Demut

Lesezeit: 4 Minuten
Lesezeit: 4 Minuten

by Paul Bruderer | 28. Jun. 2020 | 0 comments

Entrüs­tung, Empörung, Wut und Protest wer­den aktuell als berechtigte Äusserung gegen Ungerechtigkeit gese­hen. Es scheint auch legit­im zu sein, Men­schen, die eine andere Mei­n­ung vertreten, niederzuschreien, vom Social­me­dia Pro­fil zu block­ieren oder ander­swie zu ‘can­celn’. Religiöse Debat­ten zwis­chen Vertretern unter­schiedlich­er Weltan­schau­ung, aber auch inner­halb ein­er Reli­gion wüten mit gle­ichen Mech­a­nis­men und ähn­lichem Ton. Gute inhaltliche Diskus­sio­nen scheinen kaum mehr möglich. Der öffentliche Diskurs ste­ht vielerorts in Flam­men. Nur eine Jesus-mäs­sige Art des Gesprächs führt uns da wieder heraus.

Ema­nu­el Hun­zi­ker hat die Fra­ge auf­ge­wor­fen, wie wir in der heu­ti­gen Zeit effek­tiv über Jesus reden. Jesus inter­agierte mit Men­schen ander­er religiös­er Mei­n­ung. Er äusserte sich zu Ungerechtigkeit, und wurde ulti­ma­tiv ‘gecan­celt’ indem er unschuldig verurteilt und hin­gerichtet wurde. Ein raues Umfeld also! Was kön­nen wir von Jesu für den Umgang mit Men­schen, die ein anderes Gedankengut haben und mitunter aggres­siv auftreten, lernen?

Die Jesus-Variante von Demut

Obschon Jesus immer wieder über sich als Per­son, seine Überzeu­gun­gen und seinen Auf­trag spricht, öffnet er an einem Ort ganz speziell sein Herz, um das Innere sein­er Seele zu zeigen:

Ich bin san­ft­mütig und von Herzen demütig (Mt 11:29)

Demut und San­ft­mut definieren das Innen­leben und Wesen von Jesus und damit auch seinen Umgang mit Men­schen. Jesu Zugang zu Men­schen war tat­säch­lich immer wieder von unglaublich­er San­ftheit und Feinge­fühl geprägt. Seine Begeg­nung mit der Ehe­brecherin (Joh 8:10–11) sticht her­aus, oder seine Trauer über Jerusalem (Mt 23:37).. Es fällt uns nicht schw­er, in solchen Stellen einen demüti­gen und san­ft­müti­gen Jesus zu sehen.

Wenn wir die Worte ‘Demut’ und ‘San­ft­mut’ hören, verbinden wir damit Ideen, wie ein solch­es Ver­hal­ten aussieht. Demütig und san­ft­mütig sein heisst, die eigene Mei­n­ung in den Hin­ter­grund treten zu lassen, kon­tur­los bleiben — denken viele. San­ft­mütig sein mit Men­schen ander­er Überzeu­gung bedeutet kein­er­lei Kon­fronta­tion einzuge­hen mit der anderen Per­son — nicht zu widersprechen.

Wirk­lich? Wenn Demut und San­ft­mut das Leben von Jesus definierten: War Jesus auch in fol­gen­den Sit­u­a­tio­nen demütig und sanftmütig?

Weh euch, Schrift­gelehrte und Phar­isäer, ihr Heuch­ler, die ihr den Zehn­ten gebt von Minze, Dill und Küm­mel und lasst das Wichtig­ste im Gesetz bei­seite, näm­lich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! (Mt 23:23)

Weh euch, Schrift­gelehrte und Phar­isäer, ihr Heuch­ler, die ihr seid wie die übertüncht­en Gräber, die von außen hüb­sch scheinen, aber innen sind sie voller Totenge­beine und lauter Unrat! So auch ihr: Von außen scheint ihr vor den Men­schen gerecht, aber innen seid ihr voller Heuchelei und mis­sachtet das Gesetz. (Mt 23:27–28)

Kommt hier Demut und San­ft­mut zum Aus­druck? Darf Jesus, der Sohn Gottes, die Demut in Per­son, so mit Men­schen umge­hen? Es gibt viele Beispiele in denen wir sehen, wie Jesus Men­schen wider­spricht. Er kon­fron­tiert und kor­rigiert. Manch­mal reagiert er sog­ar mit Zorn. Wenn San­ft­mut und Demut das Wesen von Jesus definieren, dann müssen auch solche Hand­lun­gen Jesu von sein­er Demut geprägt sein. Kön­nte es sein, dass wir mit unserem Ver­ständ­nis von Demut daneben liegen?


Pho­to by Tom­my van Kessel on Unsplash

Wissen, wer ich bin

Demütig sein heisst annehmen, wer ich wirk­lich bin und dem entsprechend han­deln. Jesus wusste um seine Iden­tität als Sohn Gottes. Er lebte, sprach und han­delte dieser Iden­tität und dem damit ver­bun­de­nen Auf­trag entsprechend. Alles andere wäre man­gel­nde Demut gewe­sen, oder mit anderen Worten: Stolz.

