Das Postmoderne Dilemma mit Wahrheit und Macht

Lesezeit: 6 Minuten
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by Paul Bruderer | 10. Mai. 2020 | 5 comments

Unsere Gesellschaft hat ein feines Gespür für das prob­lema­tis­che Ver­hält­nis von Wahrheit und Macht. Wir haben Angst, dass Wahrheit­sansprüche zu Macht­miss­brauch und Gewalt führen. Die post­mod­er­nen Denker haben das Prob­lem erkan­nt und schla­gen eine Lösung vor: Wir sollen die Idee ein­er einzi­gen Wahrheit aufgeben. Let­ztlich hal­ten sie an der Macht fest und geben die Wahrheit auf. Jesus Chris­tus geht genau den umgekehrten Weg: Er lässt er seine Macht los und hält an der Wahrheit fest. Die Auswirkun­gen sind ungeah­nt gross!

Das Problem

Post­mod­erne Denker wie Jean-Fran­cois Lyotard haben das mitunter äusserst prob­lema­tis­che Ver­hält­nis erkan­nt zwis­chen Macht und Wahrheit. „Die grosse Erzäh­lung hat ihre Glaub­würdigkeit ver­loren.“ (Das post­mod­erne Wis­sen, Seite 112). Mit der “grossen Erzäh­lung” meint Lyotard die men­schlichen Ver­suche, eine allum­fassende Erk­lärung zu geben – also eine absolute Wahrheit über allem anderem. Er schrieb kurz nach­dem Ide­olo­gien, welche mit Abso­lutheit­sanspruch geglaubt wur­den, die Welt in zwei Weltkriege gestürzt hat­ten. His­torisch stimmt es, dass viel Gewalt im Namen ein­er für abso­lut gehal­te­nen Wahrheit geführt wor­den ist. Chris­ten sind lei­der keine Ausnahme.

So löst die Postmoderne das Problem

Lyotard schlägt vor, dass wir aufhören, an eine Wahrheit zu glauben, also an eine absolute Wahrheit. Die Logik ist, dass wir dann nicht in der Gefahr ste­hen, Gewalt auszuüben. Wir sollen also viele Wahrheit­en zulassen und zwar ohne sie zu werten. Diese Wahrheit­en dür­fen dur­chaus wider­sprüch­lich sein – kein Prob­lem. Das post­mo­der­ne Man­tra lau­tet: Andere Mei­n­un­gen gel­ten las­sen, und zwar ohne zu wer­ten.

Ich bin mit den post­mod­er­nen Denkern einig, dass wir ein echt­es Prob­lem haben im Ver­hält­nis zwis­chen Macht und Wahrheit. Es ist grauen­voll, was im Laufe der Geschichte alles im Namen ein­er für abso­lut geglaubten Wahrheit angerichtet wor­den ist. Doch ich glaube auch, dass die vorgeschla­gene Lösung nicht nur zu kurz greift, son­dern genau das weit­er­führt, was die Post­mod­erne aus der Welt zu schaf­fen ver­sucht: Machtmissbrauch.

Das Problem mit dieser Lösung

Das Prob­lem ist, dass auch die post­mod­erne Ide­olo­gie nicht davor gefeit ist, ihre Macht zu miss­brauchen. Sie tut das beispiel­sweise, indem sie den öffentlichen Diskurs mass­ge­blich kon­trol­liert, wenn nicht sog­ar dominiert. Ver­schiedene Inkar­na­tio­nen post­mod­ern­er Ide­olo­gie wie z.B. der Kul­tur­marx­is­mus, Fem­i­nis­mus oder die Gen­deride­olo­gie lassen keine anderen alter­na­tiv­en Erzäh­lvari­anten zu.

