Vor wenigen Tagen hat der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK Geschichte geschrieben durch ein deutliches Ja für die ‘Ehe für alle’. An diese Entscheidung sind Hoffnungen geknüpft, dass wieder mehr Menschen in die Kirchen kommen. Werden sich diese Hoffnungen erfüllen?
Noch am selben Tag der geschichtsträchtigen Entscheidung führt das nationale Schweizer Fernsehen ein Interview mit Carolina Costa, Pfarrerin des Genfer Kirchen-Experiments LeLaB. In ihrem Kirchenprojekt, welches Teil der protestantischen Kirche Genf ist, werden ohne ‘wenn und aber’ Menschen aus dem LGBT-Umfeld in einer geistlichen Gemeinschaft aufgenommen. Der Interviewer will von Costa wissen, ob sie keine Angst vor Mitgliederschwund hat, weil konservative Christen die Kirche nun verlassen könnten. Sie antwortet:
Vielleicht, es ist möglich. Aber ich glaube das Gegenteil, dass wir viele Menschen wiedergewinnen werden… Ich bin überrascht über die Anzahl Personen, die jetzt aus dem Versteck kommen und mir danken. (Carolina Costa, Interview am 5.11. 2019 auf RTS, eigene Übersetzung)
Wir spüren bei Costa beispielhaft die Hoffnung auf grössere soziale Akzeptanz der Kirchen und damit eine Trendwende im jahrelangen Schwund an Kirchenbesuchern.
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Umkämpfte Meinungsviefalt
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Auf der ‘Siegerseite’ der Abstimmung tritt man in diesen Tagen selbstbewusst auf.
Diesseits.ch-Redakteur Stephan Jütte ruft die neue reformierte Minderheit auf, ihre Position nochmals zu überdenken:
Hoffentlich können auch die 200 Pfarrer und Pfarrerinnen, welche die Ehe für alle aus eigenen Gründen ablehnen, das zum Anlass nehmen, sich noch einmal zu hinterfragen. (Stephan Jütte am 5.11.2019 auf Facebook)
Über 200 Pfarrpersonen hatten sich im Vorfeld der Abstimmung in der Erklärung “Habt ihr nicht gelesen…?” öffentlich gegen den kirchlichen Segen für die ‘Ehe für alle’ ausgesprochen. Gestützt wurde diese Haltung in einem offenen Brief von über 6000 Mitgliedern von kantonalen Kirchen.
Jüttes implizierte Botschaft scheint klar: Die Verlierer haben nicht nur bestimmte Überzeugungen oder Positionen zu überdenken, sondern sollten sich ganz grundsätzlich als Personen hinterfragen.
Noch schärfer formuliert es Michael Wiesmann, Pfarrer und Mitautor der von über 400 Pfarrern und Theologiestudenten unterschriebenen Erklärung “Die Liebe hat den langen Atem”. Wiesmann macht schon im Vorfeld der Abstimmung klar, dass Pfarrer, welche sich gegen die ‘Ehe für alle’ positionieren, aus seiner Sicht in den reformierten Kirchen nichts mehr verloren haben:
Die Kolleg*innen möchten sich allenfalls verweigern? Ihr gutes Recht. Aber dann bitte konsequent: Verweigert nicht nur die Amtshandlung (in diesem Fall den Segen für gleichgeschlechtliche Paare), sondern gleich auch Euren Lohn. Put your money where your mouth is. (Michael Wiesmann am 23.10.2019 auf Facebook)
Diese Haltung ist schädlich. Für uns als Kirche, vor allem als Volkskirche. Damit haben die Urheber*innen gezeigt, warum eine solche Geisteshaltung — wenigstens so geäussert — keinen Platz in unserer Kirche haben darf. Immerhin nicht unter angestellten/bezahlten Amtsträger*innen. (Michael Wiemann am 24.10.2019 auf Facebook)
Solche starken Worte passen nicht wirklich zur Botschaft von Gottfried Locher, dass die Schweizer Reformierten sehr gut unterschiedliche Positionen integrieren könnten:
Es gibt Pro und Kontra. Das führt nicht immer gleich zu Spaltung. Wir haben eine Kultur in unserer Kirche, die das aushalten kann. Und ich bin sehr zuversichtlich dass wir einen guten Weg für alle finden, jene mit einem eher konservativeren Eheverständnis und jene mit einem offeneren. (Gottfried Locher am 5.11.2019 im Interview mit SRF)
Von einer solchen Kultur, die unterschiedliche Positionen aushalten kann, ist in den meinungsbildenden Portalen der Reformierten teils wenig zu spüren.
