Es waren unter anderem protestantische Pastoren, welche in den 60er Jahren die Legalisierung der Abtreibung in den USA vorwärtstrieben. Christliche Theologen und Ethiker lieferten die moralische Rechtfertigung und die theologischen Argumente, um ungeborenes Leben zu töten.
Wer liebt, wird das richtige tun. In diesem Fall: einer Frau in Not mit einer Abtreibung zu helfen. In etwas so kann die Theologie und Ethik beschrieben werden, welche Pastoren in den 60er Jahren motivierte, schwangeren Frauen auf illegale Weise eine Abtreibung zu ermöglichen.
Einer dieser Abtreibungs-Aktivisten war Rev. Howard Moody, welcher 1967 das Clergy Consultation Service on Abortion (Deutsch: ‘Pastoraler Beratungsdienst bezüglich Abtreibung’) ins Leben rief, welches bis zur Legalisierung von Abtreibung 1973 hunderttausende illegaler Abtreibungen vermittelte. Im Buch «Sacred Work» bezeichnet der Autor Tom Davis – selbst ordinierter Pfarrer – den Einsatz dieser Aktivisten im Talar als ‘heilige Arbeit’[1] – als zutiefst geistliches und moralisch vorbildliches Handeln. Die kirchlichen Handlanger der Abtreibung seien das perfekte Beispiel eines handelnden Glaubens und in einer Linie mit den grossen Menschenrechts-Bewegungen[2].
Wie konnte es nur soweit kommen, dass das Auslöschen von unschuldigem und wehrlosem menschlichen Leben als Akt von Liebe gewertet wird? Ich persönlich mache keinen Hehl daraus, dass ich Abtreibung äusserst kritisch gegenüber stehe und sie als Übertretung des Tötungsverbotes Gottes sehe (2 Mo 20:13). Aus meiner Sicht besitzt das Leben eines ungeborenen Kindes unantastbare Würde – ist also ‘heilig’. Ich sehe eigentlich kaum Gründe, welche eine Abtreibung rechtfertigen könnten[3]. Dass Abtreibung auch heute noch als heiliges Handeln dargestellt wird von religiösen Leitern[4], welche sich Christen nennen, erfüllt mich mit an Abscheu grenzendem Unverständnis. Doch auch deren Haltung hat ihren Hintergrund ihre theologische und moralische Rechtfertigung. Ich möchte versuchen diese nachzuvollziehen.
Die Liebe als Kompass
Viele protestantischen Theologen hatten in den 60er Jahren genug von Gesetzen, Vorschriften und Moral. Sie wollten sich in ihrem Denken ganz nach dem Kompass der Liebe orientieren, sich ihren Mitmenschen zuwenden. Die folgenden Worte des anglikanischen Bischofs John A. T. Robinson aus dem Jahre 1963 fassen die Ansicht dieser Theologen gut zusammen[5]:
«Die Liebe hat einen innewohnenden Kompass, welche sie intuitiv auf das tiefste Bedürfnis des anderen ausrichten wird. Deshalb kann die Liebe allein sich erlauben, sich selbst ganz durch die Situation lenken zu lassen.»
Vorausgegangen waren Jahrzehnte, in denen im Rahmen moderner Bibelkritik die biblischen Schriften ‘demystifiziert’ und Vorstellungen von Gott entsprechend angepasst wurden. Die Zeit einer ‘Gott ist tot’-Theologie[6] und einer ‘neuen Moral’[7] war gekommen. Es war Zeit, sich nur noch an der Liebe zu orientieren. Alles andere war verhandelbar. Gott konnte an vielen Orten gesucht werden, nur lieber nicht in der verstaubten Bibel mit ihren Geboten und Verboten und ihrem Bild eines persönlichen, allmächtigen Schöpfergottes. Vielmehr wollte man das Göttliche unter den Menschen suchen, im Hören auf die innere Stimme und den Geist der Zeit.
Erstmal – und das scheint mir tatsächlich wichtig – muss man sich der reellen Herausforderungen bewusst sein, welche ungewollte oder ungeplante Schwangerschaften in den USA der 60er Jahre mit sich bringen konnten. Die soziale Ächtung unverheirateter Mütter war vielerorts eine gesellschaftliche Tatsache. Daneben gab es auch sehr greifbare gesetzliche Missstände. So gab es zum Beispiel keinen arbeitsrechtlichen Schwangerschaftsschutz. Eine arbeitstätige Frau, welche Schwanger wurde, musste davon ausgehen, dass sie ihre Arbeit verliert[8]. Dazu kamen die gesundheitlichen Risiken illegaler Abtreibungen.
Gesellschaftliche Ausgrenzung, drohende soziale Benachteiligung und eine potentiell gesundheitsgefährdende ‘Lösung’ des Problems – das war eine Kombination die wohl tatsächlich viele Frauen in die Verzweiflung getrieben hat. Die ‘Pastoren für Abtreibung’ engagierten sich in der Regel auf allen Seiten dieser herausfordernden Realität. Sie sahen folgende Lösungen:
- Eine liberalisierte Sexualethik könnte zu einer gesellschaftlichen De-Stigmatisierung von ungeplant schwangeren Singlefrauen führen.
