Wer sich im öffentlichen Raum zu kontroversen Themen äussert, weiss, dass hier nicht immer mit lauteren Mitteln gearbeitet wird. Es geht oft nicht um eine gemeinsame Wahrheitssuche und um einen gesitteten Diskurs auf der Basis gemeinsamer Regeln. Es geht vielmehr darum zu gewinnen, mit welchen Mitteln auch immer. Wer ein Verständnis hat für die ‘Kampfmittel’, die in solchen Diskursen zum Einsatz kommen, kann eigene Fehler vermeiden, unlauteres Argumentieren entlarven und im öffentlichen Raum besser bestehen.
“Was macht dieser Typ grad mit mir?” Vielleicht hast du dir das auch schon gedacht in einer Online-Diskussion. Du spürst, dass etwas faul ist am Verhalten oder der Argumentation eines virtuellen Gesprächspartners, aber es ist schwer zu greifen, was da grad abläuft. Der Grund könnte sein, dass dein Gegenüber eine dir unbekannte rhetorische oder argumentative ‘Waffe’ einsetzt, welche du nicht kennst. So ist es mir wiederholt ergangen, als ich 2019 angefangen habe, mich online auch zu kontroverseren Themen zu äussern.
Mit diesem Artikel möchte ich etwas Abhilfe schaffen. Er dokumentiert anhand 35 Themen und gegen 60 Beispielen das ‘Waffenarsenal’, welches mir in den vergangenen Jahren in Online-Gesprächen und anderswo begegnet ist. Ich habe nicht den Anspruch, die ‘Waffen’ in ihrer ganzen Tiefe verstanden zu haben oder davor gefeit zu sein, selbst mal eine davon zu schwingen. Ich bin kein Meister im Debattieren. Meine Hoffnung ist aber, dass die nachfolgende Dokumentation ‘Normalos’ wie mir und dir vielleicht helfen kann, gewisse Diagnosen zu stellen, das eigene Verhalten zu reflektieren und die eigenen Diskussions-Strategien zu verbessern.
Es geht mir dabei nicht darum, Diskurse unnötig zu zähmen. Je nach Gemütszustand mag auch ich, wenn es mal kontrovers und kontrastreich her und zu geht. Tendenziell bin ich aber zurückhaltender geworden in meinem Online-Verhalten. Nun, hier kommt sie dennoch: meine ganz persönliche, über die letzten Jahre gewachsene Zusammenstellung von potenziell problematischen oder fehlerhalte Argumentationswege. Ich teile sie öffentlich in der Hoffnung, dass dies der Förderung einer guten Gesprächskultur dienlich sein kann.
Bevor wir die ‘Waffenkammer’ betreten möchte ich kurz über die Bedeutsamkeit unserer Reaktionen reflektieren. Dann präsentiere ich die Datenbank an potenziell problematischen oder fehlerhalten Argumentationswegen. Zuletzt gebe ich noch einige persönliche Empfehlungen ab, die vielleicht auch für dich hilfreich sind.

Die eigentliche Aktion liegt in der Reaktion des Gegners.
«Die eigentliche Aktion liegt in der Reaktion des Gegners». Diese Aktionsregel hat der gereifte Aktivist Saul Alinsky in seinem Einflussreichen Buch «Rules for Radicals» (1971, siehe meine Rezension des Buches), geprägt.
Das Buch ist als Anleitung an eine junge Generation von Linksaktivisten gedacht. Die Denkweise von Alinsky ist durch und durch von Pragmatismus geprägt. Gut ist, was nützt. Das Einzige, was letztendlich zählt, ist das Erreichen des gesteckten Zieles. Deshalb ist es für Alinsky in letzter Konsequenz moralisch, auch unmoralische oder verwerfliche Mittel einzusetzen, um ein aus seiner Sicht gutes Ziel zu erreichen.
