Mit grosser Dynamik breitete sich der christliche Glaube in den ersten Jahrhunderten in ganz Europa aus. Dabei hatten Christen markante gesellschaftliche Nachteile und wurden mitunter regelrecht verfolgt. Was machte den Glauben der Christen von damals so überzeugend, dass sich ihnen trotzdem so viele Menschen anschlossen? Was können wir heute davon lernen?
Die Römer nannten die Christen albern, dumm, irrational, einfältig. Boshaft, abscheulich, stur, asozial. Übertrieben, pervers. Trotzdem florierte das Christentum mit seinen neuen und unverkennbaren Merkmalen, die einen geradezu irritierenden Gegensatz zum römischen Denken bildeten. Wie in aller Welt war das möglich? Was waren die Gründe?
Wie kaum eine andere religiöse Gruppierung verweigerten Christen die Anbetung der römischen Götter und entzogen sich dem Kaiserkult, was Verfolgung und Märtyrertum nach sich zog. Die Römer verstanden keinen Spass, wenn es um ihren Kaiser ging. Trotzdem bekannten sich immer mehr Menschen zu dieser neuartigen Sekte, die in den Augen der Römer gar keine richtige Religion darstellte.
Die ersten christlichen Gemeinden waren von einer ganz bestimmten DNA geprägt. Diesen einzigartigen Wesensmerkmalen möchte Daniel Option in den kommenden Wochen mit einer Serie von Artikeln nachspüren. Denn dieselbe DNA, welche die damaligen Christen entgegen jeder rationalen Prognose zu einer weltverändernden Bewegung machte, könnte auch ein Schlüssel für uns Christen von heute sein.
Nicht nur Menschen, Pflanzen und Tiere haben ihre einzigartige DNA, sondern auch Organisationen und Institutionen. So auch die Gemeinde von Jesus. In diesem Sinne ist unsere DNA das, was uns im Kern ausmacht. Sie beschreibt nicht nur, WAS und WIE wir etwas tun, sondern auch WARUM.
Was für Wesensmerkmale soll die Gemeinde von Jesus Christus heute leben, dass sie unsere westliche Welt nochmals mit der Liebe von Jesus berühren und mit dem Evangelium erreichen kann? Mit diesem ersten Artikel möchte ich eine Auslegeordnung machen und dich einladen, mitzukommen auf eine gemeinsame Entdeckungsreise!
Das Christentum — eine Nicht-Religion
Warum sahen die Römer das Christentum nicht als ‘richtige’ Religion an? Ganz einfach: Die Christen hatten keine Tempel, keine Priester und brachten keine Opfer, denn Jesus selbst war für sie der letzte Tempel (Joh 2:19–21), der letzte (Hohe-) Priester (Heb 4:14) und das letzte Opfer (Heb 10:10). Infolgedessen — so glaubten die Christen — wird jeder Mensch, der an diesen Jesus glaubt, zu einem Priester (1. Petr 2:9), der Gott sein ganzes Leben opfert (Röm 12:1) und dessen Körper zu einem Tempel des Heiligen Geistes wird. (1. Kor 6:19)
Der bekannte Pastor und Buchautor Timothy Keller schreibt:
So etwas hatte damals noch nie jemand gehört. Deshalb nannten sie die Römer ‘Atheisten’, weil das, was die Christen über die geistliche Wirklichkeit sagten, einzigartig war und sich in keine der anderen Weltreligionen einordnen ließ … Uns fällt es heute schwer, uns das klarzumachen, aber als das Christentum erstmals auf den Plan trat, wurde es nicht als eine Religion bezeichnet. Es war die Nicht-Religion. Timothy Keller ‘Bedingungslos geliebt’
Der christliche Glaube bot zudem eine ganz neue Art von Identität, die nicht auf Rasse oder Ethnie beruhte. Dies war für die damalige Zeit unverständlich, denn damals hatte jeder Stamm und jedes Volk seine eigenen Götter. Religion und ethnische Zugehörigkeit verstärkten damals die Mauern zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Doch der christliche Glaube sprengte dieses System total! (Gal 3:28; Kol 3:11)
Weiter war das Christentum unverkennbar eine Text-Religion (a ‘bookish’ religion, eine ‘buchige’ Religion), welche das Produzieren, Abschreiben, Verbreiten und Lesen von Texten als zentral ansah. Die ersten Christen bevorzugten sogar eine Buchform, den Kodex.