- Der Kampf um verbesserte Arbeitsrechte für Frauen würde die finanzielle Notlage lindern, welche mit einer Schwangerschaft einhergehen konnte.
- Legalisierte Abtreibung war die Möglichkeit, gesundheitliche Risiken zu vermindern für Frauen, die ihr Kind nicht haben wollten.
Für diese ‘Lösungsansätze’ fanden sie ihre Inspirationsquellen zum einen in der Social Gospel Bewegung und zum anderen in der sogenannten ‘Neuen Moral’ mit ihrer ‘Situationsethik’, welche in den 60er Jahren in den Kreisen fortschrittlich gesinnter liberaler Theologen zu finden war.
Social Gospel – sozialer Aktivismus für die Wiederkunft Christi
Ein wichtiger Hintergrund, um den radikalen Sozialaktivismus von Howard Moody und seiner Pastorenfreunde zu verstehen, ist die Social Gospel – Bewegung. Diese Bewegung hatte in den ersten Jahrzenten des 20. Jahrhunderts grossen Einfluss auf die traditionellen protestantischen Denominationen in den USA (die sogenannten Mainline Churches) und inspirierte Moody und seine Freunde zum einem Leben im Dienst an den Menschen.
Ausgangspunkt für diese Bewegung waren die grossen sozialen Missstände des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Industrialisierung, grosse Zuwanderungsströme und Verstädterung brachten in den USA soziale Probleme wie Kinderarbeit, Alkoholismus oder Armut mit sich. Die Social Gospel Bewegung wollte diese Probleme aktiv angehen. Geprägt war die Bewegung von einer ‘Yes we can’ – Mentalität. Die gesellschaftlichen Probleme sollten – motiviert vom christlichen Glauben — angepackt und gelöst werden. Die Bewegung war vom Wunsch geprägt, das ‘Reich Gottes auf Erden’ in Form einer besseren, gerechteren, ‘geheiligten’ Gesellschaft zu etablieren.
Als ‘Grundübel’ der Menschheit wurden dabei zusehends nicht die persönlichen Defizite des Individuums gesehen (individuelle ‘Sünden’), sondern gesellschaftliche und strukturelle Aspekte (kollektive ‘Sünden’). Folglich bestand das Bekämpfen von Sünde für die Pastoren der Social Gospel Bewegung vor allem im Implementieren von sozialen Programmen und gesellschaftlichen Reformen, weniger im Ruf zu individueller Busse und Umkehr. Die sozialen Strukturen im Land sollten ‘christianisiert’ werden. Dies führte zu einem zunehmend politisch geprägten kirchlichen Denken, welches tendenziell sozialistisch gelagert war und die ökumenische Zusammenarbeit forcierte. Die engagierte und geeinte Kirche würde eine perfekte, geheiligte Welt schaffen und damit die Bühne für die Wiederkunft Christi bereiten[9]. Prägend für die Bewegung war neben den sozialen Anliegen auch ihr zunehmender theologischer Liberalismus und eine tendenziell unkritische Übernahme zeitgeistiger Philosophien und Pseudowissenschaften[10]. In der grossen theologischen Debatte ihrer Zeit – der Fundamentalist vs. Modernist Kontroverse – standen die Social Gospel Vertreter auf der Seite der Modernisten, also der Kräfte die sich als fortschrittlich und den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft zugewandt sahen.
Rev. Howard Moody sieht sich mit seinem Engagement für Abtreibung in der Tradition von Social Gospel Grössen wie Walter Rauschenbusch oder Harry Emerson Fosdick[11]. Er sieht sich ebenfalls in der ehrenvollen Tradition der Abolitionisten, welche sich im 19. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten. Dazu gehörte auch das Empfinden einer moralischen Verpflichtung, welche höher zu gewichten ist als Gesetz oder gesellschaftliche Konventionen. Lawrence Lader, der Mastermind hinter der Kampagne zur Legalisierung von Abtreibung, beschreibt in einer Rückblende die öffentliche Entrüstung, welche die illegale Kampagne von Howard Moody in konservativen Kreisen auslöste[12]:
«Jemand hatte sich am System vergriffen. Jemand hatte darauf bestanden, wie ein Abolitionist im Jahr 1850, dass egal wie der Wortlaut des Gesetzes war, es ein höheres und moralisch verpflichtendes Gesetz gab. Dieses verlangte, das keine Frau in eine ungewollte Schwangerschaft oder in den alternativen Horror einer illegalen Abtreibung gezwungen werden durfte.»