«Die eigentliche Aktion liegt in der Reaktion des Gegners» — Die Aktionsregel von Alinsky ist bis heute das wichtigste Prinzip von Aktivisten, wenn es darum geht, gegenüber Personen oder Organisationen Erfolge zu erzielen. Worum geht es? Es geht darum eine strategisch sinnvolle Reaktion bei der Zielperson oder Zielorganisation zu erreichen durch das Schaffen eines Entscheidungsdilemmas, in dem alle verfügbaren Optionen den Aktivisten zum Vorteil dienen.
Das Webportal https://beautifultrouble.org/ gibt einen aktualisierten Einblick in das umfangreiche «Waffenarsenal» der Kulturkämpfer im linken Spektrum in der Tradition Alinsky’s. Es ist dabei aber anzumerken, dass sich auch rechte Kreise in jüngster Zeit bei Alinsky bedienen.
Wer zum Beispiel schon einmal beim Marsch fürs Leben dabei war, hat das schon erlebt. Da gibt es jedes Mal eine Gegendemonstration, welche die Teilnehmer des Marsches beschimpft und versucht, die Kundgebung zu stören. Ziel der Gegendemonstranten ist immer, bei den Kundgebungsteilnehmern eine bestimmte Reaktion hervorzurufen, welche dann wieder verwertet werden kann. Den Christen soll eine ‘antichristliche’ Reaktion entlockt werden. Dann kann man sie als Heuchler entlarven. Dann kann sich der Aggressor selbst als Opfer inszenieren, als der moralisch Erhabene.
Diese kurze Erläuterung soll verdeutlichen, wie entscheidend auch in ‘Online-Gefechten’ unsere Reaktionen sind. Unsere Reaktion definiert die Möglichkeiten, welche unserem Gegenüber anschliessend zur Verfügung stehen. Deshalb ist es Sinnvoll, von der Reaktion des Gegenübers her zu denken: Welche Optionen eröffnen sich dem ‘Gegner’ durch meine Antwort? Wer dies mitbedenkt hat die Chance, selbst die Federführung im Disput zu übernehmen, oder zumindest nicht in die “Falle” zu laufen, welche einem möglicherweise gelegt wurde.

Das Arsenal
In der nachfolgenden Zusammenstellung werden potenziell problematische oder fehlerhalte Argumentationswege dokumentiert, welche Online, aber auch in anderen Settings anzutreffen sind. Ich illustriere sie jeweils mit konkreten Beispielen.
Die Reihenfolge der aufgeführten Phänomene ist beliebig und folgt keiner bestimmten Struktur oder Gewichtung. Es könnten durchaus Unterkategorien gemacht werden: Wer zum Beispiel mit einer Ad Hominem Attacke jemanden verunglimpft, macht sich moralisch ganz anders schuldig als eine Person, welche lediglich inkonsistent argumentiert oder einen Denkfehler macht.
Natürlich sind die illustrierenden Beispiele auch geprägt von meiner persönlichen Weltsicht und meinem Erleben. Ich versuche sie jedoch so sachlich wie möglich darzulegen.
Durch Aufklappen können nachfolgendend jeweils Erläuterungen und Beispiele zu den einzelnen Stichworten aufgerufen werden:
01_Das falsche Dilemma
Beschreibung: Beim falschen Dilemma wird fälschlicherweise behauptet, dass zwei Optionen nicht logisch nebeneinander bestehen können.
Erläuterung: Diese Taktik macht den Anschein, ein logisches Argument zu bilden, aber bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es mehr Möglichkeiten gibt als die entweder/oder-Entscheidung. Es kann sein, dass eine falsche Auswahl gegeben wird, oder Lösungsalternativen und Kombinationen verschwiegen werden. Dies führt zu einer irreführenden Argumentation und verstellt den Blick auf eine rationale, ehrliche Debatte.
Beispiel 1.1: Apologetik
Jemand sagt: «Man sollte keine Apologetik betreiben, sondern das Christentum als wahr verkünden.»
Antwort: Beides schliesst sich nicht aus.
