Entrüstung, Empörung, Wut und Protest werden aktuell als berechtigte Äusserung gegen Ungerechtigkeit gesehen. Es scheint auch legitim zu sein, Menschen, die eine andere Meinung vertreten, niederzuschreien, vom Socialmedia Profil zu blockieren oder anderswie zu ‘canceln’. Religiöse Debatten zwischen Vertretern unterschiedlicher Weltanschauung, aber auch innerhalb einer Religion wüten mit gleichen Mechanismen und ähnlichem Ton. Gute inhaltliche Diskussionen scheinen kaum mehr möglich. Der öffentliche Diskurs steht vielerorts in Flammen. Nur eine Jesus-mässige Art des Gesprächs führt uns da wieder heraus.
Emanuel Hunziker hat die Frage aufgeworfen, wie wir in der heutigen Zeit effektiv über Jesus reden. Jesus interagierte mit Menschen anderer religiöser Meinung. Er äusserte sich zu Ungerechtigkeit, und wurde ultimativ ‘gecancelt’ indem er unschuldig verurteilt und hingerichtet wurde. Ein raues Umfeld also! Was können wir von Jesu für den Umgang mit Menschen, die ein anderes Gedankengut haben und mitunter aggressiv auftreten, lernen?
Die Jesus-Variante von Demut
Obschon Jesus immer wieder über sich als Person, seine Überzeugungen und seinen Auftrag spricht, öffnet er an einem Ort ganz speziell sein Herz, um das Innere seiner Seele zu zeigen:
Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig (Mt 11:29)
Demut und Sanftmut definieren das Innenleben und Wesen von Jesus und damit auch seinen Umgang mit Menschen. Jesu Zugang zu Menschen war tatsächlich immer wieder von unglaublicher Sanftheit und Feingefühl geprägt. Seine Begegnung mit der Ehebrecherin (Joh 8:10–11) sticht heraus, oder seine Trauer über Jerusalem (Mt 23:37).. Es fällt uns nicht schwer, in solchen Stellen einen demütigen und sanftmütigen Jesus zu sehen.
Wenn wir die Worte ‘Demut’ und ‘Sanftmut’ hören, verbinden wir damit Ideen, wie ein solches Verhalten aussieht. Demütig und sanftmütig sein heisst, die eigene Meinung in den Hintergrund treten zu lassen, konturlos bleiben — denken viele. Sanftmütig sein mit Menschen anderer Überzeugung bedeutet keinerlei Konfrontation einzugehen mit der anderen Person — nicht zu widersprechen.
Wirklich? Wenn Demut und Sanftmut das Leben von Jesus definierten: War Jesus auch in folgenden Situationen demütig und sanftmütig?
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! (Mt 23:23)
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen hübsch scheinen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat! So auch ihr: Von außen scheint ihr vor den Menschen gerecht, aber innen seid ihr voller Heuchelei und missachtet das Gesetz. (Mt 23:27–28)
Kommt hier Demut und Sanftmut zum Ausdruck? Darf Jesus, der Sohn Gottes, die Demut in Person, so mit Menschen umgehen? Es gibt viele Beispiele in denen wir sehen, wie Jesus Menschen widerspricht. Er konfrontiert und korrigiert. Manchmal reagiert er sogar mit Zorn. Wenn Sanftmut und Demut das Wesen von Jesus definieren, dann müssen auch solche Handlungen Jesu von seiner Demut geprägt sein. Könnte es sein, dass wir mit unserem Verständnis von Demut daneben liegen?
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Wissen, wer ich bin
Demütig sein heisst annehmen, wer ich wirklich bin und dem entsprechend handeln. Jesus wusste um seine Identität als Sohn Gottes. Er lebte, sprach und handelte dieser Identität und dem damit verbundenen Auftrag entsprechend. Alles andere wäre mangelnde Demut gewesen, oder mit anderen Worten: Stolz.