Ein aktuelles Beispiel aus Deutsch­land ist die soeben beschlossene Geset­zge­bung, welche ein Ver­bot von Kon­ver­sion­s­ther­a­pi­en für unter 18-Jährige durch­set­zt und das Bewer­ben gän­zlich unter­sagt. Hier ste­ht nicht mehr nur das Ver­hin­dern von miss­bräuch­lich­er oder schlechter Ther­a­pieprax­is im Vorder­grund, son­dern es wird Men­schen auf der Basis der Gen­deride­olo­gie ganz grund­sät­zlich vorgeschrieben, was sie zu denken, reden und entschei­den haben.

Hier wie an vie­len anderen Orten arbeit­et eine post­mod­erne Ide­olo­gie ziel­gerichtet auf Durch­set­zung und Dom­i­nanz ihres Gedankenguts in der Gesellschaft hin. Es soll nur gedacht und gesagt wer­den, was die Ide­olo­gie erlaubt. Mir kommt es vor, als hätte die Post­mod­erne die Wahrheit aufgegeben, um nur noch mehr an der Macht festzuhal­ten. Graphisch kön­nte man das so darstellen:

Auf den Punkt gebracht: Die post­mod­erne Ide­olo­gie hat die Wahrheit aufgegeben, um an die Macht zu gelan­gen. Ich will nicht unfair sein. Die Post­mod­erne hat­te ursprünglich das Ziel, das Prob­lem der Macht zu lösen. Ent­standen ist let­ztlich ein neues Macht­sys­tem auf Kosten der Wahrheit.

Jesus Chris­tus zeigt uns in seinem Leben den genau umgekehrten Weg.

So löst Jesus das Problem

Kurz vor seinem frei­willi­gen Tod am Kreuz führt Jesus ein für unsere Frage auf­schlussre­ich­es Gespräch mit Pila­tus. Eigentlich ist es ja kein Gespräch, son­dern vielmehr ein Ver­hör. Und in diesem Ver­hör kom­men genau die bei­den zen­tralen post­mod­er­nen The­men von Macht und Wahrheit zu Sprache. Ich para­phrasiere Auss­chnitte aus der Konversation:

Pila­tus ließ Jesus vor­führen. »Bist du der König der Juden?«, fragte er ihn. Jesus antwortete: »Das Reich, dessen König ich bin, ist nicht von dieser Welt.« Da sagte Pila­tus zu ihm: »Dann bist du also tat­säch­lich ein König?« Jesus erwiderte: »Du hast Recht – ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekom­men, um für die Wahrheit Zeuge zu sein; dazu bin ich geboren. Jed­er, der auf der Seite der Wahrheit ste­ht, hört auf meine Stimme.« – »Wahrheit?«, sagte Pila­tus zu ihm. »Was ist Wahrheit?« (aus Joh 18:33–38)

Die Frage, ob Jesus König ist, ist die Macht-Frage: “Wie viel Macht hast du, Jesus?” Im Dia­log kommt der Moment, an dem Jesus seine eigene Macht anerken­nt. Anstatt beim The­ma der Macht zu bleiben, geht Jesus span­nen­der­weise zu einem anderen The­ma über, näm­lich zum The­ma Wahrheit. Er beze­ich­net das Offen­le­gen der Wahrheit als seinen Leben­sauf­trag. (Joh 18:37)

Beim Abwä­gen zwis­chen Macht und Wahrheit scheint Jesus hier also auf die Seite der Wahrheit zu gehen. Was stellt Jesus denn mit sein­er Macht an? Die Bibel erk­lärt uns, dass Jesus so etwas wie ein zweistu­figes Aufgeben sein­er Macht durch­lief, als er Men­sch wurde und als er am Kreuz starb:

Er, der Gott in allem gle­ich war und auf ein­er Stufe mit ihm stand, nutzte seine Macht nicht zu seinem eige­nen Vorteil aus. Im Gegen­teil: Er verzichtete auf alle seine Vor­rechte und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener. Er wurde ein­er von uns – ein Men­sch wie andere Men­schen.  Aber er erniedrigte sich noch mehr: Im Gehor­sam gegenüber Gott nahm er sog­ar den Tod auf sich; er starb am Kreuz wie ein Ver­brech­er.  (Phil 2:6–8)

Was Jesus hier tut, lässt sich graphisch fol­gen­der­massen darstellen:

Wir sind jet­zt in der Lage, die post­mod­erne Ide­olo­gie zu ver­gle­ichen mit dem Leben von Jesus. Wir erken­nen einen immensen Unter­schied zwis­chen bei­den. Die post­mod­erne Ide­olo­gie gibt Wahrheit auf und hält an der Macht fest, während Jesus seine Macht aufgibt und an der Wahrheit fes­thält. Die Auswirkun­gen dieses Unter­schieds sind immens.

