Quo Vadis evangelikale Christen? Im Zusammenhang mit Trump’s Präsidentschaft werden ‘Evangelikale’ in den Medien öfters genannt. Meist sehr kritisch, weil doch Viele die Politik von Trump unterstützt haben. In diesem aktuellen Zusammenhang sind die 7 Wünsche, die Roland Werner in einem aktuellen Video äussert, positive Orientierungspunkte, die uns weiterbringen können.
Mit zwei Artikeln haben wir uns in den vergangenen Tagen mit der evangelikalen Bewegung und der Kritik an ihr auseinandergesetzt. In einem ersten Artikel setzten wir uns mit der Deutung evangelikaler Geschichte durch Dr. Thorsten Dietz auseinander, in einem zweiten Artikel wurden Thesen von Dr. Lukas Amstutz zum Postevangelikalismus besprochen. Nun möchten wir anhand von Videobeiträgen von Dr. Roland Werner (Folge 1, Folge 2, Folge 3), die eine Verfilmung seines Artikels sind, einen Blick in die Zukunft der Evangelikalen Bewegung wagen.
In drei 20-minütigen Podcasts spricht Roland Werner mit erfrischender Kürze zur Frage ‘Was ist evangelikal?’ Wir werden uns in diesem Artikel auf die dritte Folge fokussieren. Darin äussert Werner 7 Wünsche an die evangelikale Gemeinschaft, die wir so gut und positiv finden, dass sie weit herum gehört und diskutiert werden sollten. Werner gibt in den ersten Minuten eine hilfreiche Beschreibung dessen, was es heisst evangelikal zu sein:
“Was ist evangelikal? Es ist das Bemühen um historisches Christentum… um das zentrale Christstein. Ich glaube die evangelikale Bewegung hat im innersten Impuls dieses Bemühen, das in den Kern zu stellen… also historisch orthodox an Jesus Christus zu glauben.… Und das merkt man heute in Dialogbemühungen, dass oft gerade an dieser Kernsubstanz des Glaubens die Evangelikalen sehr gut anschlussfähig sind zu den orthodoxen, katholischen und alt-orientalischen Kirchen.” (Roland Werner, zwischen Zeitmarker 0:30 und 2:30)
Weiter führt er aus, dass evangelikalen Christen die persönliche Hinwendung zu Jesus, die Bibel, die Verkündigung des Evangeliums, soziales Engagement und Weltverantwortung wichtig sind. Weil sie sich um das sammeln, was zentral zum Christentum gehört, war evangelikalen Christen von Anfang an die Vernetzung über die Grenzen der eigenen Kirche und des eigenen Verbandes hinaus wichtig mit anderen Christen, die sich auch um den Kern des historischen Christentum bemühen. Diesen Christen wünscht Werner folgende 7 Dinge:.
1. Die evangelikale Bewegung darf Mut haben zu sein, was sie ist
2. Die evangelikale Bewegung darf ihre Stimme wiederfinden
3. Die evangelikale Bewegung darf ihre innere Einheit wiedergewinnen
4. Die evangelikale Bewegung darf den ganzen Reichtum Gottes in der Geschichte entdecken und nutzbar machen
5. Die evangelikale Bewegung darf sich bewusst und zielgerichtet der jungen Generation zuwenden
6. Die evangelikale Bewegung darf unerschrocken in den missionarischen Dialog mit den großen Religionen und ideologischen Lebens- und Weltentwürfen eintreten
7. Die evangelikale Bewegung darf neu die heilsame Herrschaft des historischen, gegenwärtigen und kommenden Christus glauben und in allen Lebensbereichen bezeugen
1. Die evangelikale Bewegung darf Mut haben zu sein, was sie ist
Wir sollen uns erinnern an unsere Wurzeln und unseren Auftrag. Wir sollen uns…
… in dieser Identifikation nicht irre machen lassen. Auch wenn es Auswüchse gibt. Auch wenn es Verformungen gibt. Das Kernanliegen und die Wurzel dessen, was es bedeutet, evangelikal zu sein, ist etwas Gutes. Und dazu kann man auch stehen. (Roland Werner, Zeitmarker 08:45)
Unsere Gedanken zum 1. Wunsch
Wir mussten länger überlegen, wann wir das letzte Mal einen christlichen Verantwortungsträger so etwas haben sagen hören. Man kann sich auch in unserer Zeit ganz positiv damit identifizieren, was mit dem Wort ‘evangelikal’ eigentlich gemeint ist. Uns persönlich ist es wichtig, dass es hier nicht darum geht, dass wir primär zu einem ‘Label’ oder konkretem christlichen Kirchen Verband stehen. Das dürfen wir durchaus auch. Viel grundlegender sollen wir uns bewusst machen, was der Kern des Glaubens ist, der uns als evangelikale Christen alle verbindet, und damit im Tiefsten mit allen Christen, die sich mit dem Evangelium identifizieren. Wir alle sind eingeladen, zum Kern des Christentums zurückzufinden.