Beispiel 1.2: Bevölkerungsexplosion
In den 60er und 70er Jahren warben gewisse Kreise unter Berufung auf das Bevölkerungswachstum für ein Recht auf Abtreibung oder eine forcierte Geburtenkontrolle. Das Rational lautete: «Entweder wir kriegen die Bevölkerungsexplosion in den Griff oder die Nahrungsmittel werden uns ausgehen.» Dieses Entweder/Oder hat aber die Möglichkeit unterschlagen, durch effizientere Landwirtschaft die Erträge zu steigern. Dies ist dann auch tatsächlich geschehen in den 70er und 80er Jahren, wo die weltweite landwirtschaftliche Produktion massiv zunahm.
Beispiel 1.3: Biblische Widersprüche
In der progressiven Theologie werden oft Bibelstellen, die sich scheinbar widersprechen, gegeneinander ausgespielt. Das Fazit ist jeweils meist, dass eines richtig sein muss und das andere falsch. Doch oft gibt es Möglichkeiten, scheinbare Widersprüche miteinander zu harmonisieren oder in einer gesunden Spannung zueinander aufrecht zu erhalten.
02_Die wertefreie Argumentation
Beschreibung: Der Führer eines Argumentes behauptet eine wertefreie Objektivität, zum Beispiel indem er sich auf Fachleute beruft. Diese Objektivität ist jedoch oft nicht wirklich gegeben.
Erläuterung: Argumentationen finden eigentlich immer auf der Grundlage gewisser weltanschaulicher Vorannahmen statt. Es ist wichtig, die Weltanschauung von Autoren, Rednern und Freunden zu erkennen, wenn man mit ihnen Interagieren will. Auch Wissenschaftler arbeiten mit weltanschaulichen Vorannahmen.
Beispiel 2.1: Sexologie
In einer Diskussion auf Facebook über neue christliche Sachbücher zu Sexualität kommentiert eine Person: «Ganz direkt: Die Bücher sind aus fachlicher Sicht nicht zu empfehlen…». Eine solche Aussage kann sehr gut hinterfragt werden. Denn die ‘Fachwelt’ ist im Bereich Sexualität mitnichten wertefrei oder neutral. Es ist zum Beispiel sehr entscheidend, was für eine Anthropologie zugrunde gelegt wird. Zudem gehen die Meinungen innerhalb der ‘Fachwelt’ auch stark auseinander. In diesem Beispiel waren die erwähnten Bücher der kommentierenden Person zu konservativ. Anstatt ein konkretes Argument zu bringen, schiebt er eine nicht näher definierte ‘Fachwelt’ vor, um seinen Punkt zu landen. Hier kann gut nachgehakt werden. Welche fachliche Sicht? Welche konkreten Dinge sind nicht zu empfehlen und warum?
Beispiel 2.2: Pantheismus
In einem Blogartikel zum Thema ‘Leben nach dem Tod’ schreibt ein Theologe: «In meinem Denken ist Gott gewissermassen diese Welt.» oder «Ich glaube, dass ich auf Gott hoffen kann, weil auch ich ein Teil davon bin.». Solche Sätze deuten auf ein pantheistisches oder panentheistisches Weltbild hin und nicht auf einen christlichen Theismus. Der betreffende Theologe arbeitet vielleicht mit christlichem Vokabular und bekommt seinen Lohn von einem kirchlichen Arbeitgeber, aber sein Denken ist nicht von einer christlichen Weltsicht geprägt. Dieses Beispiel zeigt die Wichtigkeit einer weltanschaulichen Analyse von Aussagen.
03_Die anekdotische Beweisführung
Beschreibung: Die Argumentation wird mit isolierten Beispielen (Anekdoten) gemacht, anstelle das mit stichhaltigen Argumenten eine Beweisführung gemacht wird.
Erläuterung: Quantitative wissenschaftliche Messungen sind meist aufschlussreicher als persönliche Wahrnehmungen und Erfahrungen. Wir neigen aber dazu, dem, was für uns greifbar ist, zum Beispiel einer emotionalen Erzählung, mehr zu glauben als abstrakteren Zahlen, Statistiken oder logischen Herleitungen.