Nun, die unmittelbare Situation der betroffenen Frauen mag sich durch die Abtreibungsmassnahme tatsächlich verbessert haben. Der Job wurde nicht gekündigt. Die öffentliche Schande wurde vermieden. Die Abtreibung erfolgte nicht mehr durch einen Hinterhof-Quacksalber. Aus der Perspektive von Moody und seiner Pfarrkollegen wurde durch Abtreibung die Lage der Frauen verbessert und damit das Liebesgebot in einer ganz konkreten Notlage umgesetzt.
Man darf sich natürlich fragen, ob dem wirklich so ist. Es gibt mittlerweile doch diverse Untersuchungen, welche auf langfristige psychischen Folgen von Abtreibungen hinweisen[13]. Ebenso ist zunehmend auch wissenschaftlich erforscht, dass es sich beim Fötus nicht einfach um lebloses Zellgewebe handelt, sondern um ein menschliches Wesen, welches zum Beispiel schon sehr früh in der Schwangerschaft Schmerz empfindet[14].
Dass das Wissen um die frühen Entwicklungsstadien des Fötus durchaus auch vor 50 Jahren schon vorhanden war, beweist die aufwühlenden Reportage des Journalisten Nick Thimmesch, erschienen 1973 im Newsweek Magazine[15]. Darin berichtet er von den Zuständen in Abtreibungskliniken mit ihren in Plastiksäcken entsorgten Babys und prangert eine von Utilitarismus geprägte ‘Binge-Kultur’ bei Abtreibungen an. Auch für ihn ist damals klar, dass es sich beim Fötus nicht einfach um ein Gewebe handelt:
«Schau jenseits der politischen Argumente zum Fötus und zu dem, was die Ärzte diesem antun. Der Herzschlag eines ungeborenen Babys fängt zwischen dem 18ten und 25ten Tag an, Hirnwellen können nach sieben Wochen bereits gemessen werden, mit neun bis 10 Wochen bewegen sie ihre Augen, schlucken und machen die Faust. Schau dir die wunderbaren Photographien an und entdecke menschliches Leben. Sollten diese kleinen Menschen getötet werden, ausser um das Leben der Mutter zu retten?»
Wenn man der Bibel vertraut oder Eltern Glauben schenkt – dann weiss man, dass ungeborene Kinder auch Emotionen wie Freude erleben, welche ganz klare personale Eigenschaften sind. Nirgends wird dies so deutlich wie im biblischen Bericht über die Begegnung von Elisabeth und Maria (vgl. Lk 1:44):
«Denn siehe, sowie der Klang deines Grußes in mein Ohr drang, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib.»
Und noch ein weiteres: Eigentlich sollte zumindest Christen einleuchten, dass der beste Weg zur Vermeidung einer ungewollten Schwangerschaft in der Pflege eines dementsprechenden Sexuallebens ist. Das fünfte Gebot (Du sollst nicht töten) müssen diejenigen nicht durch Abtreibung brechen, die das zehnte Gebot (Du sollt nicht begehren…) oder das sechste Gebot (du sollst nicht ehebrechen) zu Herzen nehmen.
Doch von einer solch ‘moralistischen’ Sichtweise wollten Moody und seine Freunde nichts wissen. Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass die Nächstenliebe von Howard Moody und seiner Pastorenkollegen einseitig nur von der Mutter her gedacht ist und das Kind als lebendiges menschliches Wesen mit eigener Würde nicht im Blick hat. Die Tötung des ungeborenen Kindes wird moralisch legitimiert, indem es entmenschlicht wird. Zu Hilfe kommen ihnen die damaligen Trends in der Gilde der liberalen Theologen: neue ‘Neue Moral’ und ‘Situationsethik’.
Die neue Moral
Zu den wichtigsten Protagonisten von Neuer Moral und Situationsethik zählen der US-Theologe und Ethiker Joseph Fletcher (1905–1991) und der bereits erwähnte anglikanische Bischof John A. T. Robinson (1919–1983). Letzterer sorgte mit seinem Buch ‘Honest to God’ für einen äusserst kontroversen[16] Bestseller[17], während Fletcher mit seinen Überlegungen zu ethischen Fragen die Gemüter erhitze.
Neben der Social Gospel Bewegung kann die Situationsethik als zweiter wichtiger Einfluss auf Howard Moody und seine Mitstreiter gewertet werden[18]. Auch in Lawrence Laders einflussreichem Buch «Abortion» findet Fletcher dreimal Erwähnung[19]. Fletcher ist der Theologe hinter den Argumenten, welche Lader, Moody und seine Freunde ins Feld führen, um Abtreibung moralisch zu legitimieren. Seine Argumente nehmen ein erstes Mal Gestalt an in seinem Buch ‘Morals and Medicine’ aus dem Jahre 1955. Der grosse Durchbruch gelingt ihm 1966 mit seinem Buch ‘Situation Ethics – The New Morality».
