Toleranz

Lesezeit: 10 Minuten
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by Josua Hunziker | 21. Jun. 2020 | 3 comments

Wohl kaum eine Eigen­schaft wird heute vehe­menter gefordert als Tol­er­anz. Nur wer akzep­tiere, dass die eigene Welt­sicht nicht die einzig Wahre sein kann, werde der Kom­plex­ität der heuti­gen Gesellschaft gerecht. Kann ich mir einen eige­nen Stand­punkt über­haupt noch leisten?

Ein eigen­er Stand­punkt bedeutet für mich, fes­ten Boden unter den Füssen zu haben. Auf gewisse Grund­wahrheit­en zu ver­trauen und auf diesem Fun­da­ment aufzubauen. Dies bed­ingt auch, Gren­zen zu ziehen; es bedeutet, Wahr und Falsch, Gut und Böse zu unter­schei­den. Kri­tik­er wer­den mir vor­w­er­fen, dass ich damit den Dia­log verun­mögliche, andere Men­schen unver­mei­dlich diskri­m­iniere und mich hin­ter meinen Priv­i­legien als weiss­er, gut gebilde­ter und het­ero­sex­ueller Mann ver­stecke. Doch ich bin überzeugt: Genau das Gegen­teil ist der Fall. Nur durch fes­ten Boden unter den Füssen wird Tol­er­anz erst möglich.

Vor eini­gen Wochen hat mein Brud­er, Emanuel Hun­zik­er, auf diesem Blog die Frage aufge­wor­fen, wie wir in der heuti­gen Zeit effek­tiv über Jesus reden und das Evan­geli­um verkündi­gen kön­nen. Die Ansätze, welche wir uns als Kirchen über Jahrzehnte antrainiert haben, scheinen in der heuti­gen plu­ral­is­tis­chen Gesellschaft an Effek­tiv­ität einge­büsst zu haben. Was ist also zu tun? In seinem lesenswerten Artikel hat Emanuel einige Ansätze dazu aufgezeigt, und er schloss in Anlehnung an Dr. Tim­o­thy Keller und Prof. John Inazu mit einem Aufruf zur Demut, Geduld und Tol­er­anz. Diesen drei Begrif­f­en möcht­en wir in ein­er Kurzserie noch genauer auf den Grund gehen. Wir starten mit der Toleranz.

Alles fordert Toleranz

Tol­er­anz. Ein belasteter Begriff, dessen sich heute viele Mei­n­ungs­mach­er bedi­enen. Mir scheint, dass Tol­er­anz für manche Kreise zum Inbe­griff des moralis­chen Massstabes gewor­den ist. “Sei tol­er­ant!”. “Diese Hal­tung ist ja völ­lig intol­er­ant!”. “Jene Geste ist ein Muster­beispiel für gelebte Tol­er­anz.” Wohin man schaut, wird Tol­er­anz gefordert und gefeiert. “Wir haben doch alle die gle­ichen Rechte!”. “Wie kann man denn einem les­bis­chen Paar das Recht auf Kinder ver­weigern wollen?”. “Wie kann man eine Frau zwin­gen, ihren Fötus auszu­tra­gen und für das Kind zu sor­gen? Ist das nicht die Entschei­dung jedes Einzel­nen?”. “Mehr Tol­er­anz bitte! Mehr Tol­er­anz!”. Das Einzige, was nicht tol­er­a­bel ist, ist Intol­er­anz. Spröder Kon­ser­vatismus, ver­knor­rtes, rück­ständi­ges, chau­vin­is­tis­ches Gedankengut. Das geht gar nicht.

Ja, wir Kirchen haben nicht ger­ade den besten Ruf, was Tol­er­anz ange­ht. Im Gegen­teil. Wer heute von uns Chris­ten und der Kirche Tol­er­anz fordert, meint im All­ge­meinen, dass wir doch bitte sehr akzep­tieren sollen, dass sich die Zeit­en geän­dert haben. Wir leben schliesslich nicht mehr im Mit­te­lal­ter. Monogame Sex­u­alethik, Unter­drück­ung der Frau (z.B. in Form von ver­wehrten Abtrei­bun­gen) und Leug­nung von Homo­sex­u­al­ität passen doch ein­fach nicht mehr ins aufgek­lärte 21. Jahrhun­dert. Kein Wun­der, wer­den die Kirchen­bänke leer. Wer will sich denn noch sowas anhören?