Beispiel 3.1: Homosexualität
Ein Theologe argumentiert in seinem Buch für eine Neuordnung im Umgang der Kirche mit Homosexualität (Ehe für alle). Treue homosexuelle Paare sollen wie heterosexuelle Paare den kirchlichen Segen erhalten. Ausgangspunkt für seine Argumentation ist dabei eine berührende Begegnung mit einem langjährigen homosexuellen Paar. Der Theologe ist dem Paar an einem Kirchentag begegnet und die Begegnung hat ihn bewogen, seine Theologie grundlegend zu überdenken. Dies ist eine anekdotische Beweisführung, welche aus einem Einzelerlebnis eine allgemeine Regel ableitet.
04_Das isolierte Argument
Beschreibung: Beim isolierten Argument erfolgt eine Argumentation unter bewusster Unterschlagung weiterer Zusammenhänge.
Erläuterung: Ideen haben logische Implikationen und stehen nicht allein da. Menschen, welche ein bestimmtes Argument zu gewinnen suchen, lehnen oft den Zusammenhang zu möglichen negativen Folgen ab. Dieser Zusammenhang sollte dennoch hergestellt werden.
Beispiel 4.1: Ehe für alle
Von den Verfechtern für die «Ehe für alle» in der Schweiz wurde bewusst versucht, damit zusammenhängende Themen wie beispielsweise der wachsende Druck auf die Legalisierung von Leihmutterschaft oder die voraussehbare Anerkennung weiterer Beziehungsformen wie Polyamorie aus der Diskussion auszuklammern. Im Hinblick auf zukünftige Debatten war es für uns, die wir uns gegen die Einführung der Ehe für alle engagierten, dennoch wichtig, solche Zusammenhänge zu berücksichtigen. Man hat uns dafür kritisiert. Doch pünktlich am Tag des Inkrafttretens der Ehe für alle kam aus den Kreisen, die uns damals kritisierten, die Forderung nach Legalisierung von Leihmutterschaft.
05_Das Ad Hominem Argument
Beschreibung: Indem man den Menschen angreift, weicht man dem Argument aus.
Erläuterung: Ad-hominem-Angriffe können in der Form erfolgen, dass jemand verbal offen angegriffen wird. Oft geschieht es aber auf subtilere Weise, indem man den Charakter oder persönliche Eigenschaften einer Person in Zweifel zieht. Ziel ist es, die Argumente des Gegenübers zu diskreditieren, ohne dass man sich tatsächlich mit ihnen auseinandersetzen muss. Wird man Opfer von Ad Hominem Argumenten, sollte auch mal Klartext gesprochen oder gewisse Schritte eingeleitet werden (z.B. Sperren oder Aufforderung zur Löschung des Kommentars usw.), dies insbesondere wenn z.B. unbeteiligte Familienangehörige oder Freunde in die Diffamierung mit hineingezogen, oder bewusst Lügen verbreitet werden.
Beispiel 5.1: der Fundamentalist
Ein beliebtes Beispiel ist, wenn jemandem in einer Diskussion unterstellt wird, ein «Fundamentalist», ein «Nationalist», ein «Nazi» oder ein «Homophober» zu sein. Damit wird grundsätzlich der Charakter der Person in Frage gestellt und das Gegenüber diskreditiert, ohne auf die konkreten Argumente eingehen zu müssen.
Beispiel 5.2: der Besserwisser und der Dummkopf
Der Verfasser dieser Zusammenstellung hat online diese Art von Ad Hominem erlebt: «Und Peter Bruderer weiß anscheinend besser als jeder andere, was Gottes Gebote sind.» oder «Ich frage mich eher was auf dich eingewirkt haben muss, um so einen quatsch zu schreiben.»
06_Roter Hering (Whataboutism)
Beschreibung: Der ‘rote Hering’, welcher auch in der Form des ‘Whataboutism’ auftreten kann, führt etwas Irrelevantes in ein Argument ein, um den Gegner abzulenken.
