Vorwort der Herausgeber:
Als wir 2019 bei Daniel Option anfingen zu bloggen, war das «progressive Christentum» im deutschsprachigen Raum noch nicht so bekannt. Inzwischen wird das Thema in den Chef-Etagen von Gemeinden, Verbänden und übergemeindlichen Werken offen diskutiert. Man merkt: Hier sind Fragen im Raum, die beantwortet werden müssen.
Wir möchten mit der Veröffentlichung einer deutschen Übersetzung von 10 kurzen und einfach verständlichen Kapiteln des Buches «The 10 Commandments of Progressive Christianity» einen Beitrag für eine kritische Reflexion leisten.
Das Buch von Dr. Michael J. Kruger thematisiert theologische und ethische Schlüsselbereiche sogenannt ‘progressiver’ Theologie auf kurze und verständliche Weise. Leiter, die wenig Zeit haben und einen schnellen Zugang zu einem Thema brauchen, werden hier genauso gut bedient wie Christen, die weniger theologische Bildung haben, aber verstehen wollen, worüber plötzlich alle reden.
Die Kapitel eignen sich nebst der persönlichen Lektüre auch für Diskussionen in der Einleitung von Sitzungen oder zur Gestaltung von Hauskreis- und Kleingruppen-Anlässen. Dazu liefern wir mögliche Fragen, die diskutiert werden können, die aber im englischen Original nicht vorhanden sind.
Wir sind dankbar, dass Dr. Kruger und Cruciform Press ihre Einwilligung gegeben haben, dass wir diese «kritische Untersuchung von 10 gefährlich verlockenden Halbwahrheiten» (Untertitel der englischen Ausgabe) hier an die deutsche Leserschaft bringen können.
April 2023
Paul und Peter Bruderer
Die 10 Gebote des progressiven Christentums
Erstes Gebot:
Jesus ist mehr ein Vorbild fürs Leben als ein Objekt unserer Anbetung.
Zweites Gebot:
Das Potenzial der Menschen zu bestätigen, ist wichtiger als sie an ihre Gebrochenheit zu erinnern.
Drittes Gebot:
Zwischenmenschliche Versöhnung ist wichtiger als das Fällen von Urteilen.
Viertes Gebot:
Gnädiges Verhalten ist wichtiger als richtiger Glaube.
Fünftes Gebot:
Fragen zu stellen, ist wertvoller als Antworten zu geben.
Sechtes Gebot:
Die individuelle Suche zu fördern, ist wichtiger als die Gleichförmigkeit einer Gruppe zu wahren.
Siebtes Gebot:
Reale Bedürfnisse zu stillen, ist wichtiger als Institutionen aufrechtzuerhalten.
Achtes Gebot:
Frieden stiften, ist wichtiger als Macht.
Neuntes Gebot:
Wir sollten uns mehr um die Liebe und weniger um den Sex kümmern.
Zehntes Gebot:
Das Leben im Diesseits ist wichtiger als die Zukunft im Jenseits.
Einleitung ins Buch — Dr. Michael J. Kruger:
Ein Meisterkurs in Halbwahrheiten
Im Jahr 1923 schrieb J. Gresham Machen, damals Professor am theologischen Seminar Princeton, seinen Klassiker «Christentum und Liberalismus».[1] Das Buch war eine Reaktion auf den Aufstieg des Liberalismus in den großen Konfessionen seiner Zeit. Machen argumentierte, dass das liberale Verständnis des Christentums nicht nur eine Variante des Glaubens sei und auch nicht einfach nur eine andere konfessionelle Perspektive darstelle, sondern eine völlig andere Religion sei. Einfach ausgedrückt: Das liberale Christentum ist kein Christentum.
Das Bemerkenswerte an Machens Buch ist, wie vorausschauend es war. Seine Beschreibung des liberalen Christentums – eine moralistische, therapeutische Version des Glaubens, die Fragen über Antworten stellt und «gut» über «richtig» – gibt es im Grunde genommen auch heute noch in derselben Form. Schon allein aus diesem Grund sollte das Buch für alle Theologiestudenten, Pastoren und christlichen Leiter Pflichtlektüre sein. Obwohl seine modernen Verfechter das liberale Christentum als etwas Neues und Revolutionäres darstellen, ist es nichts dergleichen. Es mag neue Namen haben (z.B. «emergentes» oder «progressives» Christentum), ist aber einfach ein Aufguss desselben altbekannten Systems, das seit Generationen existiert.