Meint also Tim Keller mit seinem Aufruf zur Tol­er­anz, dass wir unser ortho­dox­es Bibelver­ständ­nis aufgeben und uns den gesellschaftlichen Strö­mungen endlich öff­nen sollen? Dass sich unsere Kirchen wieder füllen wür­den, wenn wir nur etwas weltof­fen­er mit den Entwick­lun­gen unser­er Zeit umge­hen wür­den? Wohl kaum! Keller wäre wohl der Let­zte, der sein dur­chaus ortho­dox­es und in der Kirchen­tra­di­tion gut ver­ankertes Bibelver­ständ­nis über Bord wer­fen würde. Was ist denn damit gemeint, dass wir Tol­er­anz benöti­gen, um heute das Evan­geli­um zu verkündigen?

Pho­to by Sebas­ti­aan Stam / Unsplash

Anything goes?

Als erstes lohnt sich wohl ein Blick auf den Begriff “Tol­er­anz” an sich. Heisst Tol­er­anz denn wirk­lich, dass ich meine Gren­zen von Wahrheit und von Gut und Böse ver­schieben muss? Bedeutet Tol­er­anz, dass ich abwe­ichende Mei­n­un­gen und Deu­tun­gen als richtig gel­ten lasse? Bin ich tol­er­ant, wenn ich alles akzep­tiere? Ich denke nicht. Eric Gujer, der Chefredak­tor der NZZ, bringt dies mein­er Mei­n­ung nach in einem Kom­men­tar zur “Burkade­bat­te” von 2016 gut auf den Punkt:

Tol­er­anz bedeutet nicht, alles anzuerken­nen, was von aussen an eine Gesellschaft herange­tra­gen wird. Diese Fest­stel­lung muss man sich in Zeit­en von Glob­al­isierung, Migra­tion und einem ver­bre­it­eten Gefühl des «Any­thing goes» immer wieder in Erin­nerung rufen. Auch der weltof­fene, frei­heitlich-plu­ral­is­tis­che Staat hat die Auf­gabe, eigene Massstäbe zu set­zen und zu vertei­di­gen. Eric Gujer, NZZ

Das­selbe gilt auch für die Kirche. Tol­er­anz kann nicht bedeuten, alle gesellschaftlichen Entwick­lun­gen und Strö­mungen gutzuheis­sen. Im Gegen­teil! Tol­er­ant zu sein bed­ingt einen eige­nen, überzeugten Stand­punkt. Denn ich kann die Welt um mich herum nur aus diesem Stand­punkt wahrnehmen. Und nur wenn ich meinen Stand­punkt kenne, kann ich auch meine eigene Brille kri­tisch betra­cht­en und von anderen betra­cht­en lassen. Nur wenn ich meinen Stand­punkt kenne, kann ich auf andere zuge­hen und in den Dia­log treten. Kein Dia­log ohne Tol­er­anz — aber auch kein Dia­log ohne Stand­punk­te. Das Mot­to “Any­thing goes” erstickt jede ern­sthafte Diskus­sion im Keim.

Die Grenze überschritten

Ich fahre über die Land­strasse, das Wet­ter ist schön, die Musik passt. Her­rlich, wie der Sport­wa­gen jede Kurve nimmt. Das Röhren des V8 Motors lässt mir die Nack­en­haare auf­ste­hen. Doch ger­ade, als ich genussvoll die weitläu­fige Linkskurve in Angriff nehme, werde ich trotz Son­nen­brille für Sekun­den­bruchteile geblendet. “Mist! Geblitzt!”, denke ich. Mein Blick sucht die Tachonadel. 92. “Hm, wenn ich Glück habe, bin ich vielle­icht ger­ade noch in der Tol­er­anz.” Die Stim­mung ist dahin. “Spass­brem­sen, diese Bullen!”.

