Unsere Gesellschaft hat ein feines Gespür für das problematische Verhältnis von Wahrheit und Macht. Wir haben Angst, dass Wahrheitsansprüche zu Machtmissbrauch und Gewalt führen. Die postmodernen Denker haben das Problem erkannt und schlagen eine Lösung vor: Wir sollen die Idee einer einzigen Wahrheit aufgeben. Letztlich halten sie an der Macht fest und geben die Wahrheit auf. Jesus Christus geht genau den umgekehrten Weg: Er lässt er seine Macht los und hält an der Wahrheit fest. Die Auswirkungen sind ungeahnt gross!
Das Problem
Postmoderne Denker wie Jean-Francois Lyotard haben das mitunter äusserst problematische Verhältnis erkannt zwischen Macht und Wahrheit. „Die grosse Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren.“ (Das postmoderne Wissen, Seite 112). Mit der “grossen Erzählung” meint Lyotard die menschlichen Versuche, eine allumfassende Erklärung zu geben – also eine absolute Wahrheit über allem anderem. Er schrieb kurz nachdem Ideologien, welche mit Absolutheitsanspruch geglaubt wurden, die Welt in zwei Weltkriege gestürzt hatten. Historisch stimmt es, dass viel Gewalt im Namen einer für absolut gehaltenen Wahrheit geführt worden ist. Christen sind leider keine Ausnahme.
So löst die Postmoderne das Problem
Lyotard schlägt vor, dass wir aufhören, an eine Wahrheit zu glauben, also an eine absolute Wahrheit. Die Logik ist, dass wir dann nicht in der Gefahr stehen, Gewalt auszuüben. Wir sollen also viele Wahrheiten zulassen und zwar ohne sie zu werten. Diese Wahrheiten dürfen durchaus widersprüchlich sein – kein Problem. Das postmoderne Mantra lautet: Andere Meinungen gelten lassen, und zwar ohne zu werten.
Ich bin mit den postmodernen Denkern einig, dass wir ein echtes Problem haben im Verhältnis zwischen Macht und Wahrheit. Es ist grauenvoll, was im Laufe der Geschichte alles im Namen einer für absolut geglaubten Wahrheit angerichtet worden ist. Doch ich glaube auch, dass die vorgeschlagene Lösung nicht nur zu kurz greift, sondern genau das weiterführt, was die Postmoderne aus der Welt zu schaffen versucht: Machtmissbrauch.
Das Problem mit dieser Lösung
Das Problem ist, dass auch die postmoderne Ideologie nicht davor gefeit ist, ihre Macht zu missbrauchen. Sie tut das beispielsweise, indem sie den öffentlichen Diskurs massgeblich kontrolliert, wenn nicht sogar dominiert. Verschiedene Inkarnationen postmoderner Ideologie wie z.B. der Kulturmarxismus, Feminismus oder die Genderideologie lassen keine anderen alternativen Erzählvarianten zu.
Ein aktuelles Beispiel aus Deutschland ist die soeben beschlossene Gesetzgebung, welche ein Verbot von Konversionstherapien für unter 18-Jährige durchsetzt und das Bewerben gänzlich untersagt. Hier steht nicht mehr nur das Verhindern von missbräuchlicher oder schlechter Therapiepraxis im Vordergrund, sondern es wird Menschen auf der Basis der Genderideologie ganz grundsätzlich vorgeschrieben, was sie zu denken, reden und entscheiden haben.
Hier wie an vielen anderen Orten arbeitet eine postmoderne Ideologie zielgerichtet auf Durchsetzung und Dominanz ihres Gedankenguts in der Gesellschaft hin. Es soll nur gedacht und gesagt werden, was die Ideologie erlaubt. Mir kommt es vor, als hätte die Postmoderne die Wahrheit aufgegeben, um nur noch mehr an der Macht festzuhalten. Graphisch könnte man das so darstellen:
Auf den Punkt gebracht: Die postmoderne Ideologie hat die Wahrheit aufgegeben, um an die Macht zu gelangen. Ich will nicht unfair sein. Die Postmoderne hatte ursprünglich das Ziel, das Problem der Macht zu lösen. Entstanden ist letztlich ein neues Machtsystem auf Kosten der Wahrheit.
Jesus Christus zeigt uns in seinem Leben den genau umgekehrten Weg.