Ich kenne Menschen, die das Potential haben zu so viel mehr, als sie ausleben. Ein Freund von mir hat die Begabung zum Leiter einer Kirche, will aber lieber nur die Gottesdienste besuchen. Das ist sein gutes Recht. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er den bequemen Weg wählt mit der Ausrede, andere könnten es besser. Das ist falsche Demut, das ist Stolz.
Manchmal braucht ein Dorf einen neuen Gemeinde-Ammann, oder eine Stadt einen neuen Stadtpräsidenten. Leute mit den entsprechenden Fähigkeiten ziehen sich ‘demütig’ zurück. Aber die Gesellschaft bräuchte ihre real vorhandenen Fähigkeiten der Leiterschaft.
Das ist falsche Demut, das ist Stolz: weniger tun wollen, als wozu wir eigentlich berufen wären.
Selbstverständlich gibt es das Umgekehrte, wenn Menschen sich überschätzen, zuviel von sich selbst halten. Dieses Szenario verbinden wir eher mit Stolz, und das ist es auch.
Jesus war demütig. Er anerkannte seine Identität und lebte dieser entsprechend. Er war der Sohn Gottes und hatte einen dem entsprechenden Auftrag. Deshalb sehen wir ihn manchmal mit sanftem Feingefühl agieren. Seine Identität und sein Auftrag forderten dieses Verhalten. Andere Male konfrontierte, korrigierte und widersprach er, weil das zu seiner Identität und seinem Auftrag gehörte. Auch wenn Jesus konfrontiert und widerspricht, ist er demütig. Wenn wir Konfrontation und Widerspruch sehen, dürfen wir nicht daraus schliessen, dass Stolz oder Arroganz vorhanden sind. Manchmal sollten wir konfrontieren und widersprechen, gerade weil wir demütig sind.
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Demütiger Umgang mit anders Denkenden
Demut sollte ein wesentlicher Aspekt des Umgangs von Christen mit Menschen anderer Überzeugungen sein. Ich empfinde es als wichtig zu verstehen, welche Art von Demut damit gemeint ist.
Als Christen müssen wir nicht ‘kuschen’. Wir sollten uns nicht in falscher Demut selbst aus dem Diskurs nehmen. Wir dürfen realisieren, wer wir sind und dem entsprechend mit Menschen anderer Überzeugung kommunizieren. Demut heisst zuhören, versuchen zu verstehen . Demut bedeutet in sanfter Weise eine andere Meinung äussern. Demut konfrontiert auch und versucht das Gegenüber zu korrigieren. Sie tut dies respektvoll, nicht auf manipulative Weise. Niemals konfrontieren, widersprechen oder zu korrigieren versuchen ist nicht Demut, sondern meistens eher Stolz oder Feigheit.
Als Christen treten wir in einem Umfeld voller Entrüstung, Empörung, Wut und Protest auf. Wir sollten uns auszeichnen durch etwas, das anders ist als die Art unseres Umfeldes. Dieses ‘anders’ sollte dasselbe sein, wie das, was Jesus auszeichnete. Wir sollten daran erkannt werden, dass wir seine Demut, Toleranz und Geduld leben. Wir tun das, weil wir wissen, zu wem er uns gemacht hat und was sein Auftrag an uns ist. Deshalb nehmen wir uns Zeit mit den Menschen. Wir hören zu und versuchen zu verstehen. Wir ermutigen, zeigen unser Einverständnis wo wirkliches Einverständnis vorhanden ist. Aber wir widersprechen manchmal auch, konfrontieren, versuchen zu korrigieren. Wenn wir das tun, fallen wir nicht aus der Demut in den Stolz, sondern gerade weil wir demütig sind, gerade weil wir lieben, tun wir diese Dinge. Die Alternative ist Gleichgültigkeit, und das ist für uns keine Option.
Deshalb liebe Christen, lasst uns die Jesus-Art von Demut leben und uns so unseren Mitmenschen verschenken, selbst wenn sie aggressiv agieren, unfair, manipulierend, herablassend und entrüstet.
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