“Das Potenzial der Menschen zu bestätigen ist wichtiger, als sie an ihre Gebrochenheit zu erinnern”

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Dieser Artikel ist Teil der 11-teili­gen Serie «Die Zehn Gebote des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums — eine kri­tis­che Unter­suchung von 10 gefährlich ver­lock­enden Halb­wahrheit­en». Hier geht es zum Anfang der Serie.


Es gibt nur wenige The­men, die das pro­gres­sive Chris­ten­tum mehr vom his­torischen Chris­ten­tum tren­nen als die Frage der Sünde. Man muss sog­ar sagen, dass es der Ver­lust ist, die Ver­harm­lo­sung, das Ignori­eren oder manch­mal sog­ar die völ­lige Ablehnung der Sünde, die das pro­gres­sive Chris­ten­tum grundle­gend definiert.

Vor Gen­er­a­tio­nen machte Gre­sham Machen die gle­iche Beobachtung:

«Im inneren Kern der mod­er­nen, lib­eralen Bewe­gung ist der Ver­lust des Bewusst­seins der Sünde.»[1]

Damit kom­men wir zum zweit­en Gebot des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums: Das Poten­zial der Men­schen zu bestäti­gen ist wichtiger, als sie an ihre Gebrochen­heit zu erin­nern.

Die Kern­frage dieses zweit­en Gebots ist die Frage nach dem Wesen der Sünde. Sind Men­schen Sün­der? Wenn ja, ist das ein gross­es Prob­lem oder eher nicht? Mehr noch: Wie wichtig ist es, dass den Men­schen bewusst ist, dass sie Sün­der sind? Soll­ten wir es ihnen sagen? Wie kön­nen wir die Sünd­haftigkeit der Men­schen aus­bal­ancieren mit ihrem Poten­zial als Eben­bilder Gottes?

Ausbalancieren von Sünde und menschlichem Potenzial

Selb­stver­ständlich müssen wir von vorn­here­in anerken­nen, dass dieses zweite Gebot zum Teil wahr ist. In der christlichen Botschaft geht es nicht auss­chliesslich um unsere Sünde und unsere Gebrochen­heit. «Du bist ein Sün­der» ist nicht alles, was gesagt wer­den kann oder gesagt wer­den sollte. Chris­tus ret­tet uns von unser­er Sünde, ja, aber dann begin­nt er in jedem Gläu­bi­gen ein Werk der Erneuerung. Dieses Erneuerungswerk begin­nt unter anderem damit, die Schön­heit von Gottes Bild in uns wiederherzustellen.

In diesem Sinne kön­nen wir wirk­lich sagen, dass die Men­schen ein Poten­zial haben, welch­es bejaht und gefeiert wer­den sollte. Aber wir dür­fen dabei nicht vergessen, dass dies ein Poten­zial ist, welch­es nur Gestalt annimmt, durch die ret­tende Gnade Gottes und durch den Tod Christi, der unsere Sünde besiegt hat. Getren­nt von diesen Wahrheit­en das men­schliche Poten­zial zu beja­hen, verkommt schnell zu ein­er Ver­sion von human­is­tis­chem Moralismus.

Anders aus­ge­drückt: Wir müssen sowohl unsere tiefe Ver­loren­heit, als auch das erstaunliche Poten­zial beja­hen, das wir als Eben­bilder Gottes haben. Bei­des gehört zusam­men. Aber genau das ist das Prob­lem mit der pro­gres­siv­en Botschaft. Sie sind eifrig dabei, das Let­ztere zu akzep­tieren, aber zögern bei dem Ersteren. Wieder tren­nen sie, was in der Bibel ver­bun­den ist.

Ablehnung der biblischen Lehre über die Sünde

Nun kön­nte man ein­wen­den, dass nicht alle Pro­gres­siv­en die Sünd­haftigkeit der Men­schheit leug­nen. Einige Pro­gres­sive, so kön­nte man argu­men­tieren, sind dur­chaus bere­it, bei­de Wahrheit­en zu bejahen.

Aber wenn wir zu Gulley’s Buch zurück­kehren, welche die Grund­lage von Rohrs Liste ist, ent­deck­en wir schnell, dass Gul­ley selb­st nicht bei­de Wahrheit­en bejaht. Vielmehr ist es ihm aus­drück­lich und nach­drück­lich wichtig zu beto­nen, dass die his­torische Christliche Lehre über die Sünde grundle­gend falsch ist.

Denke ein­mal über Fol­gen­des nach. Gul­ley behauptet, dass Kirchen, welche die Sünd­haftigkeit der Men­schen regelmäßig lehren, sich des «geistlichen Miss­brauchs» und der «Mis­shand­lung» ihrer Leute schuldig machen.[2] Gul­ley sagt ganz offen:

«Ich bin in ein­er Tra­di­tion aufgewach­sen, welche die Sünde und die Notwendigkeit der Erlö­sung betonte. Ich fand sie nicht hil­fre­ich und beschloss, sie hin­ter mir zu lassen.”[3]

Gul­ley leugnet die Erb­sünde mit der Begrün­dung, Adam und Eva seien keine realen Men­schen gewe­sen; die Geschicht­en seien nur religiöse «Mythen». Über­haupt meint Gul­ly, man könne den Schöp­fungs­geschicht­en nicht ver­trauen, weil sie wider­sprüch­lich und inkon­sis­tent seien.[4]

Gul­ley plädiert dafür, dass wir aufhören soll­ten, «uns als elende Sün­der zu betra­cht­en, die die Ver­damm­nis ver­di­enen». Er beklagt sog­ar Hym­nen wie «Amaz­ing Grace», die davon sprechen, dass Gott Sün­der ret­tet.[5]

Ablehnung des Erlösungswerks von Christus

Die Ablehnung der bib­lis­chen Lehre über die Sünde ist eine Sache. Aber dahin­ter ver­birgt sich die Ablehnung ein­er christlichen Wahrheit, die noch grundle­gen­der ist, näm­lich dass der Zweck des Todes Jesu darin bestand, uns von unseren Sün­den zu erlösen.