So löst Jesus das Problem
Kurz vor seinem freiwilligen Tod am Kreuz führt Jesus ein für unsere Frage aufschlussreiches Gespräch mit Pilatus. Eigentlich ist es ja kein Gespräch, sondern vielmehr ein Verhör. Und in diesem Verhör kommen genau die beiden zentralen postmodernen Themen von Macht und Wahrheit zu Sprache. Ich paraphrasiere Ausschnitte aus der Konversation:
Pilatus ließ Jesus vorführen. »Bist du der König der Juden?«, fragte er ihn. Jesus antwortete: »Das Reich, dessen König ich bin, ist nicht von dieser Welt.« Da sagte Pilatus zu ihm: »Dann bist du also tatsächlich ein König?« Jesus erwiderte: »Du hast Recht – ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeuge zu sein; dazu bin ich geboren. Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.« – »Wahrheit?«, sagte Pilatus zu ihm. »Was ist Wahrheit?« (aus Joh 18:33–38)
Die Frage, ob Jesus König ist, ist die Macht-Frage: “Wie viel Macht hast du, Jesus?” Im Dialog kommt der Moment, an dem Jesus seine eigene Macht anerkennt. Anstatt beim Thema der Macht zu bleiben, geht Jesus spannenderweise zu einem anderen Thema über, nämlich zum Thema Wahrheit. Er bezeichnet das Offenlegen der Wahrheit als seinen Lebensauftrag. (Joh 18:37)
Beim Abwägen zwischen Macht und Wahrheit scheint Jesus hier also auf die Seite der Wahrheit zu gehen. Was stellt Jesus denn mit seiner Macht an? Die Bibel erklärt uns, dass Jesus so etwas wie ein zweistufiges Aufgeben seiner Macht durchlief, als er Mensch wurde und als er am Kreuz starb:
Er, der Gott in allem gleich war und auf einer Stufe mit ihm stand, nutzte seine Macht nicht zu seinem eigenen Vorteil aus. Im Gegenteil: Er verzichtete auf alle seine Vorrechte und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener. Er wurde einer von uns – ein Mensch wie andere Menschen. Aber er erniedrigte sich noch mehr: Im Gehorsam gegenüber Gott nahm er sogar den Tod auf sich; er starb am Kreuz wie ein Verbrecher. (Phil 2:6–8)
Was Jesus hier tut, lässt sich graphisch folgendermassen darstellen:
Wir sind jetzt in der Lage, die postmoderne Ideologie zu vergleichen mit dem Leben von Jesus. Wir erkennen einen immensen Unterschied zwischen beiden. Die postmoderne Ideologie gibt Wahrheit auf und hält an der Macht fest, während Jesus seine Macht aufgibt und an der Wahrheit festhält. Die Auswirkungen dieses Unterschieds sind immens.
Weil die Postmoderne die Wahrheit aufgibt, verschleiert sie unseren Blick auf das Wesen der Dinge. Indem sie an der Macht festhält, drückt sie anderen ihre Ansichten auf.
Jesus hingegen nutzt seine Macht nicht, um seine Überzeugungen anderen aufzuzwingen. Indem Jesus an der Wahrheit festhält, verschleiert er unseren Blick nicht, sondern zeigt uns das Wesen der Dinge. Denn das ist es, was die Wahrheit tut: Sie offenbart das Wesen der Dinge. Weil Jesus an der Wahrheit festhält, kann er etwas tun, was die postmoderne Ideologie niemals tun kann: Er offenbart uns auf verlässliche Weise das Wesen der Dinge. Genau das war — unter anderem — sein Lebensauftrag. Er kam als Zeuge der Wahrheit insbesondere in Bezug auf das Wesen von Gott und seiner Macht.
Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern das ewige Leben hat. (Joh 3,16)
Das ist also die Wahrheit über das Wesen Gottes: Eine Liebe, die sich hingibt, auf dass wir gerettet werden können. Jesus erklärt uns diese Wahrheit nicht nur mit Worten, sondern beweist sie durch seine Taten. Er geht kurz nach dem erwähnten Verhör durch Pilatus freiwillig ans Kreuz für die Erlösung der Welt. Damit zeigt er uns Menschen auch das Wesen von Gottes Macht: Sie übt nicht Gewalt an anderen, sondern lenkt die Gewalt auf sich selbst, damit sündige Menschen gerettet werden können. Ein anderes Wort, um das Wesen dieser Macht Gottes zu beschreiben, finden wir auf den Lippen der Menschen, die mit Jesus lebten:
Wir alle haben aus der Fülle seines Reichtums Gnade und immer neu Gnade empfangen. Denn durch Mose wurde uns das Gesetz gegeben, aber durch Jesus Christus sind die Gnade und die Wahrheit zu uns gekommen. Niemand hat Gott je gesehen. Der einzige Sohn hat ihn uns offenbart, er, der selbst Gott ist und an der Seite des Vaters sitzt. (Joh 1,16–18)
Das Wort ist Gnade. Die Wahrheit über das Wesen der Macht Gottes ist: Seine Macht ermöglicht Gnade! Verdient hätten wir etwas anderes. Doch Gottes Macht schenkt Gnade. Denn nur wer höchste Macht hat, kann den Schuldigen begnadigen:
Gottes Macht ist nicht eine Macht, vor der wir fliehen müssen, sondern eine Macht, in der wir Zuflucht und Schutz finden können. Gottes Macht ist eine Macht, der wir vertrauen und uns anvertrauen können. Was für eine wunderbare, lebensverändernde, unsere Herzen erobernde Erkenntnis und Erfahrung! Eine Erkenntnis und Erfahrung, welche die postmoderne Ideologie schlicht und ergreifend verpasst, weil sie die Wahrheit fallen lässt. Die Wahrheit entpuppt sich als genau das, was die Postmoderne nötig hätte, um das Problem der Gewalt zu lösen.
