“Frieden stiften ist wichtiger als Macht”

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Dieser Artikel ist Teil der 11-teili­gen Serie «Die Zehn Gebote des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums — eine kri­tis­che Unter­suchung von 10 gefährlich ver­lock­enden Halb­wahrheit­en»Hier geht es zum Anfang der Serie.


Men­schen, die mit insti­tu­tioneller Reli­gion frus­tri­ert sind, denken vielle­icht schnell, dass es den Leit­ern in Kirchen vor allem darum geht, ihre eigene Macht zu erhal­ten. Es kön­nte sog­ar der Ein­druck entste­hen, dass Kirchen in beson­der­er Weise machthun­grige Men­schen anziehen, die sich über andere erheben wollen. Das achte Gebot des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums soll diesem Prob­lem ent­ge­gen­wirken: Frieden stiften ist wichtiger als Macht.

Zuerst müssen wir anerken­nen, dass vieles in diesem acht­en Gebot richtig ist. Gott ruft Lei­t­ende in Kirchen nicht zur plumpen Selb­ster­hal­tung auf, son­dern zum demüti­gen, opfer­bere­it­en Dienst. Petrus fordert die Leit­er auf:

«Hütet die Herde Gottes als gute Hirten, und das nicht nur aus Pflicht­ge­fühl, son­dern aus freien Stück­en. Das erwartet Gott. Seid nicht darauf aus, euch zu bere­ich­ern, son­dern arbeit­et gern, auch ohne Gegen­leis­tung. Spielt euch nicht als die Her­ren der Gemeinde auf, son­dern seid ihre Vor­bilder.» (1Pe 5:2–3).

Gul­ley begrün­det seinen Vor­wurf, indem er mehrere Beispiele nen­nt von schlechter Leit­er­schaft in Kirchen, wo Pas­toren und Leit­er nach Kon­trolle streben und bere­it sind, andere zu überge­hen. Ich bin mir sich­er, dass die meis­ten Chris­ten ähn­liche Geschicht­en aus ihrer eige­nen Erfahrung erzählen kön­nten. Doch wie in den vor­ange­gan­genen Kapiteln hat Gul­ley manch­mal zwar die richtige Diag­nose, aber die falsche (oder bekla­genswert unvoll­ständi­ge) Lösung. Wir wer­den sehen, dass Gul­ley die Kirche reini­gen will von schlechter Autorität, indem er einen über­mäs­si­gen egal­itären Ansatz von Leitung anbi­etet, der dazu führt, dass der Kirche am Ende der Autorität beraubt wer­den kön­nte, die sie wirk­lich braucht.

Autorität vs. Autoritarismus

Gul­ley macht einen wichti­gen Unter­schied zwis­chen Autorität und Autori­taris­mus. Während Ersteres legit­im ist, ist Let­zteres zer­störerisch. Autori­taris­mus ist eine dominierende, von oben nach unten gerichtete, fast miss­bräuch­liche Form von Leitung, die dem Einzel­nen und der Kirche als Ganzes schaden kann. Jesus selb­st erkan­nte die Gefahren ein­er autoritären Führung:

«Ihr wisst, dass die Herrsch­er über die Völk­er sich als ihre Her­ren auf­führen und dass die Völk­er die Macht der Großen zu spüren bekom­men. Bei euch soll es nicht so sein. Im Gegen­teil: Wer unter euch groß wer­den will, soll den anderen dienen; wer unter euch der Erste sein will, soll zum Dienst an den anderen bere­it sein» (Mt 20:25–26).

Gul­ley hat auch Recht, wenn er vorschlägt, dass autoritäre Führung eher früher als später ange­gan­gen wer­den sollte: «Je früher ein Autori­taris­mus in Frage gestellt wird, desto gesün­der wird die Kirche sein».[1]

Aber es stellt sich sofort die Frage: Woher weiss man, ob eine Leitung einen Autori­taris­mus auslebt? Gul­ley bietet eine hil­fre­iche Über­legung an: «Baut sie andere auf oder erniedrigt sie sie?»[2] Darin spiegeln sich die Worte des Paulus wider:

«Ich kön­nte noch einen Schritt weit­er gehen und auf die Voll­macht hin­weisen, die der Herr uns ver­liehen hat – die Voll­macht, euch als Gemeinde aufzubauen, und nicht etwa, euch zugrunde zu richt­en.» (2Kor 10:8).

Wir wer­den nun aber sehen, dass viel davon abhängt, was man als ‘Auf­bauen’ und was als ‘Nie­der­ma­chen’ versteht.

Wie sieht eine legitime Autorität aus?

Zwar ist Gul­ley dafür zu loben, dass er autoritäre Führung anprangert, doch bleiben einige Fra­gen darüber offen, wie die Ausübung guter Autorität aussieht. Was ist das Aus­mass legit­imer Autorität der Kirche?