Die ständige Präsenz des liberalen Christentums ist mir vor kurzem aufgefallen, als ich auf eine tägliche Andacht von Richard Rohr stieß, in welcher er zehn Prinzipien auflistet, die das moderne Christentum verkörpern sollte. Diese zehn Prinzipien von Rohr stammen aus dem Buch von Philip Gulley «If the Church Were Christian: Rediscovering the Values of Jesus».[2]
In der Andachtsreihe – ironischerweise mit dem Titel «Rückkehr zum Wesentlichen» – legt Rohr die zehn Prinzipien als eine Art Bekenntnis zum modernen theologischen Liberalismus dar (während er gleichzeitig vorgibt, Bekenntniserklärungen zu missbilligen). Sie sind eine Art «Zehn Gebote» für das progressive Christentum.
Diese zehn Gebote klingen nicht so, als wären sie auf einem Berggipfel empfangen worden, sondern eher, als wären sie in einem Universitäts-Klassenzimmer zusammengestellt worden. Es geht bei ihnen weniger darum, dass Gott seine Wünsche offenbart, sondern mehr darum, dass der Mensch seine eigenen Wünsche zum Ausdruck bringt – weniger Moses, mehr Oprah.
Doch Achtung: jedes dieser Gebote ist teilweise wahr. Das ist es, was diese Liste und das progressive Christentum als Ganzes so herausfordernd macht. Es ist ein Meisterkurs in Halbwahrheiten, die oberflächlich betrachtet, verlockend klingen, bis man tiefer gräbt und ihre Grundlagen und Implikationen wirklich erforscht. Benjamin Franklin hatte Recht, als er sagte:
«Die halbe Wahrheit ist oft eine grosse Lüge.»
In den nächsten zehn Kapiteln werden wir jede dieser Lehren diagnostizieren und kritisieren. Wir werden eine biblische und theologische Antwort darauf geben und gelegentlich in Gresham Machens Klassiker eintauchen. Wenn die Kirche an dem Glauben festhalten will, «der den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist» (Judas 3), dann müssen wir in der Lage sein, den wahren Glauben von dem zu unterscheiden, was sich als wahrer Glaube ausgibt.
Meine Hoffnung und mein Gebet sind, dass dieser kurze Band diese wichtige Aufgabe ein wenig leichter macht.
» Hier geht es zum ersten Gebot
Fussnoten:
[1] J. Gresham Machen, Christianity and Liberalism (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2009)
[2] Philip Gulley, If the Church Were Christian: Rediscovering the Values of Jesus (San Francisco, CA: HarperOne, 2010)
Die direkte Verbindung des Quäker Pastoren Philip Gulley mit der progressiven Bewegung im deutschsprachigen Raum finde ich eher irreführend. Schon diese zwei Kapitel projiziert eine sehr extreme Haltung auf alle Progressiven und fördert das Feindbild nur mehr, anstatt das Brücken gebaut werden.
Danke für deine Rückmeldung. Ich erlebe, dass diese Werte (‘Gebote’) genau so wirksam sind bei uns in Europa — völlig unabhängig dessen, was auf der anderen Seite des Teiches läuft oder nicht. Ich kann dir persönlich zusichern, dass wir von unserer Seite her äusserst viele Versuche des Dialog’s unternommen haben. Kein einziges Gespräch war theologisch fruchtbringend — da wo sie überhaupt stattfinden konnten. Bei einigen progressiven Leitern ist uns über mehrere Jahre das Gespräch verweigert worden, ohne dass es überhaupt zu einem Erstgespräch kam. Einige andere hatten zum Glück weniger Berührungsängste. Ich sage das alles nicht nicht mit Freude, sondern mit Trauer im Herzen. Kürzlich habe ich einen progressiven Leiter getroffen, es war nett für das persönliche Kennenlernen, aber die theologische Interaktion führte zu keinerlei Veränderung. Ich glaube wir sind in einer Phase, in der etwas sichtbar wird, das vielen nicht passt: Das Progressive als Paradigma ist unvereinbar mit dem historisch-Bekenntnis Paradigma. Darum bricht jeder Dialog im Nu zusammen. Es stimmt, dass es wichtige Unterschiede gibt. Dr. Roland Hardmeier hat sich gut damit auseinandergesetzt und ich empfehle seine Differenzierungen: https://danieloption.ch/bibel‑2/postevangelikalismus-postmoderne-progressives-christentum/
Kruger ist übrigens durchaus differenzierend gegenüber unterschiedlichen Varianten des Progressiven. In nahezu jedem Kapitel, wird das deutlich. Ich denke der Punkt ist: die von ihm beschriebene Variante gibt es eben auch. Und sie zieht Kreise. Wir finden: Da darf man gut und gerne öffentlich etwas dazu sagen.