Vielle­icht geht meine Hoff­nung in Erfül­lung und die Busse trifft tat­säch­lich nicht ein. Vielle­icht war ich tat­säch­lich “in der Tol­er­anz”. Doch heisst das, dass der Staat meine Fahrweise an diesem Nach­mit­tag gut heisst? Ist die Tol­er­anz der Radarmes­sung das Eingeständ­nis des Geset­zge­bers, dass eine Geschwindigkeits­be­gren­zung von 80 km/h doch eigentlich ziem­lich lang­weilig ist? Eine verdeck­te Erweiterung des erlaubten Geschwindigkeits­bere­ich­es? Auf gar keinen Fall. Wenn mir jemand mit hun­dert­prozentiger Sicher­heit hätte nach­weisen kön­nen, dass ich mit 92 km/h unter­wegs war, wäre mir die Busse sich­er gewe­sen. Der Tol­er­anzbere­ich existiert nicht, weil die Gren­zen aufgewe­icht wur­den. Son­dern nur, weil in diesem konkreten Fall die Mess­meth­ode nicht exakt genug ist und das Prinzip “Im Zweifels­fall für den Angeklagten” gilt. Der Staat toleriert meine über­höhte Geschwindigkeit, aber heisst sie damit noch lange nicht gut.

Wer etwas toleriert, der stellt damit gle­ichzeit­ig fest, dass das Gegenüber eine Gren­ze über­schrit­ten, sich aus dem Bere­ich des Wahrhafti­gen und Guten ent­fer­nt hat. Anson­sten lohnt es sich nicht, von Tol­er­anz zu sprechen. Akzep­tanz wäre dann der tre­f­fend­ere Begriff.

In Bezug auf The­men des Glaubens drückt es der amerikanis­che Autor Abdu Mur­ray fol­gen­der­massen aus:

Tol­er­anz funk­tion­iert nur bei Unter­schieden, nicht bei Gle­ich­heit. Nie­mand muss Ideen tolerieren, welche sich von den eige­nen Ideen kaum unter­schei­den. Eigentlich ist es in solchen Sit­u­a­tio­nen sinn­los, von Tol­er­anz zu sprechen. Tol­er­anz impliziert nicht nur Unter­schiede, son­dern auch Belas­tung und Span­nung auf­grund dieser Unter­schiede. Wir messen die Stärke von Met­allen, indem wir unter­suchen, wie sie Belas­tun­gen wie z.B. Vibra­tion, Hitze und Kälte tolerieren. Genau­so kann unser Mass an Tol­er­anz an der entste­hen­den Span­nung durch konkur­ri­erende religiöse Behaup­tun­gen gemessen wer­den. Wir tolerieren uns gegen­seit­ig wahrhaftig, wenn unsere gegen­sät­zlichen Behaup­tun­gen Span­nung aus­lösen. Ver­schiedene religiöse Glaubenssätze brin­gen uns dazu, unsere eige­nen Glaubenssätze zu testen. Das ist wahre Tol­er­anz. Und Tol­er­anz kann zu Klarheit führen. Abdu Mur­ray, Sav­ing Truth, Kin­dle Posi­tion 196 — eigene Übersetzung

Meinen eige­nen Stand­punkt zu ken­nen bedeutet dabei nicht, dass ich starrsin­nig darauf beste­he und keine andere Mei­n­ung gel­ten lasse — das wäre die Def­i­n­i­tion von Intol­er­anz. Genau­so wenig gilt aber, dass Tol­er­anz bedeutet, meinen Stand­punkt aufzugeben.


Pho­to by Ben­jamin Lam­bert / Unsplash

Toleranz führt in den Dialog

Tol­er­anz bedeutet, meinen Stand­punkt und meine Gren­zen zu ken­nen, und diese im uner­müdlichen, respek­tvollen, wertschätzen­den Dia­log zu testen und zu schär­fen. Und ja, manch­mal bedeutet dies auch, meinen Stand­punkt zu ver­schieben oder meine Gren­zen weit­er oder enger zu fassen. Nicht, weil irgend­je­mand einen anderen Stand­punkt hat und ich diesen ja als genau­so richtig wie meinen akzep­tieren muss. Son­dern, weil ich durch eine sorgfältige Auseinan­der­set­zung und einen respek­tvollen Dia­log überzeugt wurde.