Und schliesslich: Ganz anders als die durch einfache Teilnahme an rituellen Bräuchen gekennzeichneten heidnisch-religiösen Glaubensformen forderte der christliche Glaube mit seinen neuen und ungewöhnlichen ethischen Forderungen von seinen Anhängern eine Verhaltensänderung.
Für die Römer war das Christentum neu und anders und es bedrohte die sozialen und religiösen Konventionen jener Zeit. Die Christen ernteten für ihren Ruf als Atheisten (man stelle sich das einmal vor!) und Staatsfeinde von den Römern Verachtung und Argwohn. Die Ironie der Geschichte zeigt sich darin, dass die Merkmale der frühen Christenheit, welche sie in den Augen der Römer so unverwechselbar und störend machten, den Niedergang des römischen Reiches überdauerten und die westliche Kultur bis heute prägen:
Für die meisten Leute in unserer Gesellschaft ist das Christentum gleichbedeutend mit Religion und Moralismus. Die einzige Alternative dazu (abgesehen von irgendeiner anderen Weltreligion) ist der säkulare Pluralismus. Doch am Anfang war das nicht so. Das Christentum wurde als ein ‘tertium quid’ – ‘ein drittes Etwas’ – gesehen, als etwas völlig Andersartiges, das weder in die eine noch in die andere Kategorie passte. – Zitat, Timothy Keller ‘Bedingungslos geliebt’
Attraktiv — trotz Verfolgung
Warum traten in der römischen Welt eine zunehmende Anzahl Menschen zum christlichen Glauben über, trotz der Tatsache, dass eine Zugehörigkeit zu den Christen markante soziale Nachteile mit sich bringen konnte?
Timothy Keller fasst in einem grossartigen Artikel die Erkenntnisse von Larry Hurtado zusammen. Dieser führt die Zunahme der Anhänger des Christentums trotz Verfolgung auf die einzigartige Lebensweise der christlichen Gemeinschaft zurück, die den sozialen Normen ihrer Zeit trotzte. Diese Lebensweise war durch fünf Wesensmerkmale geprägt, die zusammen ein unzertrennbares Ganzes bilden:
- Multi-kulturell: In den Gemeinden lebten Menschen verschiedenster ethnischer Hintergründe zusammen
- Sozial: Sie kümmerten sich mit grossem Engagement um Arme und Randständige
- Gewaltlos: Sie suchten Vergebung statt Vergeltung
- Schutz des Lebens: Sie waren vehement und ganz praktisch gegen Abtreibung und Kindstötung
- Alternative Sexualethik: Ihre Sexualethik war revolutionär anders als die Sexualethik der römischen Kultur
Diese fünf aktiv gelebten, ethischen Werte der Christen waren für die römische Gesellschaft anstössig aber gleichzeitig auch anziehend. Doch entsprang diese Lebensweise nicht etwa einer scharfsinnig kalkulierten Evangelisations-Strategie mit dem Ziel, möglichst viele Seelen zu gewinnen. Nein, es war ihr Lebensstil aus Überzeugung. Jedes einzelne Element resultierte aus dem Verlangen der Christen, ihrem Erlöser und Herrn mit ihrem Leben Ehre zu erweisen und sich darum der Autorität der Bibel unterzuordnen.
Sowohl als auch
Interessanterweise lassen sich diese fünf Merkmale nicht einer einzelnen politischen Einstellung zuordnen. Die ersten zwei Kennzeichen (multi-kuturell, sozial) klingen politisch liberal oder links, während die letzten zwei Eigenschaften (Schutz des Lebens, alternative Sexualethik) nach politisch konservativ oder rechts tönen. Das Merkmal der Gewaltlosigkeit lässt sich keinem politischen Lager zuordnen.