Ich kenne Men­schen, die das Poten­tial haben zu so viel mehr, als sie ausleben. Ein Fre­und von mir hat die Begabung zum Leit­er ein­er Kirche, will aber lieber nur die Gottes­di­en­ste besuchen. Das ist sein gutes Recht. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er den beque­men Weg wählt mit der Ausrede, andere kön­nten es bess­er. Das ist falsche Demut, das ist Stolz.

Manch­mal braucht ein Dorf einen neuen Gemeinde-Ammann, oder eine Stadt einen neuen Stadt­präsi­den­ten. Leute mit den entsprechen­den Fähigkeit­en ziehen sich ‘demütig’ zurück. Aber die Gesellschaft bräuchte ihre real vorhan­de­nen Fähigkeit­en der Leiterschaft.

Das ist falsche Demut, das ist Stolz: weniger tun wollen, als wozu wir eigentlich berufen wären.

Selb­stver­ständlich gibt es das Umgekehrte, wenn Men­schen sich über­schätzen, zuviel von sich selb­st hal­ten. Dieses Szenario verbinden wir eher mit Stolz, und das ist es auch.

Jesus war demütig. Er anerkan­nte seine Iden­tität und lebte dieser entsprechend. Er war der Sohn Gottes und hat­te einen dem entsprechen­den Auf­trag. Deshalb sehen wir ihn manch­mal mit san­ftem Feinge­fühl agieren. Seine Iden­tität und sein Auf­trag forderten dieses Ver­hal­ten. Andere Male kon­fron­tierte, kor­rigierte und wider­sprach er, weil das zu sein­er Iden­tität und seinem Auf­trag gehörte. Auch wenn Jesus kon­fron­tiert und wider­spricht, ist er demütig. Wenn wir Kon­fronta­tion und Wider­spruch sehen, dür­fen wir nicht daraus schliessen, dass Stolz oder Arro­ganz vorhan­den sind. Manch­mal soll­ten wir kon­fron­tieren und wider­sprechen, ger­ade weil wir demütig sind.


Pho­to by Eli­jah O’Don­nell on Unsplash

Demütiger Umgang mit anders Denkenden

Demut sollte ein wesentlich­er Aspekt des Umgangs von Chris­ten mit Men­schen ander­er Überzeu­gun­gen sein. Ich empfinde es als wichtig zu ver­ste­hen, welche Art von Demut damit gemeint ist.

Als Chris­ten müssen wir nicht ‘kuschen’. Wir soll­ten uns nicht in falsch­er Demut selb­st aus dem Diskurs nehmen. Wir dür­fen real­isieren, wer wir sind und dem entsprechend mit Men­schen ander­er Überzeu­gung kom­mu­nizieren. Demut heisst zuhören, ver­suchen zu ver­ste­hen . Demut bedeutet in san­fter Weise eine andere Mei­n­ung äussern. Demut kon­fron­tiert auch und ver­sucht das Gegenüber zu kor­rigieren. Sie tut dies respek­tvoll, nicht auf manip­u­la­tive Weise. Niemals kon­fron­tieren, wider­sprechen oder zu kor­rigieren ver­suchen ist nicht Demut, son­dern meis­tens eher Stolz oder Feigheit.

Als Chris­ten treten wir in einem Umfeld voller Entrüs­tung, Empörung, Wut und Protest auf. Wir soll­ten uns ausze­ich­nen durch etwas, das anders ist als die Art unseres Umfeldes. Dieses ‘anders’ sollte das­selbe sein, wie das, was Jesus ausze­ich­nete. Wir soll­ten daran erkan­nt wer­den, dass wir seine Demut, Tol­er­anz und Geduld leben. Wir tun das, weil wir wis­sen, zu wem er uns gemacht hat und was sein Auf­trag an uns ist. Deshalb nehmen wir uns Zeit mit den Men­schen. Wir hören zu und ver­suchen zu ver­ste­hen. Wir ermuti­gen, zeigen unser Ein­ver­ständ­nis wo wirk­lich­es Ein­ver­ständ­nis vorhan­den ist. Aber wir wider­sprechen manch­mal auch, kon­fron­tieren, ver­suchen zu kor­rigieren. Wenn wir das tun, fall­en wir nicht aus der Demut in den Stolz, son­dern ger­ade weil wir demütig sind, ger­ade weil wir lieben, tun wir diese Dinge. Die Alter­na­tive ist Gle­ichgültigkeit, und das ist für uns keine Option.

Deshalb liebe Chris­ten, lasst uns die Jesus-Art von Demut leben und uns so unseren Mit­men­schen ver­schenken, selb­st wenn sie aggres­siv agieren, unfair, manip­ulierend, her­ablassend und entrüstet.

Artikel als PDF herunterladen

Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

Werde Teil der Diskussion

Kommentare zu diesen Beitrag

0 Comments

Submit a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt weiterstöbern

Mehr Blogposts entdecken

Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 3/10

Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 3/10

Die moderne Bibelwissenschaft In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende....

Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 2/10

Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 2/10

Evangelikales Schriftverständnis In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der...

Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 1/10

Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 1/10

Das Evangelium der Mitte In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das...