“Zwischenmenschliche Versöhnung ist wichtiger als das Fällen von Urteilen”

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Dieser Artikel ist Teil der 11-teili­gen Serie «Die Zehn Gebote des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums — eine kri­tis­che Unter­suchung von 10 gefährlich ver­lock­enden Halb­wahrheit­en»Hier geht es zum Anfang der Serie.


Eines der Kennze­ichen des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums ist, dass es sich weniger auf die Beziehung der Men­schen zu Gott als auf die Beziehung von Men­schen zu Men­schen konzen­tri­ert. Dieses Anliegen wird im drit­ten Gebot deut­lich: Zwis­chen­men­schliche Ver­söh­nung ist wichtiger als das Fällen von Urteilen.

Gul­ley [der Autor der die 10 ‘Gebote’ des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums ver­fasst hat] spricht von zer­broch­enen oder ent­fremde­ten men­schlichen Beziehun­gen. Die Kirche sollte mehr tun, um Beziehun­gen zu repari­eren und wieder­herzustellen. Sein­er Mei­n­ung nach ist die Kirche jedoch zu sehr damit beschäftigt, das Ver­hal­ten der Men­schen zu verurteilen. Chris­ten sollen aufhören zu urteilen und anfan­gen zu helfen.

Zunächst kön­nen wir anerken­nen, dass das Ziel, welch­es hier ver­fol­gt wird, lobenswert ist. Die Ver­söh­nung zer­broch­en­er men­schlich­er Beziehun­gen ist ein bib­lis­ch­er Grundw­ert. Die Bibel hat viel zu sagen über das Vergeben von Fehlern ander­er Men­schen (Lk 17:4), Ver­söh­nung miteinan­der (Mt 5:24, Apg 7:26), die Ver­söh­nung von Ehemän­nern und Ehe­frauen (1Kor 7:11) sowie der Besei­t­i­gung von Feind­seligkeit­en zwis­chen Grup­pen (Eph 2:16). Gul­ley hat in der Tat recht, dass die Ver­söh­nung zwis­chen Men­schen ein wichtiger Aspekt des Chris­ten­tums ist.

Das Prob­lem ist jedoch, dass Gul­ley meint, den besten Weg für Ver­söh­nung zu ken­nen. Er nimmt einen bib­lis­chen Wert und gibt diesem Wert eine deut­liche progressive/liberale Verän­derung mit auf den Weg. Ver­söh­nung zwis­chen den Men­schen wird sein­er Mei­n­ung nach am besten erre­icht, wenn die Kirche weniger damit beschäftigt ist, «Urteile zu fällen». Wenn die Kirche doch nur ihre «Urteil­skul­tur» loswer­den und aufhören würde, «Urteile und Schuldzuweisun­gen» auszus­prechen und ihre «Vor­liebe für Schwarz-Weiß-Denken und Entwed­er-Oder-Denken» aufgeben würde. Dann kön­nte die Kirche den Men­schen bess­er helfen, sich miteinan­der zu ver­söh­nen.[1]

Es kommt darauf an, was jemand mit solchen Aus­sagen wirk­lich meint. Wenn es hier um den all­ge­meinen Ton oder die Hal­tung ein­er Kirche geht, dann ist das, was hier gesagt wird, richtig. Die Kirchen müssen näm­lich darauf acht­en, selb­st inmit­ten des Umgangs mit Sünde gnädig, geduldig und barmherzig zu sein. Wenn diese Aus­sagen jedoch bedeuten, dass die Kirche das Ver­hal­ten von Men­schen nicht als sündig oder falsch beze­ich­nen sollte, dann haben wir es hier mit etwas ganz anderem zu tun. Eine der­ar­tige Vorge­hensweise hat mehrere grössere Probleme.