Hier wer­den die Dinge ein wenig unscharf. Wir kön­nten uns zum Beispiel fra­gen, ob die Kirche (oder ihre Leit­er) die Autorität hat, falsche Lehre zu verurteilen. Kön­nen Kirchen­führer ihre Autorität nutzen, um Wahrheit zu vertei­di­gen und Irrtum zu verwerfen?

Es scheint, dass Gul­ley nicht dieser Mei­n­ung ist. Er erzählt die Geschichte ein­er Pas­torin, die von einem Komi­tee wegen Bedenken hin­sichtlich ihrer pro­gres­siv­en The­olo­gie unter­sucht wurde. Nach Gul­leys Ansicht war die Befra­gung selb­st ein Macht­miss­brauch: «[Das Komi­tee] wech­selte von echter Autorität zur Ausübung autoritär­er Autorität, vom Auf­bauen ander­er zum Nieder­reißen ander­er». Im Auss­chuss, so Gul­ley, ging es nur noch um «Befehl und Kon­trolle».[3]

Inwiefern ist denn die Aufrechter­hal­tung ein­er gesun­den Lehre ein Miss­brauch von Autorität? Hat die Kirche keine Kon­trolle darüber, was gelehrt wird? Sagt Paulus nicht zu Titus, dass es die Auf­gabe eines Leit­ers in der Kirche ist, «in gesun­der Lehre zu unter­weisen und auch die zurechtzuweisen, die ihr wider­sprechen» (Tit 1:9)? Und brauchen nicht alle Autoritäten, selb­st die legit­i­men göt­tlichen Autoritäten, immer noch ein gewiss­es Mass an «Führung und Kon­trolle»? Wenn sie das nicht tun, sind sie dann über­haupt noch Autoritäten?

Solche Ver­wirrung und Wider­sprüch­lichkeit wirft Fra­gen zu Gul­leys Auf­fas­sung von kirch­lich­er Autorität auf. Es scheint fast so, als ob jede Ausübung von Autorität als unangemessen, tyran­nisch oder als etwas dazwis­chen ange­se­hen wird. Solche Ansicht­en sind im pro­gres­siv­en Chris­ten­tum nicht ungewöhn­lich. Wie wir in früheren Kapiteln gese­hen haben, hat das pro­gres­sive Paket in seinem Kern eine aus­geprägte anti­au­toritäre Stim­mung. Nie­mand kann uns vorschreiben, was wir zu tun oder zu glauben haben (obwohl sich iro­nis­cher­weise Gul­leys ganzes Buch darum dreht, was wir tun und glauben sollen)!

Was bedeutet es, nach Frieden zu streben?

Wenn Men­schen in der Kirche gemäss Gul­ley nach Frieden statt nach Macht streben soll­ten, was genau ist damit gemeint? Inter­es­san­ter­weise nutzt Gul­ley die Gele­gen­heit, für den Paz­i­fis­mus zu plädieren und die amerikanis­che Kirche für ihre Unter­stützung des Mil­itärs zu tadeln. Frieden ist gemäss Gul­ley also wieder ein­mal rein hor­i­zon­tal zu ver­ste­hen. Es ist der Frieden zwis­chen den Natio­nen. Es ist die Abwe­sen­heit mil­itärisch­er Konflikte.

Wenn wir die Frage des Paz­i­fis­mus bei­seit­e­lassen (hier ist kein Platz, um darauf einzuge­hen), kön­nen wir auf jeden Fall zus­tim­men, dass die Ver­söh­nung zer­broch­en­er men­schlich­er Beziehun­gen ein grundle­gen­der bib­lis­ch­er Wert ist. Wir haben bere­its fest­gestellt, dass die Bibel an unter­schiedlichen Orten davon spricht, einan­der zu vergeben (Lk 17:4), sich miteinan­der zu ver­söh­nen (Mt 5:24; Apg 7:26), sich in der Ehe zu ver­söh­nen (1Kor 7:11) und Feind­seligkeit­en zwis­chen Grup­pen aus dem Weg zu räu­men (Eph 2:16).

In Gul­leys Analyse fehlt jedoch jede Über­legung darüber, wie dieser hor­i­zon­tale Frieden erre­icht wer­den kann. Geben wir uns ein­fach mehr Mühe? Soll die Kirche zu ein­er Miniat­u­raus­gabe der UNO wer­den? Protestieren wir gegen die ver­schiede­nen Kriege und bewaffneten Kon­flik­te in der Welt?

Die Heilige Schrift gibt eine Antwort auf die Frage, wie Frieden erre­icht wer­den kann:

«Denn er [Jesus] ist unser Friede, der aus bei­den eins gemacht hat und hat den Zaun abge­brochen, der dazwis­chen war, indem er durch sein Fleisch die Feind­schaft weg­nahm» (Eph 2:14).