Auf diesseits.ch, dem offiziellen Blog der Zürcher Reformierten, erschienen in den vergangenen sechs Monaten 10 Artikel, welche allesamt für die ‘Ehe für alle’ argumentieren, und kein einziger Artikel, der diesbezüglich eine konservative Haltung vertritt.
Fast 50 Pfarrpersonen der Zürcher Kirche haben sich gegen die ‘Ehe für alle’ positioniert — keiner Einzigen scheint die Möglichkeit gegeben worden zu sein, diese Haltung auf dem kantonalen Blog zu erläutern.
Ist das die Art und Weise, wie unsere Volkskirchen die Meinungsvielfalt ihrer Mitglieder präsentieren wollen? Auf diesen Umgang mit konservativen Gläubigen komme ich noch zu sprechen.
Wir hoffen, dass wenigstens in anderen Kantonal-Kirchen der neuen Minderheit die Stimme nicht genommen wird. Und natürlich gilt es, deren Gewissensfreiheit zu wahren.
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Füllen sich die Kirchen wieder?
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Wird die ganze Sache für die evangelischen Landeskirchen fruchten? Wird in Erfüllung gehen, was sich Carolina Costa und andere erhoffen, nämlich dass die grössere Nähe zum gesellschaftlichen Konsens zu mehr Kirchenbesuch führen wird? Es gibt Gründe, wenig optimistisch zu sein.
Eine Studie der American Psychological Association, durchgeführt von zwei Wissenschaftlern der Universitäten Columbia und California brachte unerwartete Resultate ans Licht. Barnes und Meyer sind gegenüber konservativen Haltungen zur Homosexualität kritisch. Im Vorfeld erwartete man, dass die Studie zeigen würde, dass Homosexuelle in konservativen Kirchen ein höheres Mass an internalisierter Homophobie, Symptomen von Depression und weniger psychisches Wohlbefinden haben würden. Überraschenderweise zeigte die Studie, dass Homosexuelle 2,5 Mal wahrscheinlicher in eine Kirche gehen, die ihrer sexuellen Orientierung gegenüber kritisch eingestellt ist, als in eine Kirche, die selbstgenannt ‘offen ist für alle’. Die Studie kommt zu Schluss:
Das nicht-bejahende religiöse Umfeld zeigte keine negativen Auswirkungen auf psychische Gesundheit, ein unerwartetes Resultat.
Vielleicht sind die konservativen Kirchen nicht so ablehnend oder krankmachend wie manche ihnen vorwerfen? Gemäss dieser Studie suchen sich Homosexuelle nicht primär die Kirchen aus, die selbsternannt offen sind für Homosexuelle, sondern gehen eher in eine konservative Kirche. Wenn diese Studie stimmt, könnten die Hoffnungen von Costa, Wiesmann und Anderen, neuen Zulauf in die Kirchen zu erleben, bald enttäuscht werden.
Von der anderen Seite betrachtet ist die Gefahr gross, dass nun konservative Christen aus den evangelischen Kirchen austreten. Das ist kein Wunder, wenn man sieht, wie sie behandelt werden.