In diesem Kern, in dieser Mitte des Christentums gibt es so viel zu entdecken! Was man ‘Orthodoxie’ nennt, ist an geistlicher und theologischer Tiefe nicht zu übertreffen, wie Trevin Max in einem Vortrag ‘The Thrill of Orthodoxy’ erklärt hat. Der Kern des Christentums ist nicht eine Reduktion auf einen minimalen Konsens, sondern gerade hier werden die theologischen Themen multidimensional gedacht. Wahrheiten, die einander auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, aber beide von der Bibel bejaht werden, werden hier ausgehalten weil sie als Mysterium, nicht als Widerspruch verstanden werden. Häresien hingegen lassen oft eine von beiden Seiten los und enden in einer vereinfachenden, leblosen Engführung. Sie binden an den kurzfristigen Geist der Zeit, welcher uns letztlich enttäuscht zurücklässt. Bei der ‘Orthodoxie’ im ursprünglichen Sinn, haben wir hingegen den lebensverändernden Glauben, der uns in die Abenteuer des Heils, der Theologie und des Lebens mit Jesus Christus führt. Hier werden wir befreit aus einer Versklavung an die Trends des Moments und wir können aus einer inneren Identität heraus eine prophetische und gestaltende Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen.
2. Die evangelikale Bewegung darf ihre Stimme wiederfinden
Wenn wir den Mut haben, uns selbst zu sein, werden wir, so Werner, davon reden, worauf es ankommt: Die Jesus-Botschaft. Anstatt zu schweigen, weil ‘es ist alles so schwierig’ sei, sollen wir diese Botschaft bewusst weitergeben. Wir dürfen unser positives Pfund einbringen.
Unsere Gedanken zum 2. Wunsch
Werner betont hier das, was Evangelikale schon immer ausgemacht hat: Die klare und einladende Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Ganzheitlich sein bedeutet, alle Dimensionen des Heilshandeln Gottes einbeziehen, ohne eine davon auszulassen. Wer das Evangelium nicht mehr verkündet, verliert damit auch die Ganzheitlichkeit. Die Frage an uns ist wohl diese: Kennen wir den Inhalt dieser Botschaft und erzählen wir ihn in unserem Umfeld? Das zu leben wünschen wir uns allen.
3. Die evangelikale Bewegung darf ihre innere Einheit wiedergewinnen
Werner meint, dass wir um des größeren Zieles willen die theologischen und politischen Grabenkämpfe befrieden müssen. Wir sollen uns neu auf das besinnen, was uns vereint. Innere Einheit wieder gewinnen ist nötig, so Werner, damit wir unsere Stimme wieder finden können.
Unsere Gedanken zum 3. Wunsch
Der Satz ‘die Grabenkämpfe befrieden’ ist uns nachgegangen. Das ist wirklich nötig. Aber wie kann das geschehen? — haben wir uns gefragt. Vielleicht können wir einen kleinen Beitrag leisten. Deshalb kommentieren wir diesen dritten Wunsch von Werner etwas ausführlicher als die anderen.