Kirchen stehen heute unter enormem Druck, entweder die ersten zwei oder die letzten zwei Elemente aufzugeben, weil ihre Kombination nicht ins Schema unserer Zeit passt. Wenn wir zum Beispiel die als konservativ geltenden Elemente (Schutz des Lebens, alternative Sexualethik) opfern, um ins liberale Schema unserer Zeit zu passen, brächte das zwar ‘Entspannung’, würde aber die Schlagkraft der Kombination aller fünf Elemente entscheidend schwächen. Zudem würde die Kirche dadurch zur Marionette des vorherrschenden Zeitgeistes. Ich glaube, es war von Anfang an Gottes Strategie, seine Kirche in ihrem Wesen so dynamisch und spannungsgeladen zu gestalten, dass sie sich nie in einer Gesellschaftsform — ob liberal oder konservativ geprägt — auflöst oder von ihr verschluckt und für ihre Zwecke missbraucht wird.
Das Motto lautet somit nicht ‘entweder – oder’, sondern ‹sowohl – als auch’, ‘das eine tun, das andere nicht lassen’. Dass die Kirche sich für die eine oder für die andere Seite entscheiden muss, um relevant zu sein, ist ein Trugschluss.
Die Bibel zeichnet weder ein rein liberales noch ein rein konservatives Bild der Kirche, sondern lebt eine dritte Option, die in dieser einzigartigen Kombination lediglich durch das Evangelium zustande kommt und nur aus der Kraft des Heiligen Geistes gelebt werden kann. (Apg 1:8) Der Versuch, diese Spannungsfelder aufzulösen, indem ein oder mehrere Werte aufgegeben werden, endet unweigerlich in der Erstarrung und Kraftlosigkeit der Kirche. Wir sind somit mehr denn je herausgefordert, ALLE diese von Gott gewollten Werte zu begrüssen, sie zu umarmen und sie bewusst und hingebungsvoll auszuleben. Was das im Detail bedeuten kann, ist das Anliegen dieser DNA-Serie.
Ausblick
In den nächsten Wochen werden wir eine Serie von Artikeln zu den fünf Merkmalen veröffentlichen, welche Larry Hurtado als unzertrennliches Ganzes definierend für die ersten Christen sieht. Wir möchten entdecken, wie diese Merkmale das Leben der ersten Christen prägten, und wie sie in unserer Zeit gelebt werden können. Dazu werden wir zusätzliche Wesensmerkmale beschreiben, welche — damals wie heute — entscheidend für die Identität von uns Christen sein müssen.
Flankierend zum vorliegenden Artikel haben wir für Pastoren, Studenten, Strategen und Influencer einige Überlegungen angestellt für eine gute Begegnung mit der nach-christlichen Kultur unserer Zeit.
Anschliessend folgen:
- Ein gewaltloses Leben der Vergebung statt Vergeltung (Paul Bruderer)
- Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens (Josua Hunziker)
- Eine alternative Sexualethik (Paul Bruderer)
- Eine multi-kulturelle Gemeinschaft (Peter Bruderer)
- Soziale Zuwendung zu den Armen und Randständigen (Pascal Götz)
- Nur ein König — Warum sich Christen dem Kaiser-Kult verweigerten (Pascal Götz)
- Unterwegs in der Kraft des Evangeliums (Marcel Eversberg)
- Die Bibel als massgebende Grundlage (Silas Wohler)
Der Abschluss der Serie besteht aus zwei weiteren Leitartikeln:
- Die Dritte Option: Eine Vision für die christliche Gemeinde jenseits von Abschottung und Anpassung (Paul Bruderer)
- Dynamik durch Spannung: Ein Umgang mit Spannungen, der dynamisches Leben weckt (Emanuel Hunziker)
Wir freuen uns auf die Interaktion mit allen Lesern! Lass uns gemeinsam entdecken, wie die Gemeinde Jesu ganz neu ihre gottgegebene DNA in unserer Zeit leben kann.