Zu verlangen, dass wir ein Verhalten niemals als falsch erklären dürfen, ist zutiefst unbiblisch

Die Heilige Schrift ist voll von Beispie­len, in denen das Volk Gottes bes­timmte Ver­hal­tensweisen als falsch beze­ich­net. Jesus tat dies. Paulus tat dies. Und auch wir sind dazu aufgerufen:

«Wenn dein Brud­er sündigt, dann geh zu ihm und stell ihn unter vier Augen zur Rede» (Mt 18:15).

An dieser Stelle kön­nte jemand ein­wen­den: «Aber wer bin ich, dass ich jeman­dem sage, dass er im Unrecht ist? Ich bin doch auch ein Sün­der.» Ja, das ist eine wichtige Sichtweise, die man bei diesem The­ma immer beibehal­ten sollte. Aber die Bibel ver­langt nie, dass ein Men­sch sünd­los sein muss, bevor er sich gegen die Sünde ausspricht. Per­sön­liche Vol­lkom­men­heit ist keine Voraus­set­zung, um für das Richtige einzutreten. Andern­falls wäre nie­mand in der Lage, die Sünde zu verurteilen – ein­schließlich jene (wie wir gle­ich sehen wer­den), die andere dafür verurteilen wollen, die Urteile fällen!

Die richtige Grund­lage, um etwas als sündig zu beze­ich­nen, ist nicht per­sön­liche Vol­lkom­men­heit, son­dern schlicht und ein­fach die Frage, ob Gott es als sündig ansieht.

Zu sagen, dass wir ein Verhalten niemals für falsch erklären können, ist letztendlich selbstwidersprechend

Es gibt hier eine grosse Ironie. Leute, die sagen, dass andere nicht urteilen soll­ten, tun in dem Moment genau das: sie urteilen. Sie erk­lären ein bes­timmtes Ver­hal­ten als «falsch» (in diesem Fall das Ver­hal­ten des Urteilens), während sie gle­ichzeit­ig darauf beste­hen, dass wir Ver­hal­tensweisen nicht als falsch beze­ich­nen soll­ten! Dieser Ansatz erweist sich also als zutief­st selb­st­wider­sprechend. Es ist das rhetorische Äquiv­a­lent dazu, den Ast abzusä­gen, auf dem man sitzt.

In dieser Hin­sicht ist das pro­gres­sive Chris­ten­tum das Pro­dukt des heuti­gen kul­turellen Kli­mas. Wir leben in ein­er Welt, die mehr denn je darauf beste­ht, dass wir nicht urteilen sollen. Aber wir leben gle­ichzeit­ig in ein­er Welt, die so wütend und urteilend ist, wie kaum eine der let­zten Gen­er­a­tio­nen. Wie kaum zuvor fühlen sich die Men­schen frei, ihre moralis­che Empörung oft mit Nach­druck über so gut wie jeden Miss­stand zum Aus­druck zu brin­gen (was diejeni­gen, die in den sozialen Medi­en aktiv sind, bestäti­gen kön­nen). Dabei sind sie sich schein­bar nicht bewusst, dass dieses Ver­hal­ten nicht vere­in­bar ist, mit ihrer erk­lärten Verpflich­tung, nicht zu urteilen.

Zu sagen, dass wir ein Verhalten niemals für falsch erklären können, ist zwangsläufig selektiv

Das Kuriose an der pro­gres­siv­en Forderung, dass wir nicht «urteilen» soll­ten, ist ihre selek­tive Anwen­dung dieses Prinzips. Im Bere­ich der Sex­u­alethik wird uns beispiel­sweise gesagt, dass nicht über andere geurteilt wer­den sollte. Jed­er darf sich so aus­drück­en, wie er möchte. Aber wenn es um Ras­sis­mus, Umweltschutz, Miss­brauch oder ähn­liche The­men geht, dann ist es erlaubt, über das Ver­hal­ten ander­er zu urteilen. Es ist sog­ar erforderlich!