In der Gründungszeit der Lausanner Bewegung waren die heissen Bereiche Theologie und Soziales Engagement. Heute liegen die Herausforderungen eher bei Theologie und Politik. Werner nennt konkret diese beiden Bereiche. Wir würden dazu noch die Themen Sexual- und Lebensethik hinzufügen. Mit Lebensethik meinen wir Fragen rund um den Beginn des Lebens (Abtreibung, etc.) und dem Ende des Lebens (Euthanasie, etc.). Wenn eine Hauptaufgabe der evangelikalen Bewegung der 1960-er und 1970-er Jahre die Erarbeitung einer dynamischen Ausgewogenheit von Theologie und sozialem Engagement war, könnte es sein, dass es eine Hauptaufgabe der heutigen Generation von Evangelikalen sein muss, dieselbe Ausgewogenheit in Bezug auf Theologie, Politik und Ethik zu finden?
Der neue Generalsekretär der World Evangelical Alliance Dr. Thomas Schirrmacher hat anlässlich seiner Einsetzung am 27. Februar 2021 (also post-Trump) gesagt:
Ich kann Ihnen zunächst eines sagen: Evangelikale waren sich in politischen Fragen nie einig… Darin liegt also nicht das Geheimnis der evangelikalen Bewegung. (Schirrmacher original oder mit deutscher Übersetzung)
Roland Werner meint in eine ähnliche Richtung:
Ich glaube dass es uns gelingen kann diesen Begriff (evangelikal) zu retten, wenn er nicht zu sehr ins Politische und Kirchenpolitische gezogen wird. (Roland Werner, Zeitmarker 05:50, mein Einschub in Klammern)
Wir können die Warnung dieser beiden Persönlichkeiten verstehen. An Politik kann man sich wirklich die Finger verbrennen. Die Gefahr ist jedoch, dass Evangelikale sich aufgrund solcher Voten ganz aus der Politik zurückziehen — was letztlich auch ein politisches Statement ist. Und biblisch wäre das nicht, denn das Evangelium hat nunmal eindeutig eine politische Dimension. Die Frage ist aus unserer Sicht nicht, OB evangelikale Christen sich politisch engagieren sollen, sondern WIE. Wir haben da auch nicht alle Weisheit, aber wir möchten ein paar Vorschläge machen.
Uns fällt auf, dass politisch links-liberale Exponenten (Christen und Nichtchristen) gegen Evangelikale vorgehen, wenn Evangelikale Werte vertreten, die eher politisch rechts zugeordnet werden. Wiederum argumentieren Andere (Christen und Nichtchristen) aus rechtspolitischer Sicht gegen Evangelikale, wenn Evangelikale linkspolitische Werte vertreten. Emanuel Hunziker zeigt in einem Artikel gut auf, dass Christen auf der politischen Bühne Dinge vertreten, die eher links und gleichzeitig Dinge, die eher rechts einzuordnen sind. Der Grund dafür ist, dass Christen sich nicht primär über eine politische Orientierung (links, rechts, mittig) identifizieren, sondern vom Reich Gottes her. Zumindest sollte es so sein.
Tim Keller schreibt in der New York Times über das Problem der ‘package deals’ der modernen Parteipolitik. Es lohnt sich ein etwas längeres Zitat zu bringen:
Es gibt einen weiteren Grund, warum Christen heutzutage der Kirche nicht erlauben dürfen, sich mit einer einzigen, konkreten Partei zu identifizieren. Der Grund ist, was der britische Ethiker James Mumford die ‘package deal Ethik’ nennt. Politische Parteien insistieren zunehmend, dass du in einer Partei nicht an einem Thema arbeiten kannst, ohne die anderen Werte der Partei ebenfalls vollumfänglich zu vertreten.