Tol­er­anz ohne Stand­punkt endet hinge­gen in Indif­ferenz und Rat­losigkeit. Um noch ein­mal Mur­ray zu zitieren:

Die Homogenisierung von religiösen Glaubenssätzen führt nicht zu Tol­er­anz, son­dern zu Indif­ferenz. Alle Reli­gio­nen zusam­men­zu­mis­chen resul­tiert im far­blosen Matsch, den ein Kind erzeugt, welch­es all seine Wasser­far­ben zusam­men­mis­cht. Abdu Mur­ray, Sav­ing Truth, Kin­dle Posi­tion 196 — eigene Übersetzung

Dies gilt für den von Mur­ray ange­sproch­enen Mix der Reli­gio­nen genau­so wie für die Ausweitung des Begriffs „Chris­ten­tum“ auf alle möglichen säku­laren, pan­the­is­tis­chen oder anderen Strömungen.

Wir haben uns nun dem Begriff der Tol­er­anz genähert, welchen Tim Keller meint, wenn er schreibt:

Tole­ranz bedeu­tet nicht, dass du dei­ne Ansich­ten rela­ti­vierst und dazu ver­pflich­tet bist, der ande­ren Per­son zu sagen: “Du liegst nicht falsch”, oder “Du liegst teil­wei­se rich­tig”. Ich kann sehr wohl sagen: “Du liegst völ­lig falsch und dei­ne Ansich­ten sind ent­setz­lich, bös­ar­tig und belei­di­gend”, und trotz­dem tole­rant sein. Du zeigst Mit­ge­fühl, weil du ver­stan­den hast, dass die­se Per­son ein Geschöpf Got­tes ist und nicht nur eine Schach­fi­gur oder jemand, den du benut­zen oder auf dem du her­um tram­peln kannst. Mein Gegen­über ist eine Per­son mit Wert und Wür­de. Mei­ne Ein­sicht dar­über, dass Gott uns alle erschaf­fen hat, zeigt sich dar­in, dass ich sie lie­be, auch wenn sie völ­lig falsch liegt. Timo­thy Kel­ler, Chri­sti­an Post – eige­ne Übersetzung

Der Kern der Tol­er­anz liegt also nicht in der Akzep­tanz der anderen Posi­tion, son­dern in der Liebe, Annahme und Wertschätzung des Gegenübers als Geschöpf Gottes. Ich drücke tiefe Akzep­tanz aus für die Per­son und gle­ichzeit­ig meine — möglicher­weise fun­da­men­tal­en — Frageze­ichen bezüglich ihrer Posi­tion, ihrer Mei­n­ung, ihrem Han­deln. Ich begeg­ne meinem Gegenüber mit Liebe, und ger­ade darum lasse ich die Span­nun­gen und Dif­feren­zen nicht unthe­ma­tisiert. Ist mir jemand gle­ichgültig, so kann ich Dif­feren­zen prob­lem­los links liegen lassen. Liegt mir jedoch jemand am Herzen, so nehme ich die Müh­sahl eines wertschätzen­den Dialogs über unsere Dif­feren­zen auf mich.

Pho­to by Aman­da San­dlin / Unsplash

Wie Toleranz sich in unseren Begegnungen auswirkt

Und damit kom­men wir zum Punkt, warum diese Tol­er­anz im heuti­gen gesellschaftlichen Kon­text für die Verkündi­gung des Evan­geli­ums unab­d­ing­bar ist. Denn nur wer sein Gegenüber als geschaf­fe­nen Men­schen mit intrin­sis­ch­er, unan­tast­bar­er Würde sieht, wird ihm trotz aller inhaltlich­er und moralis­ch­er Dif­feren­zen mit ein­er gewin­nen­den, offe­nen Hal­tung begeg­nen kön­nen. Die ver­schiede­nen Ansicht­en wer­den offen the­ma­tisiert und kon­fron­tiert. Die inhaltliche Span­nung wird von der per­sön­lichen Wertschätzung getra­gen. In diesem Kli­ma entste­ht Dia­log, Aus­tausch und — wie Mur­ray deut­lich macht — Klarheit.

Tol­er­anz ist nicht gle­ichbe­deu­tend mit Gle­ichgültigkeit. Im Gegen­teil. Ein tol­er­an­ter Men­sch kann gle­ichzeit­ig um das Herz des Gegenübers eifern, es zu gewin­nen ver­suchen. Der kür­zlich ver­stor­bene Apolo­get Ravi Zacharias hat es tre­f­fend auf den Punkt gebracht, als er sagte:

Die Rolle des Apolo­geten ist es, die Per­son zu gewin­nen und nicht die Diskus­sion. Ravi Zacharias — eigene Übersetzung