Die Ethik von Fletcher baut auf einer Ablehnung von Richtig und Falsch und dem praktizieren von Liebe als einzig relevanter Norm, welche das Gesetz ersetzt. Nur die Liebe sei immer gut. Man müsse sich von der ‘toten Hand des Gesetzes ‘freischneiden’[20]. Ethische Entscheidungen müssten sich aus dem Kontext einer Handlung heraus ergeben. Die neue Moral der Situationsethik besagte, dass jede Handlung sowohl richtig als auch falsch sein könne, abhängig von der Situation.[21]
Zugespitzt gesagt bedeutet die Haltung von Fletcher: Du darfst deine Ehe brechen (6. Gebot), solange es aus Liebe geschieht. Und wenn aus diesem Ehebruch ein Kind entsteht, dann darfst du es auch töten (5. Gebot), wenn dadurch eine Verbesserung der Situation für die Beteiligten entsteht.
Die Ethik von Fletcher hält nichts mehr von den 10 Geboten als offenbartem Willen Gottes und Richtschnur für das Zusammenleben der Menschen. Zurück bleibt das Liebesgebot als Leerformel zur inhaltlichen Ausgestaltung durch den Menschen. Das Liebesgebot regiert. Aber die Deutung dessen, was nun die Liebe fordert, bleibt dem Individuum in seiner spezifischen Situation überlassen. Bei Fletcher selbst hat die Ausformulierung von Liebe in konkreten Situationen dann sehr viel mit Utilitarismus und Pragmatismus zu tun[22]. Gut ist, was nützt, und was nach menschlichem Ermessen zur Steigerung der Zufriedenheit der betroffenen Personen dient.
Das Buch von Bischof John Robinson, welches bereits 1963 die Ideen von Fletcher ausführlich einem grossen Publikum vorstellte, gibt einen guten Einblick in die theologische Grosswetterlage jener Zeit. Gott dürfe in einem säkularisierten und aufgeklärten Zeitalter nicht mehr im Sinne eines transzendenten Gottes verstanden werden, der unabhängig von Raum, Zeit und Schöpfung existiere, der durch sein offenbartes Wort (Bibel) konkret zu den Menschen spricht und durch die Kirche seine Stimme in der Gesellschaft erklingen lässt. Vielmehr brauche es eine Umkehrung: Gott müsse in der Kultur und unter den Menschen selbst gesucht werden. Anstatt mit rechtgläubigen Glaubensaussagen den letzten Überresten an treuen Schäfchen zu hüten solle die Kirche eine radikale Neuformatierung in Glaubensfragen vollziehen und die fundamentalsten Vorstellungen in Theologie und Religion, wie zu Beispiel eben die Vorstellung eines Gottes mit übernatürlichen Kapazitäten, einschmelzen und ganz auf eine in Liebe gegründete Freiheit des Menschen setzen.[23]
Eine wichtige Erscheinung jener Zeit war der zunehmende Einfluss der sogenannten Prozesstheologie, welche auch als Panentheismus bezeichnet werden kann. Diese sieht Gott und den Menschen als einer gemeinsamen evolutionären Dynamik unterworfen. Prinzipien der Evolution werden auf geistliche Realitäten übertragen. Nicht nur der Mensch entwickelt sich, sondern auch Gott. Für Fletcher ist dies eine Inspirationsquelle. So zitiert er zur Eröffnung seiner «Situation Ethics» den Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead, den Begründer der Prozessphilosophie:
«Die einfältige Verwendung von Vorstellungen von «Richtig und Falsch» ist eine der grössten Hindernisse zum Prozess des Verständnisses»
Prozess-Denken wirkt sich, wie es scheint, auf das Menschenbild von Fletcher aus. Dieses Zitat aus «Morals and Medicine» ist ein gutes Beispiel dafür[24]:
«Theologisch gesehen kann gesagt werden, dass Persönlichkeit nicht durch ein göttliches Machtwort entsteht, sondern durch einen göttlich inspirierten Prozess der Entwicklung in menschlichen Organismen, genauso wie menschliches Bewusstsein selbst eine relativ späte Entwicklung im evolutionären Prozess ist. Menschen WERDEN zu Personen, sie müssen sich aber erst die entsprechenden Qualitäten einer Persönlichkeit zulegen.»
Für Fletcher ist auch der Mensch selbst einfach ein Prozess. Deshalb kann ihm nicht zu jedem Zeitpunkt der gleiche Wert, die gleiche Würde beigemessen werden. Der Mensch hat keinen intrinsischen Wert, sondern sein Wert hängt von seiner Entwicklung ab. Deshalb sah Fletcher Abtreibung auch nicht als Tötung, wie er in einem Fallbeispiel festhält[25]:
«Sie würden, so hoffe ich, argumentieren, dass es keine Tötung ist, weil da kein menschliches Leben in einem Embryo ist in der frühen Phase der Schwangerschaft…»
Eine Person zu sein bedeutete für Fletcher die ‘Fähigkeit intelligenter Handlungen zu haben’.[26] In späteren Jahren würde er 15 Parameter definieren, welche aus seiner Sicht einen lebenswerten Menschen definieren. Darunter zum Beispiel ein bestimmter Intelligenzquotient, Zeitgefühl, Beziehungsfähigkeit usw.[27] Das Ungeborene Kind sollte nach Fletcher als ‘vor-personaler Organismus’[28] betrachtet werden ohne Persönlichkeitswert.