Diese Betonung von ‘package deals’ bringt Christen in ihrem politischen Engagement unter Druck. Wenn sie zum Beispiel der frühen Christenheit folgen, sollten Christen sich für Rassengerechtigkeit und für die Armen einsetzen, aber gleichzeitig auch dafür, dass Sex nur für die Ehe reserviert ist und um eine Familie zu versorgen. Einer dieser Werte scheint politisch liberal zu sein, während der andere Wert unterdrückerisch konservativ ist. Die historische christliche Position über soziale Themen lässt sich nicht in moderne politische Ausrichtungen hineinzwängen. (Tim Keller, eigene Übersetzung)
Evangelikale Christen sollten sich aus unserer Sicht nur in dem Maß auf Parteipolitik einlassen, wie eine Partei Werte des Reiches Gottes vertritt. Wir sollten vorsichtig sein, uns von einem politischen ‘package deal’ vereinnahmen zu lassen. Wie das konkret funktionieren kann, wenn vor allem Parteien die politische Musik machen, muss von heutigen engagierten Evangelikalen durchdacht werden. Es wird auch von Land zu Land unterschiedlich aussehen. Ein Schlüssel dazu ist es, dies zu verinnerlichen: Christen vertreten das Reich Gottes, das ganzheitliche Evangelium, die künftige neue Schöpfung, die im Kommen begriffen ist, und nicht ein modernes politisches Rechts-Links-System oder eine Partei mit einem ‘C’ irgendwo im Namen. Wenn Christen das nicht verstehen, laufen sie Gefahr, sich von einer Variante von Nationalismus vereinnahmen zu lassen.
Was die theologische Befriedung angeht, möchten wir den Ansatz von Christian Haslebacher zu bedenken geben. In seinem Artikel über V.U.K.A Theologie macht er einen Vorschlag, wo die dynamische theologische Mitte und Orientierung zu finden ist, und wo die Ränder der Rechtgläubigkeit zu verorten sein könnten. Auch die Lausanner-Bewegung hat solche Grundsatzdikussionen geführt. Wir haben in unseren vergangenen beiden Artikeln in der Besprechung der Lausanner-Bewegung, ihre ganzheitlichen Ansätze in den Vordergrund gestellt. Doch mitenscheidend für die Einheit der Bewegung war immer auch die klare gemeinsame Haltung zur Autorität der Schrift (Pt 2 der Verpflichtung) oder auch die Abgrenzung gegenüber synkretistischer Religionsvermischung (Pt 3 der Verpflichtung). Der Erfolg der evangelikalen Bewegung in den vergangenen Jahrzehnten hat also auch entscheidend mit einer Klarheit in solchen theologischen Fragen zu tun. In den vergangenen Jahren wollten viele den attraktiven evangelikalen ‘Kuchen’ (z.B. deren lebendige Frömmigkeit oder moderne Gottesdienstformen) ohne die hier genannten evangelikalen ‘Zutaten’. Doch diese ‘Zutaten’ sind entscheidend. Haslebacher geht darauf ein, und deshalb könnte eine breitere Diskussion zu seinen Vorschlägen hilfreich sein. Eine Möglichkeit dazu ist ein Online Forum am 15. April 2021.
Unser persönlicher Beitrag im Anliegen um die Wiedergewinnung der Einheit ist, dass evangelikale Christen sich um den Kern der jüdisch-christlichen Weltanschauung sammeln. Diese Mitte spannt sowohl die Breite auf und zeigt die Ränder. Die Breite ermöglicht eine theologische Diversität, in der wir eine hohe Toleranz gegenüber andersdenkenden Christen haben müssen. Die Ränder bestimmen, wohin wir nicht gehen dürfen, und zwar um Gottes Ehre und der Menschen Heil willen.
4. Die evangelikale Bewegung darf den ganzen Reichtum Gottes in der Geschichte entdecken und nutzbar machen
Werner sagt hier Offensichtliches aber Wesentliches: Das Christsein fängt nicht erst im 21. Jahrhundert an! Deshalb müssen wir die reformatorische Bewegung neu entdecken, welche wiederum stark auf die ersten Christen zurückgreift.