Die Kraft, einan­der zu lieben und das Band des Friedens zu bewahren, begin­nt mit dem Ver­ständ­nis der Liebe Gottes zu uns in Chris­tus. Let­zteres ist die Grund­lage für Ersteres.

«Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat» (1Joh 4:19).

Mit anderen Worten: Der hor­i­zon­tale Frieden (zwis­chen Men­sch und Men­sch) begin­nt damit, dass wir unser Bedürf­nis nach ver­tikalem Frieden (zwis­chen Gott und Men­sch) erken­nen. Und nur Jesus kann einen solchen ver­tikalen Frieden mit Gott schaffen.

Bemerkenswert­er­weise scheint sich Gul­ley nicht dafür zu inter­essieren, wie Jesus Frieden bringt. Für ihn ist Frieden ein rein poli­tis­ches und soziales Konzept. Auch hier reduziert sich das pro­gres­sive Chris­ten­tum mit seinem Desin­ter­esse an der Lehre – und damit auch Desin­ter­esse an Jesus – auf blossen Moralismus.

Richtiges Problem, falsche Lösung

Gul­ley hat Recht, wenn er auf die Prob­leme mit autoritären Kirchen­leit­ern hin­weist, die über die Herde herrschen, anstatt sie behut­sam zu leit­en. Solche Leit­er kön­nen einzel­nen Mit­gliedern und der Kirche als Ganzes schw­eren Schaden zufü­gen. Doch während Gul­ley mit sein­er Diag­nose richtig liegt, bleiben Zweifel an der von ihm vorgeschla­ge­nen Lösung. In dem Bemühen, die Kirche von autoritären Leit­ern, wie er sie ver­ste­ht, zu befreien, müsste sich die Kirche ganz grund­sät­zlich jeglich­er Autorität entledi­gen. Iro­nis­cher­weise macht Gul­ley die Kirche damit noch anfäl­liger für miss­bräuch­liche Per­so­n­en und falsche Lehren.

Schlechte Leit­er­schaft wird nicht dadurch gelöst, dass es keine Leit­er­schaft gibt. Stattdessen muss schlechte Leit­er­schaft durch gottge­fäl­lige, san­fte, chris­tuszen­tri­erte Leit­er­schaft erset­zt werden.

Außer­dem denkt Gul­ley weit­er­hin nur in hor­i­zon­tal­en Kat­e­gorien. Ohne Jesus und ohne die gute Nachricht des Evan­geli­ums ver­mag er nicht zu erk­lären, wie die müh­same und fast unmögliche Auf­gabe des Friedenser­halts erfüllt wer­den kann. Offen­bar sollen sich die Ort­skirchen ein­fach mehr anstren­gen und mehr tun.

Diese Art der Friedenssicherung wird zu einem moral­is­tis­chen Joch um unseren Hals – ein Pflug, den wir aus eigen­er Kraft ziehen müssen. Wir täten bess­er daran, uns an Jesus zu wen­den, welch­er der grosse Friedens­bringer ist. Dieser beschenkt uns gerne:

«Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.» (Joh 14:27).

Fragen zur Reflexion

Das achte Gebot des pro­gres­siv­en Chris­ten­tums lautet: «Frieden stiften ist wichtiger als Macht»

  1. Kennst du Beispiele von Autori­taris­mus in der Kirche? Kannst du auch Beispiele gut aus­gelebter Autorität in der Kirche nennen?
  2. Welch­es Kri­teri­um nen­nt Gul­ley, das uns helfen kann, Autori­taris­mus von Autorität zu unter­schei­den? Ist Kruger ein­ver­standen mit ihm?
  3. Wo sieht Kruger das Kern­prob­lem bei diesem acht­en pro­gres­siv­en ‘Gebot’?
  4. Welche Bibel­stellen kom­men in den Sinn, die eine Verbindung schaf­fen zwis­chen der ver­tikalen Ver­söh­nung (Gott-Men­sch) und der hor­i­zon­tal­en Ver­söh­nung (Men­sch-Men­sch)? Lies z.B. Gal 2:28, Jes 9:6; 1Pet 2:1–8; Eph 4.1–6 und wende diese Bibel­stellen auf die Kon­flik­te in deinem eige­nen Leben und dein­er Gemeinde an.
  5. Was nimmst du mit aus der Lek­türe dieses Kapi­tels, das dir hil­ft, in den Inhal­ten von pro­gres­siv­er Lit­er­atur oder Pod­casts bess­er unter­schei­den zu kön­nen, was bib­lisch und was nicht bib­lisch ist?

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Fussnoten

[1] Philip Gul­ley, If the Church Were Chris­t­ian: Redis­cov­er­ing the Val­ues of Jesus (San Fran­cis­co, CA: Harper­One, 2010), Seite 146
[2] Gul­ley, Seite 144
[3] Gul­ley, Seite 145

Die Fra­gen zur Reflex­ion wur­den durch Daniel Option zusammengestellt.

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Bild: iStock

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