Gleich argumentiert Fletcher bezüglich dem Ende des menschlichen Lebens. Die Fragen von Abtreibung und Euthanasie sind aus seiner Sicht untrennbar miteinander verbunden.[29] Ab dem Ende der 60er Jahre setzt er sich deshalb auch konsequent für aktive Sterbehilfe und Euthanasie ein, auch von geistig behinderten Menschen.[30] In einer Besprechung über den würdevollen Tod meint er:
«Es ist lächerlich, ethische Zustimmung zur Position zu geben, dass vor-personales Leben im Mutterleib aus Gnade und Barmherzigkeit beendet werden kann, aber sich zu weigern, vor-personales Leben am Ende des Lebens zu beenden. Wenn wir moralisch verpflichtet sind, eine Schwangerschaft zu beenden, weil eine Punktion der Fruchtblase einen schwer defekten Fötus diagnostiziert, dann sind wir gleichermassen verpflichtet, der hoffnungslosen Misere eines Patienten ein Ende zu setzen, wenn ein Hirn Scan aufzeigt, das der Krebspatient fortgeschrittene Metastasen hat.»
Im Weltbild von Fletcher ist qualitativ ‘minderwertiges’ Leben zur Tötung freigegeben. Man wird unweigerlich an die Zeiten erinnert, wo sogenannt ‘lebensunwertes Leben’[31] im Rahmen eugenischer Rassengesetze im Dritten Reich ausgelöscht wurde. Treibend im Denken von Fletcher ist dabei nicht nur die Vorstellung des Menschen als evolutionäres und deshalb wertrelatives Wesen, sondern auch seine Vorstellung, dass die Evolution als universeller Prozess die Ablösung gewisser gesellschaftlicher Werte durch neue mit sich bringt[32]:
«Ein Weg es zu formulieren ist zu sagen, dass die traditionelle Ethik auf der HEILIGKEIT des Lebens basierte – das war die klassische Lehre des medizinischen Idealismus in seiner vorwissenschaftlichen Phase. Dieses muss aus humanen Gründen abgelöst werden durch eine Ethik der QUALITÄT des Lebens. Die Ablösung ist ein Resultat der Errungenschaften der modernen Medizin, nicht ihrer Niederlagen. Neue Möglichkeiten bedeuten neue Verantwortungen.»
Dass Fletcher die alten Gebote der Bibel herzlich wenig bedeuteten, dürfte nach diesen Erläuterungen klar sein. Das Ausleben von Liebe konnte nach seiner Lesart durchaus den biblischen Geboten wiedersprechen: neue Zeiten verlangen nach neuen Geboten. Fletcher hatte sich tatsächlich von den biblischen Gesetzen ‘freigeschnitten’. Und die religiösen Aktivisten der Abtreibungsbewegung folgten in seinen Fussstapfen – im Namen der Liebe.
Ein Kompass ohne Karte
Der Kompass der Liebe wird intuitiv das Richtige machen, hatte Bischof Robinson 1963 postuliert. Bei der Anwendung dieser Maxime durch Fletcher und die Verfechter legalisierter Abtreibung hat sich aber eine Kultur des Todes etabliert, nicht eine Kultur des Lebens. Der Nordpfeil im Kompass zeigte auf einmal nach Süden und umgekehrt.
Vor vielen Jahren habe ich in der Jungschar gelernt, dass es für gute Orientierung im Gelände sowohl einen Kompass als auch eine Karte braucht. Wer nur nach dem Kompass rennt, landet trotzdem im Strassengraben, oder im See, oder zerschellt am Fusse einer Felswand.
In meinem Miltärdienst als Panzerminenwerfer habe ich noch etwas weiteres gelernt: auch Kompassnadeln können sich irren. Es bringt nichts in einem Tonnenschweren Stahlkoloss den Kompass zu zücken und Orientierung zu suchen. Ein präzises Einmessen der Panzergeschütze geht nur mit genügend Abstand zum Kraftfeld des Panzers, ansonsten riskiert man, mit dem ersten Schuss das nächstgelegene Dorf zu treffen anstatt das Ziel.
