und progressiver Auflösung des Glaubensbestands erkunden Theologie ist immer auch Biografie. Damit du meine Art, mit der Bibel zu arbeiten nachvollziehen kannst, ist hier meine Geschichte: Ich bin in...

Dein Leben zählt

Dein Leben zählt

Mit dem Buch „Dein Leben zählt“ hat Christian Haslebacher ein kompaktes und gut lesbares Buch geschrieben, welches Kernpunkte des Evangeliums hinein in die Lebenswelt von Menschen im 21. Jahrhunderts übersetzt. Es hat seine Tücken ein Buch zu rezensieren von jemandem,...