Ich würde mich freuen, einen Kaffee mit dir zu trinken oder ein Bier und auszutauschen. Meld’ dich!
Danke für die Kritik, mich hat das beim Lesen auch gestört.
Der Autor operiert ständig mit Masken, die rein der Polemik dienen. Ich bezweifle sehr, dass ein ‘progressiver’ Theologe, so undifferenzierte Annahmen treffen würde, wie Herr Krüger das hinstellt. Seine Ironie-Moves lassen die anonyme Gegenseite als lächerliche Figuren dastehen, die ihre eigene Theologie nicht zu ende denken können.
Dazu kommt, der Grundsätzlich besserwisserische Unterton des Buches, der schon daher rührt, dass Herr Krüger meint seinem Gegner besser zu kennen, als die sich selbst, indem er die progressive Hermeneutik in Form von 10 Ideologismen darlegt.
Offensichtlich geht es nicht um ein echtes Verstehen der Anderen, sondern eine polemische Diffamierung.
Lieber Ruben, wie konkret agiert Kruger mit ‘Masken’? Er zitiert fair, anerkennt wo sein progressives Gegenüber richtig liegt, nimmt klar Distanz dazu, wo er es anders sieht. Auch geht er auch immer von Aussagen aus, die Progressive selbst formuliert haben — also nicht von seinen eigenen Aussagen. Auch im deutschen Raum sind einige dieser Werte öffentlich als Werte Progressiver bezeichnet worden. Was ist daran diffamierend? Einfach nur, weil es Kruger anders sieht als manche Progressive oder als du heisst nicht, dass er diffamierend ist. Ist anderer Meinung sein automatisch Diffamierung?
Lieber Paul
Ich halte das Label „progressives Christentum“ für eine Chiffre, die Abweichler von Eurer eigenen Meinung diffamieren soll. Es hat wie die Links – Rechts Schubladisierung eine rein polemische Funktion.
Zwei Beispiele im Text, in der Einleitung spricht er absichtsvoll den progressiven ihre Zugehörigkeit zu Christus, qua fehlender „Richtigkeit“ ihrer Theologie, ab. Zitat: „Machen argumentierte, dass das liberale Verständnis des Christentums nicht nur eine Variante des Glaubens sei und auch nicht einfach nur eine andere konfessionelle Perspektive darstelle, sondern eine völlig andere Religion sei. Einfach ausgedrückt: Das liberale Christentum ist kein Christentum.“
Das Problem ist, dass man so von den eigenen hermeneutischen Unsicherheiten ablenken kann, denn die eigene Position ist als Gegenüber zur Progressiven (die ja einfach falsch ist) als ‘richtige’ ausgezeichnet. So weit die Logik der Polemik. Viel interessanter und auch ehrlicher fände ich, warum Herr Krüger denn seine eigene „Meinung“ für die richtige hält, unabhängig von seiner Abgrenzungslogik gegenüber den „falschen“. Also die Begründung der eigene theologische Sachlichkeit im Vollzug darlegen würde.
Schon klar, Polemik verkauft sich besser als wissenschaftliche Nüchternheit, aber von einem Prof. erwarte ich das eigentlich schon.
Ich korrigiere mich gerne, es ist schon so, dass er sich an Richard Rohr und Philip Gulley abarbeitet, aber dieser steht ja nicht für eine Bewegung. Zumindest ist die Annahme dieser stehe für „das“ progressive Element im Christentum ist ja doch Erklärungsbedürftig.