Warum traten in der römischen Welt eine zunehmende Anzahl Menschen zum christlichen Glauben über, trotz der Tatsache, dass eine Zugehörigkeit zu den Christen markante soziale Nachteile mit sich bringen konnte?
Eine zusätzliche Antwort lautet: Gerade der — im Gegensatz zur römischen Umwelt — sehr wertschätzende Umgang mit den Frauen scheint eine wichtige Rolle gespielt zu haben:
https://www.nebelspalter.ch/die-religion-der-frauen-warum-das-christentum-triumphierte
Genau! Und genauso sollte es auch heute sein.
Vielen Dank! Das Ganze spricht mir sehr aus dem Herzen, und das tut mir gut. Es gibt mir Zuversicht, dass ihr einsteht für das eigentliche Wesen des Christentums statt wie viele euch vom Zeitgeist dazu verführen zu lassen, sich auf dessen ungutes “Entweder oder” einzulassen. Die politischen Auseinandersetzungen sind so gefangen in dieser Antinomie (?) und kommen nicht raus, eben weil dieses Gegensatzpaar nicht die Wahrheit, eben Gottes, abbildet.
Es berührt mich sehr zu lesen, dass “der Lebensstil (…) aus dem Verlangen der Christen, ihrem Erlöser und Herrn mit ihrem Leben Ehre zu erweisen [resultierte]”.
Den Absatz zu lesen tut mir auch deswegen gut, weil ich spüre, wie die Zerrissenheit zwischen diesen vermeintlichen Gegensatzpolen nicht nur den Weg zum Christsein verschleiert, sondern auch den Glauben der Christen angreifen kann oder sie auch polarisiert.…
Gestutzt habe ich lediglich bei der Formulierung:
“Eher von Anfang an Gottes Strategie, seine Kirche in ihrem Wesen so dynamisch und spannungsgeladen zu gestalten, dass sie sich nie in einer Gesellschaftsform — ob liberal oder konservativ geprägt — auflöst oder von ihr verschluckt und für ihre Zwecke missbraucht wird.”
Gestolpert bin ich über den Begriff “Strategie”, weil der für mein Verständnis zum einen impliziert, dass Gott auch eine andere Strategie wählen hätte können, zum anderen, dass seine Motivation “strategisch” war. Meiner tiefen Überzeugung zufolge entsprechen die aufgezählten Punkte (soziales Engagement, Sexualethik, usw.) aber in vollster Hinsicht seinem Wesen bzw. sind die Wahrheit und das alleinige, was lebensfördernd ist! Das bringt mich zu meinem letzten Punkt, nämlich, dass ich aufgrund meines Glaubens gerade deswegen auch überhaupt keine “Spannung” darin erlebe. Die Spannung entsteht, wie von Paulus auch so oft gut dargestellt und sicher auch erlebt, zwischen dem Denken der nicht-christlichen Welt und der Wahrheit Gottes, die aber total dem entspricht, wie wir ticken und was uns am liebevollsten dient. Aber mit den Aussagen trage ich sicher Eulen nach Athen.
Herzlichen Dank nochmal! und weiterhin Gottes Segen!
Danke für die wertvollen Gedanken zum Artikel. Ich habe das Wort Strategie in erster Linie verwendet, um es den menschlichen Strategien gegenüber zu stellen. Sie haben recht, die Werte-Kombination entspringt Gottes Wesen und er würde keine Strategie wählen, die seinem Wesen widerspricht. Auch ihrer Beobachtung bzgl. Spannung als Ausdruck der Inkompatibilität von Gottes Wahrheit und menschlichen Ideologien stimme ich zu. Andererseits ist Spannung ja ein neutrales Wort und wird je nach Kontext als positiv oder negativ empfunden. Nur ein gespannter Bogen kann einen Pfeil in Bewegung setzen. So erlebe ich auch Gott als spannend im Sinne von belebend und vitalisierend. Auch ihnen Gottes reichen Segen!
Hammer! Ich danke dir, Emmanuel, für diesen fundierten Auftakt und freue mich auf mehr!
Danke Regula!