Der deutsche Blogger Markus Till ermutigt in einem Artikel vom vergangenen Samstag, in den Kirchen zu bleiben. In seinem Schreiben hat Till natürlich die Situation der Kirche in Deutschland im Blick, doch seine Beobachtungen haben auch für uns in der Schweiz eine grosse Relevanz:
Im letzten Jahr haben mich immer wieder Stimmen von konservativen Christen aus ganz Deutschland erreicht, die sich in ihren landes- oder freikirchlichen Gemeinden an den Rand oder gar hinausgedrängt fühlen. Tatsächlich scheint sich dieser subjektive Eindruck auch objektiv zu bestätigen. Tobias Faix hat jüngst berichtet, dass die Anzahl der Gläubigen steigt, die aufgrund ihres konservativen Glaubens aus der evangelischen Kirche austreten. In einer aktuellen Erhebung für die Kirche von Westfalen wurde zudem ermittelt:
“Das häufigste Motiv für einen Austritt aus der Kirche ist die Ansicht, dass die Kirche nicht mehr das lebt, „was Jesus eigentlich wollte“.”
Also nicht die Säkularisierung, nicht die Kirchensteuer, sondern die grundsätzlichen Differenzen beim Jesusbild sind das Hauptproblem, das Menschen aus der Kirche treibt! (Markus Till am 9. November 2019)
Wenn diese Studien und Aussagen etwas an sich haben, könnte die Entscheidung des SEK, die ‘Ehe für alle’ zu befürworten, ein grösseres Eigengoal sein. Wir werden es sehen. Ich wünsche unseren Evangelischen Kirchen das Gegenteil!
Wie kann es dazu kommen, dass es wieder aufwärts geht? Damit will ich mich im nächsten Abschnitt beschäftigen.
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Eine Kirche jenseits von ‘links’ und ‘rechts’
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Die Grundfrage, der wir hier ins Gesicht schauen, ist: Wie soll sich die Kirche gegenüber der Welt verhalten, in der sie lebt?
Es gibt die Gefahr, sich dermassen stark zu assimilieren und anzupassen, dass man als Kirche nicht mehr von der Welt zu unterscheiden ist. Die zweite Gefahr ist der Rückzug in eine Isolation, welche jeden Bezug zur Welt verliert. Der beste Weg liegt bei der Daniel Option, in der die Kirche sich weder assimilieren lässt, noch sich abschottet.
Der bekannte Pastor und Buchautor Tim Keller, beschreibt diese Option in einem interessanten Artikel sehr gut. Die Kirche in den ersten Jahrhunderten nach Christus hatte gemäss Keller eine Kombination von Eigenschaften, welche sie von einer Minderheits-Bewegung zu einer gesellschaftsprägenden Kraft werden liess. Die Kirche war:
- multi-ethnisch
- radikal hingegeben, sich um die Armen und Ausgegrenzten zu kümmern
- Anti-Gewalt und der Vergebung verpflichtet
- ideell und praktisch gegen Abtreibung und Kindes-Tötung
- revolutionär in Bezug auf Sexual-Ethik durch Konfrontation des liberalen Wertesystems mit biblischen-konservativen Werten
Die Kirche war also sowohl anstössig wie auch attraktiv. Keller erklärt, dass die Kirche diese Werte lebte, weil sie sich der Autorität der Bibel unterordnete. Interessant ist, dass diese Werte sich nicht in ein einziges politisches Lager hineinpressen lassen. Die ersten beiden Punkte würden heute dem politischen linken Spektrum zugeordnet werden, die letzten beiden der konservativen Seite. Die Kirche war also weder politisch ‘links’ noch ‘rechts’.
Diese Art von Kirche sieht sich als Botschafter Gottes in der Welt. Sie findet den Anschluss an ihre Umwelt (lebt also nicht in Isolation) aber konfrontiert sie auch (lebt also nicht in der Assimilation). Diese Art von Kirche erreicht und verändert die Menschen, gerade weil sie sich von ihrer Umwelt unterscheidet. Diese Kirche liebt und dient ihrer Gesellschaft, ohne auf falsche Weise ihre Identität von ihr bestimmen zu lassen.
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Das wünsche ich den Kirchen
Der barmherzige Samariter. Ausschnitt aus dem Codex purpureus Rossanensis, ca. 6. Jh n. Chr.