Zu meinen alleine ‘Liebe’ könne uns zum Glück und zum Leben leiten ist eine unrealistische Maxime, welche die Anfälligkeit des Menschen nicht mitbedenkt. Liebe muss an Gott ausgerichtet, nach Ihm geeicht sein, wenn sie wirklich Liebe sein will. Denn Liebe ist nicht einfach das, was auf die Schnelle der Verbesserung einer Situation dient. Sie ist auch nicht einfach das, was uns grad glücklicher oder zufriedener macht. Liebe bedeutet das zu tun und zu leben, was richtig und nötig ist, auch wenn es schwerfällt. Absolute Liebe zeigt sich der Selbstaufopferung Jesu Christi am Kreuz. Gott ist also derjenige, welcher uns das Wesen wahrer Liebe vorzeigt. Gemäss dem Theologen Sam Allberry müssen wir uns deshalb folgende Frage stellen[33]:
«Was liebt Gott, das ich zu hassen versucht bin, und was hasst Gott, das ich zu lieben versucht bin?»
Für eine gute Orientierung brauchen wir aus diesem Grund neben dem Kompass der Liebe auch die Landkarte des Wortes Gottes, welche uns seine Wege des Lebens und das Wesen wahrer Liebe aufzeigt. Es geht nicht darum, das Eine gegen das Andere auszuspielen. Wenn wir den Liebesbegriff von der Bibel her füllen, entleeren wir ihn nicht, sondern füllen ihn neu, mit der Wahrheit Gottes. Gott ist Liebe und in der Liebe bleiben heisst, in Gott bleiben. Dort ist echte Liebe und diese Liebe zerstört kein ungeborenes Leben. Liebesverirrung fängt dort an, wo wir in den Geboten nicht mehr die Handschrift des guten Vaters im Himmel erkennen. Jesus spricht zu seinen Jüngern (John 15:9–10):
«Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.»
Wir brauchen, denke ich, auch so etwas wie einen gesunden Abstand zu den ideologischen Kraftfeldern unserer Zeit, welche nichts anderes möchten, als dass sich unsere Kompassnadel an ihnen ausrichtet. Dafür müssen wir diese Kraftfelder identifizieren und mit Gottes Hilfe bewerten lernen. So können wir unseren Mitmenschen dienen, ohne dabei selbst in die Irre zu gehen:
«Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist der: die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich selbst von der Welt unbefleckt halten.» (Jak 1:27)
Natürlich bringt das Leben ethische Konfliktsituationen mit sich, bei denen der richtige Weg nur schwer zu finden ist, wo moralische Prinzipien einander zu widersprechen scheinen. Doch, wie der evangelische Theologe Klaus Bockmühl 1975 als Antwort auf die ‘Neue Moral’ schreibt: «Gesetzlosigkeit ist nicht die christliche Antwort auf Gesetzlichkeit». Der damalige Dozent auf St. Chrischona warnt deutlich vor einem unkritischen Zeitgeist-Surfing[34]:
«Wer sich heute mit dem Zeitgeist verheiratet, wird Morgen zur Witwe oder – zur Dirne»
Vor einem halben Jahrhundert ist die Orientierung am Liebeskompass nicht gelungen. Nicht nur in der politischen Umsetzung der Abtreibungsagenda waren Pastoren und Theologen tief verwickelt, sondern auch in deren moralischen Rationalisierung: Joseph Fletcher war Theologe. Sein Buch «Morals and Medicine» war sein Beitrag über christliche Ethik für eine Bibelschule!
Wer heute die Entwicklungen im Bereich der Bioethik kritisiert, sollte dies im Bewusstsein tun, dass die Grundkonzepte weitgehend aus dem Brunnen liberaler Theologie entspringen. In einer Zeit, wo äusserst starke säkulare Kräfte ihre Wirkung entfalteten, richtete sich der ‘Kompass der Liebe’ von Joseph Fletcher, Howard Moody und ihren Zeitgenossen unweigerlich an den Ideologien ihrer Zeit aus. Ein entscheidender Grund dafür: sie hatten sich bewusst dem normierenden Kraftfeld des Wortes Gottes entzogen.
Joseph Fletcher zog seine persönlichen Konsequenzen. Nicht lange nach dem Erscheinen seines Buches ‘Situation Ethics’ wendet er sich ganz vom Christentum ab und wird Atheist. Für seine Ethik der ‘Liebe’ braucht er keinen Gott mehr. Doch auch die theologisch eher konservativen Evangelikalen konnten sich in der Abtreibungsfrage nur schwerlich den Argumenten und Rationalisierungen ihrer Zeit entziehen. Davon wird ein nächster Artikel handeln.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Volk Gottes selbst für Weise hält und dabei ins Verderben läuft. Es ist eine sich wiederholende Geschichte.
«Das Wort des HERRN haben sie verachtet. Und welche Weisheit ist ihnen geblieben?» (Jer 8:9)
Mein Gespräch zum Thema mit Dr. Allan Carlson:
Die Serie im Überblick:
Abtreibung (1/5) – ein heiliges Werk?
Abtreibung (2/5) — eine Theologie
Abtreibung (3/5)– Prediger der Eugenik
Abtreibung 4/5 – Evangelikale am Scheideweg
Abtreibung 5/5 – Wenn Umkehr Fortschritt bedeutet
Weitere Artikel zum Thema:
DNA (3/10): Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens
Chesterton und das Wunder von England.