Ist diese Sicht erst ein­mal geöffnet, find­en wir in der Bibel und in der Kirchengeschichte eine ganze Menge Beispiele von dieser gelebten, lieben­den und gle­ichzeit­ig kon­fron­tieren­den Toleranz:

  • In sein­er Begeg­nung mit ein­er ertappten Ehe­brecherin (Joh. 8, 1–11) liest Jesus der Frau nicht etwa die Leviten. Er ret­tet sie vor dem sicheren Tod und kon­fron­tiert zuerst ein­mal die schein­heilige Elite mit ihrer eige­nen Sünde. Doch auch die Ehe­brecherin wird von ihrem Ret­ter nicht mit Samthand­schuhen ange­fasst: Er drückt ihr zwar seine Tol­er­anz expliz­it aus (“Ich verurteile dich nicht.”), nur um dann aber sogle­ich seine Ein­schätzung ihrer sündi­gen Lebensweise nachzuschieben: “Du kannst gehen, aber sündi­ge nun nicht mehr!”. Die Sünde wird beim Namen genan­nt, doch umfasst von Hand­lun­gen und Worten, welche höch­ste Wertschätzung für das Leben der Frau ausdrücken.
  • All­ge­mein ist bekan­nt, dass Jesus bei der Auswahl sein­er Gesellschaft nicht zim­per­lich war und dur­chaus mit den “Out­laws” der dama­li­gen Gesellschaft verkehrte. Kor­rupte Zöll­ner, Pros­ti­tu­ierte und Zeloten — nicht ger­ade die erwartete Entourage des von Gott gesandten Königs. Eine wun­der­schöne For­mulierung seines Tol­er­anzver­ständ­niss­es gibt Jesus in sein­er berühmten Aus­sage: “Nicht die Starken bedür­fen des Arztes, son­dern die Kranken. […] Ich bin nicht gekom­men, Gerechte zu rufen, son­dern Sün­der.” (Mt. 9, 12 — 14) Auch hier wird die Sünde nicht unter den Tep­pich gewis­cht, son­dern in ein­er Atmo­sphäre von Liebe und Wertschätzung benannt.
  • Auch bei der Begeg­nung mit der samar­i­tanis­chen Frau am Brun­nen (Joh. 4) nimmt Jesus kein Blatt vor den Mund. Ja, das eigentliche Zeug­nis der Frau, welch­es die Ein­wohn­er ihrer Stadt in Scharen anzog, lautete schlicht und ein­fach: “Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe.” (Joh. 4, 39) Doch auch hier geht es Jesus offen­sichtlich um das Herz der Frau und nicht um die Blossstel­lung ihrer Sünde — Tol­er­anz in obigem Sinne.
  • Auch der Auftritt von Paulus auf dem Athen­er Are­opag (Apg. 17) lässt sich durch diese Brille betra­cht­en. Paulus “toleriert” den religiösen Ansatz der Athen­er, bringt ihnen hohen Respekt und Wertschätzung ent­ge­gen. Er for­muliert aber auch unmissver­ständlich, wo die Athen­er aus der Sicht des Evan­geli­ums blind sind — auf dem Are­opag von der Aufer­ste­hung der Toten zu sprechen, war ziem­lich uner­hört. Entsprechend ern­tete Paulus zwar von den einen Spott, doch andere Herzen kon­nte er gewin­nen. (Apg. 17, 32–34)
  • Die durch die Goten ent­führten Sklaven-Chris­ten im 4. Jh. ord­neten sich ihren neuen Her­ren gewalt­los unter und liebten ihre Peiniger. Gle­ichzeit­ig gin­gen sie den Weg mit Jesus klar und tapfer weit­er, “sodass sie”, wie Erich Schne­pel beschreibt, “ihre gotis­chen Her­ren inner­lich eroberten”. Sie wertschätzten ihre Ent­führer und blieben gle­ichzeit­ig klar und treu im Glauben an Chris­tus, was nach und nach die Herzen ihres Umfelds gewann.