Als Beispiel für die Masken ein Zitat aus dem vierten Gebot:
„Hierin liegt eine grosse Ironie. Die Aussage «Gnädiges Verhalten ist wichtiger als der richtige Glaube» ist selbst eine Aussage darüber, was wir glauben sollen! Offenbar ist «richtiger Glaube» doch wichtig.“
Warum ich das für ein Pamphlet, eine diffamierende Schrift, halte?
Es stimmt, Krüger formuliert anständig und wird nicht abfällig oder beleidigend. Subkutan ist hier aber eine Absage an alle Christen, die sich kritisch gegenüber Missständen in den bestehenden, konventionellen Kirchen einsetzen. Man kann nämlich die 10 Gebote Rohrs auch wohlwollend interpretieren, ohne ein Anhänger seiner esoterischen Ansichten werden zu müssen, oder ihm seine Zugehörigkeit zu Jesus abzusprechen.
Wer das, wie Krüger, unter der verschleierten Vorannahme, dass seine Urteil biblischer, richtiger und wahrer sei als die seiner progressiven Opponenten
Lieber Ruben
Wir können gerne mal etwas trinken gehen. Das ist das Beste für solche Diskussionen 😊 Meine Nummer ist 076 434 90 10. Meld’ dich.
Weil aber das Gespräch hier schon angefangen hat, fände ich es für einige wenige Punkte wertvoll, die Interaktion ein wenig weiterzuführen.
Du sagst das Label ‘progressives Christentum’ sei etwas, das Leute wie ich als Diffamierungsmethode benutzen und wir würden die Begriffe (rein) polemisch einsetzen. Deine Aussage finde ich doch ziemlich bemerkenswert. Und zwar u.a. weil der Begriff (respektive die Begriffs-Gruppe) von Leuten wie Benz und anderen selbst benutzt wird. ‘Progressiv’ ist eindeutig auch eine Selbst-Bezeichnung und nicht nur eine Fremd-Bezeichnung.
Konkreter: Im englischsprachigen Raum ist ‘progressive Christianity’ etablierter als im deutschen Raum wo eher ‘progressiv glauben’ (Benz in seinem Buch und auf seiner Facebook Seite) oder ‘postevangelikal’ (z.B. Lukas Amstutz und andere) benutzt wird. Es wird aber auch vom ‘progressiven Christentum’ und ‘progressiver Theologie’ gesprochen.
Wir bei DanielOption haben eine Zeitlang versucht ohne diese Labels zu agieren aufgrund von Bitten seitens von progressiv Glaubenden. Es ging ihnen darum, dass sie sich nicht im allem identifizieren können, was mit diesen Begriffen verbunden wird. Wir haben das respektiert. Im letzten Jahr ist aber eine Zunahme der Nutzung des Begriffs ‘progressiv’ vorhanden, und zwar nicht von unserer Seite sondern von progressiver Seite. Darum finden wir es angebracht, wieder damit zu agieren. Aber nicht – und das ist mir wichtig und ich widerspreche deinem Eingangssatz in aller Deutlichkeit – als Methode der Diffamierung oder Polemik. Wir wollen so weit wie möglich die Selbstbezeichnungen benutzen derjenigen, mit denen wir interagieren. Und es geht uns dabei um die inhaltlichen Aussagen, nicht um die Person. Wer im öffentlichen Raum etwas sagt, muss diese beiden Elemente unterschieden können.
Über die Frage ‘was ist das Christentum?’ und den damit verbundenen Fragen (z.B. ‘wie viel muss ein Christ mental verstanden haben, damit er Christ sein kann?’ oder ‘Ist mit der Aussage von Kruger auch das persönliche Heil eines Menschen verbunden?’) würde ich gerne bei einem Treffen reden. Ich würde da gerne von dir hören, was deiner Ansicht nach das ‘Christentum’ ist und ob man da auch derart daneben liegen kann (deiner Meinung nach), dass man raus ist.
Ich möchte auch gerne präziser von dir hören, warum du bei Kruger von ‘Unsicherheit’ redest. Wie kommst du darauf, dass seine Einordnung von ‘richtig’ und ‘falsch’ mit eigener (hermeneutischer) Verunsicherung zu tun hat? Hat jeder, der ‘richtig’ und ‘falsch’ einteilt automatisch eine Verunsicherung? Du machst es ja gegenüber Kruger ja im Grunde genommen auch ein Stückweit. Gut finde ich deine Frage an Kruger, wie er seine Auslegung begründet. Vielleicht finden wir noch etwas von ihm dazu?