Weil die Post­mod­erne die Wahrheit aufgibt, ver­schleiert sie unseren Blick auf das Wesen der Dinge. Indem sie an der Macht fes­thält, drückt sie anderen ihre Ansicht­en auf.

Jesus hinge­gen nutzt seine Macht nicht, um seine Überzeu­gun­gen anderen aufzuzwin­gen. Indem Jesus an der Wahrheit fes­thält, ver­schleiert er unseren Blick nicht, son­dern zeigt uns das Wesen der Dinge. Denn das ist es, was die Wahrheit tut: Sie offen­bart das Wesen der Dinge. Weil Jesus an der Wahrheit fes­thält, kann er etwas tun, was die post­mod­erne Ide­olo­gie niemals tun kann: Er offen­bart uns auf ver­lässliche Weise das Wesen der Dinge. Genau das war — unter anderem — sein Leben­sauf­trag. Er kam als Zeuge der Wahrheit ins­beson­dere in Bezug auf das Wesen von Gott und sein­er Macht.

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzi­gen Sohn hingab, damit jed­er, der an ihn glaubt, nicht ver­loren geht, son­dern das ewige Leben hat. (Joh 3,16)

Das ist also die Wahrheit über das Wesen Gottes: Eine Liebe, die sich hin­gibt, auf dass wir gerettet wer­den kön­nen. Jesus erk­lärt uns diese Wahrheit nicht nur mit Worten, son­dern beweist sie durch seine Tat­en. Er geht kurz nach dem erwäh­n­ten Ver­hör durch Pila­tus frei­willig ans Kreuz für die Erlö­sung der Welt. Damit zeigt er uns Men­schen auch das Wesen von Gottes Macht: Sie übt nicht Gewalt an anderen, son­dern lenkt die Gewalt auf sich selb­st, damit sündi­ge Men­schen gerettet wer­den kön­nen. Ein anderes Wort, um das Wesen dieser Macht Gottes zu beschreiben, find­en wir auf den Lip­pen der Men­schen, die mit Jesus lebten:

Wir alle haben aus der Fülle seines Reich­tums Gnade und immer neu Gnade emp­fan­gen. Denn durch Mose wurde uns das Gesetz gegeben, aber durch Jesus Chris­tus sind die Gnade und die Wahrheit zu uns gekom­men. Nie­mand hat Gott je gese­hen. Der einzige Sohn hat ihn uns offen­bart, er, der selb­st Gott ist und an der Seite des Vaters sitzt. (Joh 1,16–18)

Das Wort ist Gnade. Die Wahrheit über das Wesen der Macht Gottes ist: Seine Macht ermöglicht Gnade! Ver­di­ent hät­ten wir etwas anderes. Doch Gottes Macht schenkt Gnade. Denn nur wer höch­ste Macht hat, kann den Schuldigen begnadigen:

Gottes Macht ist nicht eine Macht, vor der wir fliehen müssen, son­dern eine Macht, in der wir Zuflucht und Schutz find­en kön­nen. Gottes Macht ist eine Macht, der wir ver­trauen und uns anver­trauen kön­nen. Was für eine wun­der­bare, lebensverän­dernde, unsere Herzen erobernde Erken­nt­nis und Erfahrung! Eine Erken­nt­nis und Erfahrung, welche die post­mod­erne Ide­olo­gie schlicht und ergreifend ver­passt, weil sie die Wahrheit fall­en lässt. Die Wahrheit ent­pup­pt sich als genau das, was die Post­mod­erne nötig hätte, um das Prob­lem der Gewalt zu lösen.