Unsere Gedanken zum 4. Wunsch
Roland Werner spricht uns hier aus dem Herzen. Wir würden hinzufügen, dass neben der Verknüpfung mit anderen Christen auf der zeitlichen Achse (Geschichte) auch die geographische Achse (Kultur) nötig ist. Christen und christliche Tradition aus anderen Kulturen zu kennen ist wesentlich, um fruchtbar auf Kurs zu bleiben. Dies schützt uns vor einem flachen Christentum, welches nur von Modeerscheinungen bestimmt ist, und bewahrt vor einem kulturellen oder ideologischen Synkretismus aufgrund eines zu eingeschränkten historischen oder kulturellen Blickfeldes.
Es war nicht unbedingt die Stärke der evangelikalen Bewegung in der Ära Billy Graham, das sie sich durch ein besonders grosses Geschichtsbewusstsein ausgezeichnet hätte. Manche christliche Neugründungen vermittelten das Bild, dass das wahre Christentum mit ihnen erst so richtig durchstartete. Das stimmt so natürlich nicht und ist gerade auch für diese Neugründungen eine Verarmung. Umso wichtiger ist es, dass wir uns mit der alten und internationalen Kirche verbinden, indem wir uns für Kirchengeschichte interessieren und Christen jenseits des Randes der westlichen Welt kennenlernen. Dazu startet Roland Werner aktuell eine weitere Podcast-Serie unter dem Titel ‘Der grosse Strom’ (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4).
Von Seiten Daniel Option gibt es eine Serie mit dem Titel DNA, welche die revolutionären Werte der ersten Christen thematisiert — für unsere Zeit äusserst inspirierend! Auch eine neue Besinnung auf die historischen Bekenntnisse der Kirche kann uns wichtige Orientierung geben.
Als Beispiel, um eine mögliche Rolle der alten Kirche in aktuellen Fragen zu illustrieren, kann die ethische Frage der Abtreibung dienen. Ende der 1960er Jahre war die Haltung der Evangelikalen in den USA bezüglich Abtreibung ambivalent, zum Teil wurde diese offen befürwortet. Die Hintergründe dafür sind zu komplex, um sie an dieser Stelle ausführlich erläutern zu können. Vereinfacht ausgedrückt empfanden die Evangelikalen den Schutz des ungeborenen Lebens als ein ‘katholisches’ Anliegen. Die Katholiken waren den Evangelikalen aber eher suspekt, weshalb es auf der Hand lag, sich deren Haltung nicht 1:1 anzuschliessen. Gleichzeitig gab es in den zunehmend liberalen protestantischen Mainline-Kirchen der USA eine wachsende Befürwortung von Abtreibung, welche teils als offene Beihilfe zur damals noch illegalen Abtreibung ausgelebt wurde. In der Spannung zwischen der katholischen und der liberal-protestantischen Haltung fehlte es den Evangelikalen an der nötigen Orientierung.
Mitentscheidend dass sich die evangelikale Bewegung letzendlich für den Schutz des ungeborenen Lebens und gegen Abtreibung positionieren würde, war ein junger Theologe Namens Harold Brown. Ein Editoral von ihm im einflussreichen evangelikalen Magazin Christianity Today bedeutete 1973 eine Zeitenwende in der Haltung dieser Zeitschrift in der Abtreibungsfrage. Brown argumentierte unter anderem mit der historischen Lehre der Kirche. Kurz darauf brachte er in seinem Buch Death before Birth (1977) die lebensschützende Haltung von frühchristlichen Kirchenvätern wie Tertullian, Basilius von Cäsarea oder Clement von Alexandria in die Diskussion ein. Noch im Jahre 1968 hatte es Christianity Today geschafft, eine ganze Ausgabe dem Thema Geburtenregelung/Abtreibung zu widmen, ohne auch nur ein einziges Mal die Haltung der Kirchenväter zu erwähnen. Die von Brown angeregte Konsultation der Kirchengeschichte half so mit, mehr Klarheit in einer aktuellen ethischen Frage zu finden.
5. Die evangelikale Bewegung darf sich bewusst und zielgerichtet der jungen Generation zuwenden
Werner weist hier auf einen wesentlichen Punkt hin.