Du schreibst auch «Subkutan ist hier aber eine Absage an alle Christen, die sich kritisch gegenüber Missständen in den bestehenden, konventionellen Kirchen einsetzen.» Stellst du Kruger angemessen dar, wenn du das sagst? Kruger hat in nahezu jedem Kapitel Punkte, an denen er sich mit Kritik von Gulley gegenüber den konventionellen Kirchen einverstanden erklärt.
Ja, ich fänd es gut mit dir dann persönlich über Benz’ Buch zu reden.
Man muss ja die schlechten Angewohnheiten anderer nicht übernehmen. 😉
Aber ganz abgesehen davon, dass ich von der Labelisierung auch als Selbstbezeichnung nicht viel Fruchtbares abgewinne kann, möchte ich anmerken: Im Buch von Benz, in der Erklärung von Amstutz geht es nicht um eine Abgrenzung von Konservatismus per se, sondern um einen persönlichen Neuanfang oder Aufbruch aus eine religiösen Vorstellungswelt und damit zusammenhängenden Glaubenspraxis, die für sie persönlich blutleer geworden ist. „Progressiv“ dient bei diesen zwei Autoren und Theologen als Chiffre für ein Trotzdem, für ein Weiterglauben wollen und können. Das heisst, ihr Glaube ist an den Dogmen ihrer religiösen Sozialisation beinahe zerbrochen. Ich lese bei diesen keine Ablehnung für ein „konservatives“ Christentum, diese Bezeichnung spielt kaum eine Rolle, denn es geht um ihren eigenen und kreativen Aufbruch und die Neukonstruktion ihres christlichen Glaubens.
Deine Punkte für das Gespräch hab ich mir notiert.
Zu Krugers Absage: Er schreibt ja wörtlich, dass liberale Christen keine Christen seien, auch wenn er sich auf Machen und dessen Selbstbezeichnung beruft, er zitiert ihn ja nur zwecks Affirmation.
Eindeutiger kann man kaum schreiben.
Wie würdest du eine faire Darstellung der theologischen Überzeugungen einer Mehrheit Progressiver in Worte fassen?
Sorry, vorzeitig abgesendet.
Das schöne an der Theologie ist ja, es gibt keine wirkliche einheitliche theologischen Überzeugung, darum finde ich schon die Labelisierung irreführend. Für mich ist die rote Linie überschritten, wo man anderen ihre Jesus Zugehörigkeit abspricht oder absprechen will.
Unter Progressiv werden meines Erachtens oft plattpolitische Positionen subsumiert, nämlich die pro Haltung gegenüber Queeren und linker Abtreibungsbeführwortern, und was noch in die „progressive“ Schublade gehört, die sich dafür explizit als Christen einsetzen. Oder es ist eben eine Theologie bezeichnet, die zu solchen Positionen führt. Das halte ich grundsätzlich für nicht falsch, aber diese oberflächlich Polemik wird dem Anliegen nicht unbedingt gerecht, finde ich zumindest.
Es gibt ja durchaus mir, uns, fremde Gestalten des Glaubens, um die man zu streiten hat, gerade das ist ja die Aufgabe der Dogmatik. Aber das ist nicht möglich, wenn nicht der Versuch gewagt wir den Anderen auch bis in die tiefe zu verstehen zu versuchen, auch wenn das nicht gelingen mag, aber der Respekt gegenüber der Person und die Möglichkeit ihres Glaubens an Jesus, den wir gemeinsam haben, fordern eine redlichere und wohlwollendere Auseinandersetzung. Das ist gerade eine wissenschaftliche Aufgaben. Karl Barth hat es so formuliert:
„In der wirklichen Begegnung mit der Häresie wird der Glaube in Konflikt mit sich selber gestürzt, weil er — solange und sofern er die Häresie nicht losgeworden ist, solange und sofern sie ihn vielmehr angeht, solange und sofern er sich ihr gegenüber verantworten muß — nicht umhin kann, sie trotz der Stimme des Unglaubens, die er aus ihr zu vernehmen meint, mindestens auch als Glauben und nicht nur als Unglauben zu behandeln. Er muß sie als eine Möglichkeit des Glaubens verstehen, freilich als eine ihm tief unverständliche, als eine solche, die er nur als eine Möglichkeit der Störung und Zerstörung des Glaubens auffassen kann, als eine Möglichkeit, die er abwehren muß — aber als eine Möglichkeit des Glaubens selber und darum und insofern (deshalb auch die Notwendigkeit heftiger Abwehr!) als seine eigene Möglichkeit, als eine Möglichkeit nicht außerhalb, sondern, wie unanschaulich immer als solche, innerhalb der Kirche. Darum ist dieser Konflikt ein ernsthafter Konflikt und darum kann und muß nun die Aufgabe expliziter Rechenschaftsablage über den in der Dogmatik zu begehenden Erkenntnisweg eine innere, in der Sache selbst begründete Notwendigkeit werden.“ (KD I,1, 32f.)