Erläuterung: Es geht beim ‘roten Hering’ darum, jemanden auf die falsche Fährte zu locken. Man sollte sich davon nicht ablenken lassen. Der Begriff des roten Herings stammt aus der Jagd, wo früher versucht wurde, mit einem riechenden Fisch einen Jagdhund von der eigentlichen Fährte abzulenken. Im Falle des Whataboutism geht es verstärkt darum, das Gegenüber mundtot zu machen. Dies erfolgt indem das Gegenüber mit einem nicht zur Diskussion stehenden Unrecht in Verbindung gebracht wird.
Beispiel 6.1: Erziehung
Der rote Hering ist ein von Eltern gerne verwendetes Instrument, um ihre Kinder abzulenken, zum Beispiel wenn diese nach einem Sturz weinen, wenn die Kinder gerne ein Eis hätten usw.
Beispiel 6.2: Kreuzzüge, Missbräuche
Bei Diskussionen über den Glauben weichen Gegner des Christentums respektive der Kirche gerne auf Themen wie Kreuzzüge oder Missbrauch in der Kirche aus, um von den eigentlichen Fragen abzulenken. So wurde mir kürzlich in einer Diskussion über Transgender die Opfer des kirchlichen Missbrauchs vor Augen gehalten. Dies war nur eine billige Strategie, um von den realen negativen Folgen von Geschlechtstransitionen abzulenken.
07_Das sich selbst widerlegende Argument
Beschreibung: Sich selbst widerlegende Argumente sind Argumente, die «logischen Selbstmord» begehen, weil sie ihre eigenen Ansprüche nicht einhalten können.
Erläuterung: Viele postmoderne, relativistische Argumentationen widerlegen sich selbst. Sir Roger Scruton bringt es auf den Punkt: «Ein Autor, der sagt, es gebe keine Wahrheiten, oder dass alle Wahrheiten nur relativ seien, fragt dich eigentlich danach, ihm nicht zu glauben».
Beispiel 7.1: “Nicht die Theologie…“
An einer grossen kirchlichen Konferenz erntete der Redner für folgende Aussage viel Applaus: «Es ist nicht die Theologie, die uns zusammenhält. Es ist Christus. Es ist nicht die richtige Frömmigkeit, nein, es ist Christus. Es ist nicht die richtige Ethik, es ist Christus.». Diese Aussage ist jedoch selbst eine sehr umfassende lehrmässige Behauptung. Die ständige Behauptung, dass Theologie unbedeutend ist, ist in sich selbst eine Lehre, eine Theologie.
08_Der Strohmann
Beschreibung: Beim Strohmann wird eine verzerrte oder vereinfachte Karikatur der Argumente des Gegners erstellt. Diese Karikatur wird dann attackiert.
Erläuterung: Wenn man die Argumente anderer übertreibt, falsch darstellt oder einfach komplett fabriziert, ist es viel einfacher, die eigene Position als vernünftig darzustellen. Diese Art von unehrlicher Übertreibung und Verzerrung untergräbt die ehrliche und differenzierte Debatte.
Beispiel 8.1: Politik
In politischen Auseinandersetzungen wird oft mit Strohmännern gearbeitet. Es ist einfacher seine eigene Position zu verkaufen, wenn aus dem Gegner eine Karikatur oder ein überzeichnetes Feindbild gemacht wird.
Beispiel 8.2: Theologie
Theologen mit divergierenden Ansichten neigen gerne dazu, nicht genehme theologische Positionen bewusst zu verzerren oder problematische Positionen kleinster Minderheiten als repräsentativ für eine breite Strömung zu präsentieren. Zum Beispiel zeichnen liberale Theologen gerne ein Bild von konservativen Theologen als einer Gilde, welche die Bibel ‘flach’ liest und scheinbar völlig frei von jeglicher Differenzierung. Es geht aber natürlich auch umgekehrt. Konservative Theologen müssen genauso aufpassen, dass sie von liberalen oder progressiven theologischen Positionen keine Karikaturen machen. Ein Merkmal von theologischen Strohmännern ist, dass sie oft ohne Quellenangaben, ohne konkrete Zitate und ohne Kontext arbeiten — das erleichtert das Konstruieren von Strohmännern ungemein. Zudem werden meist die besten eigenen Argumente mit den schlechtesten der Gegenseite verglichen.