Es reicht nicht, wenn wir sozusagen unter uns bleiben, wenn wir die Insel der Seligen oder Rechtgläubigen versuchen zu halten. Sondern als Väter und Mütter sollten wir uns den Jüngeren anbieten als Gesprächspartner… Die evangelikale Bewegung war im Kern auch immer eine Jugendbewegung. (Werner, Zeitmarker 11:32)
Unsere Gedanken zum 5. Wunsch
Roland Werner spricht uns hier aus dem Herzen. Als Mitgründer der Jugendbewegung GODI haben wir in unseren Jugendjahren selber einen grossen erwecklichen Aufbruch erleben dürfen. Nun sind wir ein klein wenig in die Jahre gekommen… Umso wichtiger ist es, dass wir Roland Werners Rat für die nächste Generation zu Herzen nehmen.
Etwas vom Wichtigsten, was wir in unserer Jugendzeit erleben durften, waren Pastoren, welche für unsere nervigen Fragen offen waren und Leiter, welche uns gefördert und Zeit in die Gemeinschaft mit uns investiert haben. Als unsere Jugendbewegung Ende der 1990er Jahre so richtig Fahrt aufnahm, erlebten wir, wie geistliche Väter und Mütter sich hinter uns stellten, uns in ganz verschiedenen Belangen unterstützten (Gebet, Geld, Beratung, Rückendeckung), sich jedoch nie in Polizistenmanier einmischten. Dabei hätte es durchaus da und dort Anlass geben können, unsere sehr autonome Dynamik ‘besser in den Griff’ zu kriegen.
Was wir selber an Segen durch die Generation über uns erleben durften, darf uns eine Lehre sein für die Generation, welche heute aufwächst. Beten wir für eine neue Bewegung in der jungen Generation, welche sich durch tiefe Gottesbegegnung, eine ‘heilige Radikalität’ und Hingabe zu Jesus auszeichnet. ‘The Youth IS the Church’, war unser Motto im Godi. Dies muss auch heute unsere Perspektive auf die nachkommende Generation prägen. Diese sollten wir nicht einfach als Zukunft der Kirche sehen, sondern als ihre lebendige, mitgestaltende Gegenwart.
Gerade die aktuelle Pandemie erschwert das, was für die junge Generation eigentlich so wichtig wäre: Gemeinschaftsbildung, Zusammengehörigkeit und gemeinsame Dynamik. In einer Zeit, in der Massenveranstaltungen nicht gestattet sind, braucht es kreative Ideen. Eine solche ist dem Crea-Meeting gelungen, welches statt Festival-Massenfeeling nun dieses Jahr auf ganz viele Garten-Parties setzt. Was können wir weiter tun, damit die junge Generation das Leben mit Gott entdecken kann?
6. Die evangelikale Bewegung darf unerschrocken in den missionarischen Dialog mit den großen Religionen und ideologischen Lebens- und Weltentwürfen eintreten
Was meint Werner damit?
Ich meine damit, dass die wirklich grossen Herausforderungen unserer Zeit mit ideologischen und religiösen Neuaufbrüchen verbunden sind (Werner, Zeitmarker 12:45)
Werner nennt als Beispiel die starke Zunahme des Islam. Dem gegenüber hat die evangelikale Christenheit nicht den Auftrag, die ‘westlich-christliche’ Religion zu verteidigen, sondern Jesus Christus als Erlöser und Herrn aller Menschen zu bezeugen. Dass dieses Zeugnis auch ins Leiden führen kann, ist die ständige Erfahrung vieler Mitchristen in anderen Ländern. Der missionarische Dialog mit anderen Weltentwürfen schließt das entschlossene Eintreten für verfolgte Christen und den Einsatz für Menschenrechte und Religionsfreiheit in allen Ländern und Kulturkreisen mit ein.