Anmerkung
Dieser Blog ist inspiriert von zwei meiner Predigten:
Predigt: Kannst du Gewalt verhindern?
Predigt: Wie löst Jesus das Problem der Postmoderne?
Hallo zusammen
und danke für den Kommentar, aber mich überzeugt die Beschreibung der 3. Option hier nicht. Mir fehlt Gott in dieser Beschreibung. Es fehlt die Verdeutlichung, dass er es ist, der uns die Augen für die Wahrheit öffnet. Die Suche nach Gott und seiner Nähe ist es, was uns als seine Kinder mehr und mehr zur Wahrheit führt. Und mit der Hoffnung dies richtig zu formulieren, glaube ich, dass wir als seine Kinder nicht die Wahrheit per se mehr lieben dürfen als wir Gott lieben, zu schnell kann uns dieser Weg in die Irre führen. Auch kann für mich Gottes Wahrheit nicht konstruiert oder re-konstruiert werden, denn Gott ist Wahrheit. Er hat immer existiert und wird immer existieren. Erst durch die Führung des Heiligen Geistes wird es uns möglich zu erkennen, was Gott uns offenbaren möchte.
Liebe Grüsse, Claudia
Hi Claudia, good Point! Du sprichst ein häufig diskutiertes Thema der Philosophie an: Das Verhältnis von Gott zur Wahrheit. Die Frage ist, ob Wahrheit so etwas wie eine von Gott separate abstrakte Sache ist oder ob Gott die Wahrheit IST. Traditionelle christliche Theologie/Philosophie hat tendenziell die zweite Variante gewählt: Gott ist Wahrheit. Ausserhalb von ihm, unabhängig von ihm, gibt es keine Wahrheit. Wahrheit ist deshalb letztlich eine Person (Jesus sagt: “Ich BIN die Wahrheit”). Stimmt das, so stimmt auch was du sagst: Man kann die Wahrheit nicht mehr lieben als man Gott liebt. Wer Gott liebt, wird demzufolge die Wahrheit lieben. Wer behauptet Gott zu lieben aber kein wahrheitssuchender Mensch ist, liebt Gott nicht. Und das Umgekehrte gilt ebenso: Wer behauptet die Wahrheit zu lieben, aber Gott nicht liebt, liebt in Wirklichkeit nicht die Wahrheit sondern etwas anderes als die Wahrheit.
Um Wahrheit erkennen zu können, muss man erst einmal Wahrheit lieben. Das ist auch für Christen überhaupt nicht selbstverständlich, wie sich immer wieder zeigt:
https://manfredreichelt.wordpress.com/2017/07/04/der-hl-geist-und-die-wahrheit/
Thx Samuel! Schön wahrgenommen! Wir fangen alle an in der dritten Option zu ticken 🙂
Schöne Gegenüberstellung von Wahrheit und Macht/Verantwortung! 🙂
Die Daniel-Option bei der Wahrheit wäre:
1. Option: “Es gibt eine Wahrheit, und ich kenne sie” (absoluter Wahrheitsanspruch)
2. Option: “Wahrheitsansprüche widersprechen sich offensichtlich, also kann es offenbar keine absolute Wahrheit geben / Wahrheit ist nur ein Konstrukt im Kopf jedes Einzelnen” (Relativismus/Konstruktivismus)
3. Option: “Es gibt eine Wahrheit. Aber unser Erkennen ist Bruchstückhaft — wir haben alle nur einen einseitigen Zugang dazu, und wir sind angewiesen auf Dialog, um aus dem Stückwerk die Wahrheit anzunähern und zu re-konstruieren” (Re-Konstruktivismus)