Ich bin also nicht gegen den Streit, sondern gegen die Art wie es einem Prof. nicht ziemt. Es wäre durchaus interessant die (mir persönlich) seltsamen Positionen von Rohr zu befragen.
Sorry ich hab jetzt viel heisse Luft rausgelassen. Mich stört hauptsächlich das es vermeintlich, den progressiven den Glauben abspricht. Mit der Grundthese, dass es gute Theologie braucht gehe ich voll mit. Nur bezweifle ich, dass uns Herr Krüger eine Theologie präsentiert, die sich in seiner geforderten Qualität von der kritisierten wesentlich unterscheidet.
Ich bin etwas allergisch auf Theologismen, die sich diese Auszeichnung m.E. ohne Verdienst selbst verleihen oder anderen Absprechen, kann es nicht offen bleiben? Oder zumindes ein paar Kriterien an denen jetzt Rohrs und Gulleys Aussagen gemessen werden, wären hilfreich. Besondern Richard Rohrs Werk ist ja doch etwas umfangreicher als, dass man ihm Gerecht wird, wenn man ihn an einem Vortrag „aufhängt“.
Ansonsten wären ja die sozialethischen Implikationen durchaus interessant zu diskutieren. Besonders Gebot 4 würde mich interessieren, ob hier wirklich eine „richtige“ Lehre uns gnädiger macht oder doch nicht ganz etwas anderes? Ansonsten finde ich das Gebot unbestechlich, sich liebevoll zu verhalten, geht dem Buchstaben in jedem Fall vor, gerade das ist ja die „gesunde“ Lehre. Noch ein letztes Indiz für Krügers platte Polemik in Gebot 4: ich habe noch keine Menschen getroffen, die mich als Theologen qua Theologe sein für spalterisch oder so halten. Mich würden interessieren, ob es dazu empirische Befunde gibt, statt nur die platte Behauptung Krügers, die ja doch alarmierend sein muss, sofern sie wahr ist.
Danke noch für die wertschätzenden Replys.
Danke für die klärenden Antworten auf meine Rückfragen. Gerne möchte ich über die nächsten Tage hier mit dir etwas hin und her schreiben. Wäre das für dich okay? Ich habe nämlich noch eine ganze Reihe von Rückfragen an das, was du geschrieben hast.