Zu sagen, dass wir ein Verhalten niemals für falsch erklären können, untergräbt den Prozess der Versöhnung

Das grundle­gende Prob­lem des pro­gres­siv­en Ansatzes ist, dass er das eigentliche Ziel unter­gräbt, das er zu erre­ichen ver­sucht, näm­lich Ver­söh­nung. Ver­söh­nung kann nur geschehen, wenn Unrecht anerkan­nt, einge­s­tanden und bereut wird. Und damit das geschehen kann, müssen Urteile über das Ver­hal­ten von Men­schen gefällt wer­den. Und dieses Ver­hal­ten muss wirk­lich falsch sein – nicht nur falsch in den Augen ein­er Per­son. Son­st ist die ange­bliche Ver­söh­nung nur eine Täuschung.

Wir kön­nen und wollen bekräfti­gen, dass men­schliche Ver­söh­nung ein wichtiger bib­lis­ch­er Wert ist. Und wir kön­nen und wollen eben­so bekräfti­gen, dass Kirchen keinen verurteilen­den Ton oder eine verurteilende Hal­tung an den Tag leg­en soll­ten – sie soll­ten immer mit Gnade, Geduld und einem Geist der Liebe han­deln. Aber nichts davon ver­langt von uns, dass wir Gottes klare Lehre aufgeben, dass einige Dinge für richtig und andere für falsch erk­lärt wer­den sollten.

Das ist die richtige Form des Urteilens. Und das ist nichts, was wir ver­mei­den soll­ten, son­dern etwas, wozu wir aufgerufen sind. Wie der Prophet Jesa­ja sagte:

«Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nen­nen» (Jes 5:20).

Fragen zur Reflexion (nicht im Original)

Das dritte Gebot des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums lautet: «Zwis­chen­men­schliche Ver­söh­nung ist wichtiger als das Fällen von Urteilen»

  1. Was ist das Gefährliche an dieser Halbwahrheit?
  2. Wie kön­nte dieses dritte «Gebot» umfor­muliert wer­den, damit es dem entspricht, wie die Bibel lehrt? Suche zur Begrün­dung dein­er Antwort konkrete Bibelstellen.
  3. Wie passt das, was Dr. Kruger in diesem Kapi­tel sagt, zu dem, was Jesus lehrt in Mt 7:3–5? Wider­spricht Jesus dem, was Kruger in diesem Kapi­tel sagt? Wie meint es Jesus? Gibt es andere Aus­sagen von Jesus, welche diese Frage klären? Was ler­nen wir hier über die richtige Art des Urteilens?
  4. Wie kom­men wir dazu, dass wir wirk­lich den richti­gen Ton haben, wenn wir urteilen? Gibt es Stellen in der Bibel, die uns dazu Hin­weise geben? (z.B. Eph 4:23 oder Gal 6:1–5)
  5. Warum kann es wichtig sein, dass wir über ein Ver­hal­ten urteilen (siehe z.B. 3Mo 19:17–18 oder Jak 5:19–20)
  6. Wenn es stimmt, dass es manch­mal wichtig ist, über ein Ver­hal­ten zu urteilen, was bedeutet das für den Fall, wenn ein Brud­er oder eine Schwest­er in Chris­tus zu uns kom­men, um uns auf etwas aufmerk­sam zu machen? Wie sollen wir darauf reagieren?
  7. Oft sind wir unsich­er, ob etwas wirk­lich eine Sünde oder ein Unrecht ist oder nicht. Was müssen wir gemäss Dr. Kruger tun, um dies­bezüglich mehr Klarheit zu bekommen?
  8. Was nimmst du mit aus der Lek­türe dieses Kapi­tels, das dir hil­ft, in den Inhal­ten von pro­gres­siv­er Lit­er­atur oder Pod­casts bess­er unter­schei­den zu kön­nen, was bib­lisch und was nicht bib­lisch ist?

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Fussnoten:

[1] Philip Gul­ley, If the Church Were Chris­t­ian: Redis­cov­er­ing the Val­ues of Jesus (San Fran­cis­co, CA: Harper­One, 2010), Seit­en 54, 57, 61

Die Fra­gen zur Reflex­ion wur­den durch Daniel Option zusammengestellt.

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Bild: iStock

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