Diese Art Kirche zu sein wünsche ich mir. Ich wünsche allen Verbänden und Kirchen ein neues, von der Bibel geprägtes Sendungsbewusstsein:
So sind wir nun Botschafter an Christi statt… (2Kor 5:20, Teil 1)
Wenn wir uns auf diese Weise von Christus definieren lassen, müssen wir uns nicht auf unangebrachte Weise von der Welt bestimmen lassen, und müssen uns auch nicht aus ihr zurückziehen. Wenn wir unsere Identität von Christus her beziehen und definieren lassen, befreit uns das zum hingebungsvollen Dienst an dieser Welt.
Es geht dabei nicht primär darum, möglichst viel Zulauf zu haben, sondern darum, Christus und seinem Wort treu zu sein. Im Zweifelsfall wollen wir tun, was Er will, nicht was die Welt will.
Aber ich glaube auch: Wenn die Kirche jenseit von Assimilation und Abschottung nach dieser dritten ‘Daniel-Art’ lebt, wird sie neuen Zulauf erleben. Denn die Menschen unserer Zeit werden in diesen Kirchen Orientierung finden und radikale Liebe erleben. Die Menschen werden kommen, weil die Versöhnungseinladung Jesu wieder ins Land hinausgerufen wird:
…denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! (2Kor 5:20, Teil 2)
Hallo allerseits, besten dank für diesen Artikel. Am meisten gefiel mir die Studie: “Überraschenderweise zeigte die Studie, dass Homosexuelle 2,5 Mal wahrscheinlicher in eine Kirche gehen, die ihrer sexuellen Orientierung gegenüber kritisch eingestellt ist, als in eine Kirche, die selbstgenannt ‹offen ist für alle›. ”
Ich selbst mach mir aber nix daraus, ich habe die Einstellung dass man keiner Statistik trauen soll als die welche man selbst gefälscht hat (;
Nun traue ich aber dem Wort Gottes und bin traurig über diese Entscheidung des SEK.
Wir sollten ermahnt sein von der Tatsache dass das Volk Israel etliche male von Gott abgewichen ist und die “richtigen” Propheten wurden Ermordet, auf die falschen wurde gehört und Israel musste viel leid ertragen. Nun wird es uns Chtisten besser gehen? Es steht dass zuerst der ” Abfall” kommen muss.
Ich befürchte es wird uns noch einiges kosten und ich bin bereit wenn der erste Pfarrer wegen Jesus den Job und Haus verliert so wie schon gedroht wurde. Unser Haus steht offen, wir füttern gerne Bibeltreue Ehemalige Pfärrer durch. Hoffen wir aber das es nicht soweit kommt;)
Spannend, die Ausführungen zur Ausrichtung der ersten Christen. Das entspricht dem, was ich leben möchte. Dass homosexuell empfindende
Christen sich in Kirchen wohl fühlen, die nicht allem zustimmen, erstaunt mich nicht. Wer Christus liebt, liebt die Wahrheit mehr als die eigene Befindlichkeit. Ich würde auch nicht in eine Kirche gehen wollen, die mir zustimmt, wenn ich fremdgehe.
Danke für diesen treffenden Kommentar, und danke Paul Bruderer für den einmal mehr sehr spannenden und aktuellen Artikel! Die Frage bleibt: was ist der Wille von Jesus? Bzw. was sagt Gottes Wort? Auch was Fremdgehen, Scheidung, Wiederheirat angeht. Was sagt die Bibel zu den Rollen von Mann und Frau? Sind sie austauschbar? Sollen Frauen nach der Bibel jede Funktion in der Bibel (Pastorin, Ältestin) wahrnehmen? Oder gibt es Dinge, die sich nicht tun sollen, genauso wenig wie Single-Männer Kinder adoptieren sollen?
Danke Peter und Regula für eure Inputs!
Peter: das sind VIELE Fragen 🙂 wir haben mehrere Artikel die wenigstens im Ansatz unsere Meinung in diesen Fragen formulieren. Du musst ja nicht gleicher Meinung sein.
https://danieloption.ch/sexualitaet/homosexualitaet/wann-sollen-christen-ihre-meinung-aendern‑2/
https://danieloption.ch/weltanschauuung/das-spannungsfeld-von-toleranz-und-abgrenzung/
https://danieloption.ch/weltanschauuung/den-glauben-verlieren-teil-4-worauf-an-ankommt/
gute Lektüre!