Klar. Wir können auch gerne persönlich mal diskutieren, auf ein Kaffe zum Beispiel. Oder per E‑Mail, dass ist etwas handlicher als die Kommentarsektion. LG
Nein: es gibt an vielen grundlegenden Punkten sehr wohl einheitliche theologische Überzeugungen in grossen Bereichen des Christentums. Über deine rote Linie reden wir gerne an unserem Treffen. Was ist zum Beispiel, wenn man genau das gemacht, was du tun willst (den anderen dogmatisch wirklich in die Tiefe verstehen) und kommt hinten doch mit der Schlussfolgerung heraus, dass die Aussagen wesentlich ausserhalb des Christentums liegen? Was soll man dann deiner Meinung nach machen? So tun als wäre es noch ‘drin’? Hast du im Neuen Testament einmal die Stellen gelesen, in denen es über den Abfall vom Glauben geht? Wie siehst du diese Stellen? Das würde ich gerne von dir hören. Persönlich sehe ich es so: Wir müssen auf der inhaltlichen/dogmatischen Ebene diese Dinge gründlich und so sauber wie möglich anschauen und zu Aussagen kommen, wo Toleranz und Freiheit gefragt ist (aus meiner Sicht ein sehr grosser Bereich) und wo wir nicht mehr frei sind zu sagen ‘das ist auch noch drin’. Bezüglich der Frage, wer dann gerettet ist, müssen wir davon ausgehen, dass es manche Überraschung geben wird. Der Schächer am Kreuz war wohl nicht getauft und hat die Trinität nicht verstanden und wird trotzdem in der Ewigkeit sein. Dass Gott wo auch immer (z.B. im Nahtod-Bereich) noch Begegnungen mit Menschen haben kann, die ‘theologisch irgendwo’ sind, ist für mich völlig plausibel. Darum können wir in dieser Frage ein Stück entspannen und aufhören, sie zu brauchen, um dogmatisch die mitunter völlige Auflösung des Christentums einzufordern.
Es ist übrigens für mich völlig okay, mal etwas Dampf abzulassen. Da lernt man sich viel besser kennen! Freue mich auf das Gespräch mit dir über einem feinen frauenfelder Bier.
Das ist natürlich nicht leicht. Eine theologiegeschichtliche Einordnung wäre sicher ratsam, die von einer zeitgeschichtlichen Kontextualisierung umrahmt ist. Es gibt ja schon einige Arbeiten in diese Richtung. Ich bringe sonst ein paar mit zu unserem Gespräch, ich freue mich. 🙂
Wenn man, wie ihr, eine Fehlentwicklung nachweisen will, dann wäre das der Weg. Es müsste sich ein Muster abzeichnen und ggf. deren korrelierende Folgen evident sein.
Ich persönlich halte das aber für ausgesprochen schwierig, weil dann deutlich wird wie fluide und dynamisch Glaubenspraxis ihrem Wesen nach ist. Eine gleichbleibende Kirche, gar Freikirche hat es meines Wissens nie gegeben. Selbst die kath. oder orth. Kirchen verändern sich, mag auch ihre Verfassung und Kirchenrecht (Institution) nur sehr sehr langsam verändern. Dann kommt auch noch der Kontext ins Spiel, nicht überall auf der Welt hat der christliche Glaube die gleiche Gestalt und je nach Kontext sind die Veränderungen anders und gehen unterschiedlich schnell vonstatten.
Glaube ist wesentlich in Bewegung, gerade wenn er lebendig ist.
Daher halte ich die Begriffe Konservativ und Progressiv in diesem Zusammenhang für wissenschaftlich-theologisch wenig hilfreiche Begriffe. Ihre eigentliche Funktion ist eine politische, dort sind es stark polemisch aufgeladene Begriffe. Ich persönlich bin einfach wenig an der Polemik interessiert, sondern an wirklicher Glaubenserkenntnis. Aber ich bin mir bewusst, dass manchmal Polemik hilfreich sein kann, um politisch, gesellschaftlich, sozial Veränderung anzustossen. Theologisch ist sie aber meines Erachtens begrenzt. „Theologische“ Polemik muss gleichzeitig gut begründet sein, d.h. theologisch-wissenschaftlich, sonst ist sie nur Polemik um ihrer selbst willen. Und ob sie theologisch ist, entscheidet auch dogmatisch an ihrer sachlichen Begründung in Jesus Christus, sonst ist sie keine Theologie.
Ich denke, dass ihr damit ein sehr wichtiges Thema ansprecht. Natürlich stecken wir alle in der Gefahr, mit Halbwahrheiten unterwegs zu sein und einseitig zu denken (bzgl. Einseitigkeit hat mich zum Beispiel schon immer irritiert, dass Leute, die sich einerseits vehement gegen Abtreibung einsetzen, keine Wahrnehmung dafür haben, dass wir als Christen auch verantwortungsvoll mit der ganzen Schöpfung umgehen sollen, inklusive eines verantwortungsvollen Konsums). Ich stimme aber zu: am Ende landet „progressives Christentum“ in einer anderen Religion, weil es Bibel und Bekenntnis verachtet.
Ich freue mich schon auf eure Publikation zu den weiteren Geboten!