Fussnoten:
[1] Tom Davis, «Sacred Work», S6
[2] Tom Davis, «Sacred Work», ix
[3] Der Artikel «Leidenschaftlich für den Schutz des Lebens» von Josua Hunziker wiedergibt ausführlich die Haltung, welche auch ich teile: https://danieloption.ch/ethik/dna‑3–10-leidenschaftlich-fuer-den-schutz-des-lebens/
[4] https://www.lifenews.com/2017/01/12/religious-leaders-bless-opening-of-new-planed-parenthood-abortion-clinic-call-it-sacred-work/
[5] John A.T.Robinson, ‘Honest to God’, S115
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gott-ist-tot-Theologie
[7] Die Überschrift eines der Kapitel im Buch ‘Honest to God’ von John A.T. Robinson
[8] Sue Ellen Browder berichtet ausführlich davon in ihrem Buch «Subverted», in dem sie von ihrer eigenen Abtreibung berichtet.
[9] Social Gospel Exponenten waren typischerweise Postmillenianisten. Sie sahen es als Aufgabe des Menschen, die Wiederkunft Christi durch die Schaffung einer geheiligten Gesellschaft herbeizuführen.
[10] Als Beispiel kann die Befürwortung von Eugenik durch viele Social-Gospel Vertreter aufgeführt werden. Vgl. Dazu das Buch Preaching Eugenics von Christine Rosen.
[11] Vgl. Doris Andrea Dirks, Patricia A. Relf, «To Offer Compassion», S7
[12] Lawrence Lader, «Abortion II», xi
[13] https://ungeborene.de/abtreibung/risiken/psychische-risiken
[14] https://www.ief.at/abtreibung-schmerzempfindung-ab-der-12-schwangerschaftswoche/
[15] Newsweek Magazine, 9. Juli 1973, «The abortion culture»
[16] So wird das Buch durch den kurz nach Buchveröffentlichung verstorbenen C.S. Lewis in seinem letzten Interview folgendermassen kommentiert: “I prefer being honest to being ‘honest to God.” Link: https://www.cbn.com/special/Narnia/articles/ans_LewisLastInterviewA.aspx
[17] Gemäss Aussage des Verlags verkaufte sich das Buch “schneller als jedes andere neue Buch seriöser Theologie sich je verkauft hat”, Vgl. das Buch «Honest to God Debate», 1963
[18] Vgl. Doris Andrea Dirks, Patricia A. Relf, «To Offer Compassion», S152
[19] Lawrence Lader, «Abortion», S97, 100, 148
[20] Joseph Fletcher, «Situation Ethics», S135
[21] Joseph Fletcher, «Situation Ethics», S124
[22] Fletcher hat sich intensiv mit dem Utilitarismus von Bentham und Mill und dem Pragmatismus von Peirce, Dewey, and James befasst. Siehe: https://biography.yourdictionary.com/joseph-francis-fletcher
[23] Vgl. John A.T.Robinson, «Honest to God», Vorwort, S130, 131
[24] Fletcher, «Morals and Medicine», S???
[25] Joseph Fletcher, «Situation Ethics», S39
[26] Fletcher, «Morals and Medicine», S218.
[27] Vgl. The Hastings Center Report , Nov. 1972
[28] Fletcher, «Morals and Medicine», S150
[29] The Humanist (July-August 1974), Zitiert aus dem Buch «What happened to the human Race», Schaeffer/Koop, 1979
[30]Robert H. Williams (ed.), «To Live and to Die», S119, Vgl. Fletchers Buch «The Ethics of Genetic Control: Ending Reproductive Roulette», 1972
[31] https://de.wikipedia.org/wiki/Vernichtung_lebensunwerten_Lebens
[32] Robert H. Williams (ed.), «To Live and to Die», S114
[33] https://www.facebook.com/sam.allberry/posts/10165783108365397
[34] Klaus Bockmühl, «Gott im Exil – zur Kritik an der ‚Neuen Moral‘», S211
Es gab in den Sozialen Medien noch eine interessante Rückfrage zur Situationsethik Bonhoeffers. Dazu folgende Rückmeldung von mir:
“Ja Bonhoefer und seine Situationsethik ist mir unter anderem bei Bischof Robinson begegnet. Bonhoefers ‘Religionsloses Christentum’ war für diesen eine Inspirationsquelle. Das ‘Bonhoefer-Fass’ wollte ich nun aber wirklich nicht aufmachen, und mich dann von 1000en sich widersprechenden Spezialisten in die Pfanne hauen lassen… 🙂
Meine Kritik betrifft auch weniger eine Situationethik per se, sondern eine Ethik die meint, die Rückbindung an die Gebote Gottes nicht mehr nötig zu haben. Wohin dies führen kann zeigt das Beispiel von Fletcher leider eindrücklich. Natürlich ist ‘Situation’ immer ein Teil in jeder ethischen Abwägung. Es war aber nicht das Ziel in diesem Artikel, eine ausgewogene Ethik zu beschreiben. Vielmehr versuche ich aufgrund aufgefundener Handlungen herauszufinden, woher die Ideen kamen. Also so etwas wie der umgekehrte Prozess: folge dem Fluss rückwärt und suche die Quelle(n). Im Fall von Abtreibung in Amerika führen sie neben den Social Gospel Exponenten auch zu Fletcher. Den Typen kannte ich vorher nicht. Er ist mir durch das Studium der ‘christlichen’ Abtreibungaktivisten begegnet. Dann fängst du an ihn zu studieren, und merkst wie einflussreich seine Ideen unter den Theologen seiner Zeit waren, auch in Europa. Und ehrlich gesagt — sie sind es auch heute. Die Diskussion um Euthanasie/Sterbehilfe scheint erst grad wieder Fahrt aufzunehmen in reformierten Kreisen.”