Unsere Gedanken zum 6. Wunsch
Wir würden weitere Ideologien anfügen, die sowohl westliche und östliche Wurzeln haben, z.B. den Marxismus, der in verschiedenen Versionen daherkommt, und monistische sowie gnostische Denksysteme. Werner stellt diese wichtige Frage:
Haben wir als evangelikale Bewegung, als Christenheit, überhaupt eine Antwort, haben wir eine Dialogfähigkeit, haben wir eine Kenntnis unseres Gegenübers? (Werner, Zeitmarker 13:02)
Eine Grundbedingung dies tun zu können, ist sowohl die eigene Weltanschauung zu kennen, wie auch diejenige des Gegenüber kennen und verstehen zu lernen. Wir möchten hier einige Quellen aufführen, welche uns in dieser Orientierung eine Hilfe gewesen sind. Leider ist das Meiste in der englischen Sprache. Deutsche Ergänzungen sind herzlich willkommen!
- Christian Worldview (Herrmann Bawinck)
- The Universe Next Door: A Basic Worldview Catalog (James Sire)
- Kampf um Wahrheit — die bedeutendsten Weltanschauungen im Vergleich (David Noebel)
- The Rise and Triumph of the modern Self (Karl Trueman)
- Transforming Worldviews (Paul Hiebert)
- Was können wir wissen? (David Gooding, John Lennox)
- Liebe deinen Körper (Nancey Pearcy)
- Total Truth (Nancey Pearcy)
- Philosophical Foundations for a Christian Worldview (W.L. Craig, J.P. Moreland)
7. Die evangelikale Bewegung darf neu die heilsame Herrschaft des historischen, gegenwärtigen und kommenden Christus glauben und in allen Lebensbereichen bezeugen
Werner erklärt, dass die Herrschaft Jesu nicht nur eine geglaubte und erhoffte Größe der Zukunft ist, sondern sich hier und jetzt schon ausbreiten soll. Evangelikale Christen können deshalb nicht ruhen, bis das Evangelium ‘aller Kreatur’ verkündigt ist und alle Menschen die Möglichkeit haben, in ihrer eigenen Sprache und Kultur das Wort Gottes zu hören und lebendige Gemeinde zu leben und zu erleben. Ebenso geben sich evangelikale Christen nicht damit zufrieden, wenn Unfreiheit, Ungerechtigkeit, Gewalt, Menschenverachtung, Gleichgültigkeit, Hass, Hunger, Krieg, Korruption und was es noch an Zerstörerischem geben mag, das Leben der Menschen bestimmt.
Unsere Gedanken zum 7. Wunsch
Dieser Wunsch lässt uns aufleben! Wir haben darüber ausführlicher geschrieben in drei Artikeln (Teil 1, Teil 2, Teil 3), in denen wir eine Sicht der Ganzheitlichkeit skizzieren:
- Christen sind Empfänger von einem unglaublich umfassenden Heilsangebot Gottes in allen Dimensionen des Seins: Geistlich, sozial, politisch, wirtschaftlich und ökologisch.
- Christen sind Beauftragte in denselben Dimensionen den Menschen, der Gesellschaft und ganzen Schöpfung im Sinne Jesu Christi zu dienen.
Dieses Gesegnetsein von Gott füllt uns mit Freude! Wir dürfen uns in der Sünde und den Nöten unseres Lebens und unserer Welt dem Schöpfer und Retter dieser Welt in Jesus Christus zuwenden und sein umfassendes Heil empfangen! Wir lieben gleichzeitig die Berufung, die der Kyrios Jesus Christus uns gibt:
Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. (Joh 20:21)
Wir Christen dürfen berufen, inspiriert und mit Kraft vom Vater, Sohn und Heiligen Geist erfüllt, das ganzheitliche Heil in die Dimensionen dieser Welt einbringen. Wir tun dies selbstverständlich im Wissen, dass wir nie den Himmel auf Erde haben. Aber wir tun es auch im Wissen, ein Stück der Zukunft Gottes im Hier und Jetzt als Gnade sichtbar und erfahrbar zu machen. Denn wir haben eine Botschaft, das Evangelium, welche das ganze Leben umfasst. Der Ruf der Lausanner Bewegung ist, dass die ganze Kirche das ganze Evangelium in die ganze Welt bringt. Dieser Ruf ist aktueller denn je. Unsere Sehnsucht ist, dass wir uns gemeinsam dieser wunderbaren Aufgabe und Dynamik hingeben!