Wenn man die Lehre von der Sünde ablehnt und ihre Ern­sthaftigkeit herun­ter­spielt, muss man sich auf die Suche nach einem anderen Grund machen, warum Chris­tus gestor­ben ist. Für Pro­gres­sive (zumin­d­est für solche wie Gul­ley) kann Jesus nicht am Kreuz gestor­ben sein, um für Sün­den zu bezahlen, weil dies bedeuten würde, dass Sünde eine große Sache ist. Nein, Chris­tus muss aus einem anderen Grund gestor­ben sein.

Damit kom­men wir zu einem weit­eren wichti­gen Grund­satz des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums: die Ablehnung des stel­lvertre­tenden Süh­neopfers Jesus Christi. Gul­ley sagt:

«Die Kirche hat die Erlö­sung in der Regel so ver­standen, dass wir von Sünde erlöst wer­den und in den Him­mel kom­men, wenn wir ster­ben. Aber was wäre, wenn wir glauben wür­den, dass Erlö­sung unser lebenslanger Weg zu Reife, Liebe und Ganzheit ist? Wäre das der Fall, wäre Jesus nicht der­jenige, der die Men­schheit durch sein Blu­topfer ret­tet, son­dern der­jenige, der diese Reife, Liebe und Ganzheit vorgelebt hat, der­jenige, zu dem Chris­ten schauen und sagen kön­nen: “Wir kön­nen sein wie er!”.»[6]

Wir sehen also, dass diese Ver­sion des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums nicht nur die Lehre von der Sünde ablehnt. Sie lehnt auch das Erlö­sungswerk Christi am Kreuz ab. Ein­mal mehr wird das Chris­ten­tum auf bloßen Moral­is­mus reduziert.

Das progressive Christentum (zumindest diese Version) ist kein Christentum

Was bleibt vom his­torischen, bib­lis­chen Chris­ten­tum übrig, wenn man die Lehre von der Erb­sünde, die Vorstel­lung der Sünd­haftigkeit der Men­schen und das Ster­ben von Jesus am Kreuz für unser­er Sün­den ver­wirft? Nicht viel. J. Gre­sham Machen würde sog­ar behaupten, dass das was uns dann übrig bleibt, kein Chris­ten­tum mehr ist. Es ist etwas ganz anderes.

Wir tun bess­er daran, der ein­fachen und klaren Botschaft des Apos­tels Paulus zu vertrauen:

«Zuver­läs­sig ist das Wort und würdig, vor­be­halt­los angenom­men zu wer­den: Chris­tus Jesus ist in die Welt gekom­men, um Sün­der zu ret­ten.» (1Tim 1:15)

Fragen zur Reflexion (nicht im Original)

Das zweite Gebot des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums lautet «Das Poten­zial der Men­schen zu bestäti­gen ist wichtiger, als sie an ihre Gebrochen­heit zu erinnern»

  1. Inwiefern ist dieses Gebot eine Halbwahrheit?
  2. Wie kön­nte dieses zweite «Gebot» umfor­muliert wer­den, damit es dem entspricht, wie die Bibel Jesus beschreibt?
  3. Sind dir in let­zter Zeit in sozialen Medi­en, Büch­ern, Blogs, Artikeln oder Gesprächen Aus­sagen begeg­net, die davor war­nen, zu viel über Sünde zu reden? Inwiefern bestäti­gen diese Aus­sagen die Beobach­tun­gen dieses Kapitels?
  4. Weshalb ist die Idee, dass wir wenig über Sünde und dafür mehr über das Gute im Men­schen reden sollen, möglicher­weise so attraktiv?
  5. Welch­es Prob­lem haben wir, wenn wir diesem zweit­en pro­gres­siv­en Gebot glauben oder ihm nachgeben?
  6. Welche Aus­sagen in der Bibel kennst du, welche sowohl unsere Sünd­haftigkeit und Erlö­sungs­bedürftigkeit zum Aus­druck brin­gen, als auch die wieder­her­stel­lende Wirkung der Erlö­sung von Jesus? Fol­gende Bibel­stellen kön­nten dir Hin­weise geben: Offb 1:5–6, Kol 1:12–14, 2Cor 5:17–21
  7. Was nimmst du mit aus der Lek­türe dieses Kapi­tels, das dir hil­ft, in den Inhal­ten von pro­gres­siv­er Lit­er­atur oder Pod­casts bess­er unter­schei­den zu kön­nen, was bib­lisch und was nicht bib­lisch ist?

Fussnoten:

[1] J. Gre­sham Machen, Chris­tian­i­ty and Lib­er­al­ism (Grand Rapids, MI: Eerd­mans, 2009), Seite 64
[2] Philip Gul­ley, If the Church Were Chris­t­ian: Redis­cov­er­ing the Val­ues of Jesus (San Fran­cis­co, CA: Harper­One, 2010), Seit­en 40 und 30
[3] Gul­ley, Seite 33
[4] Gul­ley, Seit­en 37–40
[5] Gul­ley, Seit­en 44 und 43
[6] Gul­ley, Seit­en 44, meine Hervorhebungen

Die Fra­gen zur Reflex­ion wur­den durch Daniel Option zusammengestellt.

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Bild: iStock

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