Die Position Bonhoefers zur Abtreibungsfrage war sehr klar (Ethik, Werkausgabe, Bd. 6, S. 203–204):
“Mit der Eheschließung ist die Anerkennung des Rechtes des werdenden Lebens verbunden, als eines Rechtes, das nicht in der Verfügung der Eheleute steht. Ohne die grundsätzliche Anerkennung dieses Rechtes hört eine Ehe auf Ehe zu sein und wird zum Verhältnis. In der Anerkennung aber ist der freien Schöpfermacht Gottes, der aus dieser Ehe neues Leben hervorgehen lassen kann nach seinem Willen, Raum gegeben. Die Tötung der Frucht im Mutterleib ist Verletzung des dem werdenden Leben von Gott verliehenen Lebensrechtes. Die Erörterung der Frage, ob es sich hier schon um einen Menschen handele oder nicht, verwirrt nur die einfache Tatsache, daß Gott hier jedenfalls einen Menschen schaffen wollte und daß diesem werdenden Menschen vorsätzlich das Leben genommen worden ist. Das aber ist nichts anderes als Mord. Daß die Motive, die zu einer derartigen Tat führen, sehr verschiedene sind, ja daß dort, wo es sich um eine Tat der Verzweiflung in höchster menschlicher oder wirtschaftlicher Verlassenheit und Not handelt, die Schuld oft mehr auf die Gemeinschaft als auf den Einzelnen fällt, daß schließlich gerade an diesem Punkt Geld sehr viel Leichtfertigkeit zu vertuschen vermag, während bei den Armen auch die schwer abgerungene Tat leichter ans Licht kommt, dies alles berührt unzweifelhaft das persönliche, seelsorger[liche] Verhalten gegenüber dem Betroffenen ganz entscheidend, es vermag aber an dem Tatbestand des Mordes nichts) zu ändern. Gerade die Mutter, der dieser Entschluß zum Verzweifeln schwer wird, weil er gegen ihre eigenste Natur geht, wird die Schwere der Schuld am wenigsten leugnen wollen.”
Quelle: https://theoblog.de/dietrich-bonhoeffer-die-anerkennung-des-rechts-werdenden-lebens/33062/?fbclid=IwAR2Nf2g-VP88ephOwyzCbfyUGlscwgquRcVsfls4vglG-0pJmIdBQl4HkR8
Danke Viktor. Ich habe den Artikel noch durch folgenden Vers ergänzt, der glaube ich das Zusammenhang von Liebe und Geboten gut beschreibt (Joh 15,9–10): «Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.» Anders ausgedrückt: Liebesverirrung fängt dort an, wo wir in den Geboten nicht mehr den guten Vater im Himmel sehen.
Ich meine, es ist richtig, dass wir uns an der Liebe orientieren. Was also ist Liebe? Ich? Die Gesellschaft? Unsere Entdeckungen und Erkenntnisse? Unsere Möglichkeiten? Was leitet uns zum Handeln angesichts der erdrückenden und zum Himmel schreibenden Not unserer Gesellschaft? Liebe? Wirklich Liebe? Gott ist Liebe. Also gibt es nichts anderes für uns, als dass wir uns an Gott orientieren, wenn wir von Liebe reden. Und Gott ist der, der Leben schafft und durchaus auch töten kann. Uns aber sagt Gott: Du sollst nicht töten. Der Weg, der nicht neues Verderben, sondern Leben bringt, ist schmal. Es braucht mutige Stille, Gott genau zuzuhören, und dann allenfalls ein Handeln zu finden, das nicht sofort offensichtlich auf der Hand liegt und vielleicht auch nicht gerade grosse gesellschaftliche Akzeptanz findet — aber menschenwürdiger ist, zum Leben führt. — »Geht durch das enge Tor! Denn das Tor zum Verderben ist breit und ebenso die Straße, die dorthin führt. Viele sind auf ihr unterwegs. 14 Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dorthin schmal. Nur wenige finden ihn.« Matthäus 7:13–14