Die Suche nach einem guten Buch über Weltanschauungen auf Deutsch bewegt mich auch. Schade, dass es keine aktuelle Übersetzung von James Sire gibt.
Ich kann auch “3 Weltformeln” von Ellus Potter empfehlen.
Es handelt sich hier um Wünsche, insofern würde ich vielleicht stärker von DÜRFEN und weniger von MÜSSEN sprechen. DÜRFEN finde ich grundsätzlich inspirierender, freier, gelassener. Es handelt sich nicht primär um Erwartungen, die wir erfüllen MÜSSEN, sondern vor allem um Potenzial, in das wir neu hineinwachsen DÜRFEN:
1. Die evangelikale Bewegung DARF Mut haben zu sein, was sie ist
2. Die evangelikale Bewegung DARF ihre Stimme wiederfinden
3. Die evangelikale Bewegung DARF ihre innere Einheit wiedergewinnen
4. Die evangelikale Bewegung DARF den ganzen Reichtum Gottes in der Geschichte entdecken und nutzbar machen
5. Die evangelikale Bewegung DARF sich bewusst und zielgerichtet der jungen Generation zuwenden
6. Die evangelikale Bewegung DARF unerschrocken in den missionarischen Dialog mit den großen Religionen und ideologischen Lebens- und Weltentwürfen eintreten
7. Die evangelikale Bewegung DARF neu die heilsame Herrschaft des historischen, gegenwärtigen und kommenden Christus glauben und in allen Lebensbereichen bezeugen
Die evangelikale Bewegung hat die volle Freiheit, diese Dinge selbstbewusst und gelassen zu DÜRFEN.
Agree! Nach mehrfachem Hinweis haben wir die Formulierung geändert — aus Überzeugung 🙂
👍
Danke für diese Ausführungen. Ja, nicht Labels sind entscheidend, wer und was wir sind. Mit Freude dürfen und sollen wir den Weg des Glaubens beschreiten und bezeugen.
Danke Wolfgang 👍 Kurzum: let’s go for it 💓
Von meinem verstorbenen Vater habe ich den Regenhut behalten. Obwohl er mir etwas zu klein ist, trage ich ihn. Er erinnert mich immer wieder daran, dass Gott so umfassend ist, dass ich niemals die vielen scheinbar widersprüchlichsten Positionen unter meinen Hut bringe. Deshalb ist es für mich wunderbar und unbedingt nötig, dass Christen sich in den unterschiedlichsten Ecken engagieren. Einfach auszuhalten ist das für mich nicht immer, aber nötig, um Gottes Grösse zu bezeugen.
Danke Viktor! Guter Vergleich! Hier liegt eine meiner grössten Freuden in Bezug auf die Ewigkeit. Gott allein ist allwissend. Ich bin es zum Glück nicht, denn ich lerne so gerne Neues! Gott und die Welt, die er erschaffen hat, ist so umfangreich, dass es nie zu einem Punkt kommen wird, an wir nichts mehr neues zu entdecken haben werden! Wir dürfen jetzt schon, und bis in Ewigkeit, eine Studiengemeinschaft von Gottes Wesen sein und ihn dabei auch noch geniessen und anbeten!
Auch ein guter Vergleich, Paul, das mit der Studiengemeinschaft. Ja, so ist das Leben spannend in jeder Situation — unendlich spannend, bereichernd — auch in sehr herausfordernden Situationen lassen sich ungeahnte Bereicherungen entdecken, nicht immer ohne Mühe, aber auf jeden Fall erstaunliche, bereichernde, beglückende, faszinierende Bereicherungen, die man nie mehr missen möchte. Das hat war mit Erfüllung und Befriedigung zu tun.