Aus all diesen Beispie­len lassen sich einige Merk­male ein­er von Tol­er­anz geprägten Evan­geli­ums-Begeg­nung destillieren:

  • Das Gespräch ist geprägt von echtem Inter­esse und ein­er grossen Wertschätzung für das Gegenüber, seine Geschichte und seinen Standpunkt.
  • Als Aus­gangspunkt dienen gemein­same Überzeu­gun­gen und Ansicht­en. Ich bin überzeugt, dass sich diese basierend auf ein­er offe­nen Hal­tung zu jedem Men­schen find­en lassen.
  • Unter­schiede in der Welt­sicht wer­den in der Folge offen the­ma­tisiert. Die bib­lis­che Sicht des eigentlichen Prob­lems der Men­schheit — genan­nt Sünde — wird klar und dem Kon­text entsprechend for­muliert. Der Ton und die Art der Kon­fronta­tion bleibt aber immer geprägt von Wertschätzung und Respekt.

Diese tol­er­ante Hal­tung lässt sich nicht ein­fach so pro­duzieren. Sie ist im Inner­sten gewirkt durch den Heili­gen Geist. Durch das Bewusst­sein, dass ich mich auch selb­st auf einem Weg befinde, die Wahrheit nicht ein­fach gepachtet habe und täglich Erlö­sung benötige. Oft wird es zudem nicht möglich sein, all diese Aspek­te in ein einziges Gespräch, eine einzige Begeg­nung einzu­pack­en. Es ist also Demut gefordert. Und Geduld. Mehr dazu in den fol­gen­den Artikeln von Paul Brud­er­er und Emanuel Hun­zik­er.

Pho­to by Sabri Tuzcu / Unsplash

Eine hohe Messlatte

Ich selb­st bin zutief­st her­aus­ge­fordert von dieser Forderung nach Tol­er­anz, Demut und Geduld. Noch viel zu oft ent­decke ich mich in der Rolle des Morala­pos­tels, der sich in erster Lin­ie um seine eigene Gerechtigkeit sorgt und lieber die Diskus­sion gewin­nt als das Herz eines Men­schen. Ersteres ist oft ein­fach­er. Und in ein­er Gesellschaft, in welch­er die Kirche ein Monopol auf die Def­i­n­i­tion von Gut und Böse hätte, wäre es nicht schw­er, die eigene Selb­st­gerechtigkeit in ein beein­druck­endes Män­telchen von “heiligem Eifer und hingegeben­er Lei­den­schaft” zu verpacken.

Doch wir leben nicht in ein­er solchen Gesellschaft. Das Chris­ten­tum und die Kirche wer­den als eine mögliche Option unter ein­er Vielzahl von mehr oder weniger gle­ich­berechtigten Ansätzen ange­se­hen. Darin tol­er­ant zu sein bedeutet, sich wed­er trotzig auf die Insel sein­er eige­nen Welt­sicht zurück­zuziehen, noch die eigene Posi­tion aufzugeben und sich in ein­er Wolke von Indif­ferenz und Gle­ichgültigkeit aufzulösen. Wenn alles gle­ich gültig ist, wird am Ende alles gle­ichgültig sein. Wenn ich im Elfen­bein­turm mein­er Selb­st­gerechtigkeit ver­harre, wird am Ende alles ver­härtet sein. Kein­er der bei­den Ansätze zeugt von Liebe für meine Mit­men­schen. Kein­er der bei­den Ansätze mün­det in der gewin­nen­den Verkündi­gung des Evangeliums.

Für die treue Erfül­lung meines per­sön­lichen Mis­sion­sauf­trags bin ich zutief­st abhängig von Gottes Gnade. Nur Er hat es in der Hand, in mir diese gewin­nende, wertschätzende Hal­tung der Tol­er­anz zu for­men. Diese Hal­tung, die ich mir selb­st und auch dir von ganzem Herzen wünsche.

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Josua Hunziker

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Kommentare zu diesen Beitrag

3 Comments

  1. Silas Wohler

    Danke für die wertvollen Gedanken. Plu­ral­is­mus schaut von aussen tol­er­ant aus, doch im Innern ist er intol­er­ant (every­thing goes). Das Chris­ten­tum sieht von Aussen intol­er­ant aus, doch im Innern ist es tol­er­ant. Im Zen­trum des christlichen Glaubens ste­ht schliesslich ein Gott, der bere­it ist aus lauter Liebe am Kreuz für Men­schen zu ster­ben, die ihn ihn ablehnen und verurteilen. Diesem Beispiel gilt es für Chrsiten nachzueifern.

    Reply
    • Josua Hunziker

      Vie­len Dank Silas für diese tre­f­fende Ergänzung!

      Reply

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