Anmerkung

Dieser Blog ist inspiri­ert von zwei mein­er Predigten:

Predigt: Kannst du Gewalt verhindern?

Predigt: Wie löst Jesus das Prob­lem der Postmoderne?

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Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

5 Comments

  1. Claudia

    Hal­lo zusammen
    und danke für den Kom­men­tar, aber mich überzeugt die Beschrei­bung der 3. Option hier nicht. Mir fehlt Gott in dieser Beschrei­bung. Es fehlt die Verdeut­lichung, dass er es ist, der uns die Augen für die Wahrheit öffnet. Die Suche nach Gott und sein­er Nähe ist es, was uns als seine Kinder mehr und mehr zur Wahrheit führt. Und mit der Hoff­nung dies richtig zu for­mulieren, glaube ich, dass wir als seine Kinder nicht die Wahrheit per se mehr lieben dür­fen als wir Gott lieben, zu schnell kann uns dieser Weg in die Irre führen. Auch kann für mich Gottes Wahrheit nicht kon­stru­iert oder re-kon­stru­iert wer­den, denn Gott ist Wahrheit. Er hat immer existiert und wird immer existieren. Erst durch die Führung des Heili­gen Geistes wird es uns möglich zu erken­nen, was Gott uns offen­baren möchte.
    Liebe Grüsse, Claudia

    Reply
    • Paul Bruderer

      Hi Clau­dia, good Point! Du sprichst ein häu­fig disku­tiertes The­ma der Philoso­phie an: Das Ver­hält­nis von Gott zur Wahrheit. Die Frage ist, ob Wahrheit so etwas wie eine von Gott sep­a­rate abstrak­te Sache ist oder ob Gott die Wahrheit IST. Tra­di­tionelle christliche Theologie/Philosophie hat ten­den­ziell die zweite Vari­ante gewählt: Gott ist Wahrheit. Ausser­halb von ihm, unab­hängig von ihm, gibt es keine Wahrheit. Wahrheit ist deshalb let­ztlich eine Per­son (Jesus sagt: “Ich BIN die Wahrheit”). Stimmt das, so stimmt auch was du sagst: Man kann die Wahrheit nicht mehr lieben als man Gott liebt. Wer Gott liebt, wird demzu­folge die Wahrheit lieben. Wer behauptet Gott zu lieben aber kein wahrheitssuchen­der Men­sch ist, liebt Gott nicht. Und das Umgekehrte gilt eben­so: Wer behauptet die Wahrheit zu lieben, aber Gott nicht liebt, liebt in Wirk­lichkeit nicht die Wahrheit son­dern etwas anderes als die Wahrheit.

      Reply
  2. Paul Bruderer

    Thx Samuel! Schön wahrgenom­men! Wir fan­gen alle an in der drit­ten Option zu ticken 🙂

    Reply
  3. Samuel L.

    Schöne Gegenüber­stel­lung von Wahrheit und Macht/Verantwortung! 🙂

    Die Daniel-Option bei der Wahrheit wäre:
    1. Option: “Es gibt eine Wahrheit, und ich kenne sie” (absoluter Wahrheitsanspruch)
    2. Option: “Wahrheit­sansprüche wider­sprechen sich offen­sichtlich, also kann es offen­bar keine absolute Wahrheit geben / Wahrheit ist nur ein Kon­strukt im Kopf jedes Einzel­nen” (Relativismus/Konstruktivismus)
    3. Option: “Es gibt eine Wahrheit. Aber unser Erken­nen ist Bruch­stück­haft — wir haben alle nur einen ein­seit­i­gen Zugang dazu, und wir sind angewiesen auf Dia­log, um aus dem Stück­w­erk die Wahrheit anzunäh­ern und zu re-kon­stru­ieren” (Re-Kon­struk­tivis­mus)

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