09_Der Appel an die Modernität
Beschreibung: Hier geht es um die Vorstellung, dass eine Idee, die zeitgemäß ist, eher der Wahrheit entspricht als eine ältere Idee: «wenn neu, dann wahr».
Erläuterung: Chronologie hat keinen Einfluss darauf, ob eine Idee oder eine Weltanschauung wahr oder falsch ist. Abgesehen von technologischen Innovationen gibt es in der Philosophie oder Religion zudem auch kaum wirklich neue Ideen. C.S. Lewis und G.K. Chesterton prägten dazu den Begriff der ‘chronologischen Arroganz’.
Beispiel 9.1: Eugenische Bewegung
Die eugenische Bewegung vor 100 Jahren stand ganz im Namen der Modernität und des Fortschritts. Im Namen der Weltverbesserung plädierte man für die Anwendung von Zuchtprinzipien in der menschlichen Fortpflanzung. Sozial ‘brauchbaren’, ‘gesunden’ Personen und Personengruppen wurde zu möglichst kräftiger Vermehrung geraten, während Personen und Personengruppen, die man als minderwertig betrachtete, an der Vermehrung gehindert werden sollten. Die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. von westlichen Eliten als fortschritlich fortschrittlich propagierte Idee mündete schlussendlich in die unmenschlichen Programme der Rassenhygiene im dritten Reich. Die scheinbar fortschrittliche Idee war eben im Kern eine unmenschliche Idee.
Beispiel 9.2: die natürliche Familie
Die neue Linke in den 70er Jahren und die Queere Bewegung heute stellen die Familie gerne als antiquierte und veraltete Institution dar. Sie ermutigen zu neuen Formen des Zusammenlebens. Doch: nur weil es die natürliche Familie schon seit Menschengedenken gibt, heisst nicht, dass sie eine dumme Idee ist. Vielleicht ist es genau umgekehrt, dass sie unentbehrlich ist und sich bewährt hat. Zum Beispiel versuchte das russische Familiengesetz von 1918, einen Übergang von der Familie hin zu einer kommunalen Gesellschaftsstruktur einzuleiten. Unter anderem wurden Adoptionsrechte abgeschafft. Elternlose Kinder sollten nicht in einer ‘unterdrückerischen Institution’ wie der Familie aufwachsen, sondern liebevoll vom Kollektiv betreut werden. Bereits 1926 musste man zurückkrebsen, weil Millionen von Waisenkindern gänzlich unbetreut durch die Lande zogen. Die revidierte Gesetzgebung von 1926 ermöglichte wieder Adoption.
10_Der texanische Scharfschütze
Beschreibung: Beim texanischen Scharfschützen pickt man sich eine Datengruppe heraus, die zu einem Argument passt, oder erfindet ein Muster, welches zu einer eigenen Vermutung passt.
Erläuterung: Hier wird eine (falsche) Ursache zu einem bestimmten Problem konstruiert. Der Begriff wurde geprägt in Anlehnung an einen Scharfschützen, der wahllos auf eine Scheune schießt und dann Zielscheiben um die Stellen herum malt, an der die meisten Einschusslöcher erscheinen. Die nachträglich gemalten Zielscheiben erwecken dann den Eindruck, dass es sich um einen besonders guten Schützen handelt. Beim texanischen Scharschützen liegt der Fehler darin, dass Häufungen zufällig sein können und nicht zwingend im Zusammenhang zu einer bestimmten Ursache stehen. Das Phänomen des texanischen Scharfschützen kommt bei der Auswertung von Statistiken besonders häufig vor.
Beispiel 10.1: Konversionstherapien
Die LGBT-Lobby argumentiert oft, dass sogenannte ‘Konversionstherapien’ (der präzisere Fachausdruck ist “sexual orientation change efforts”, SOCE) für eine erhöhte Suizidalität bei Betroffenen sorgen. Der Soziologe Prof. Paul Sullins stellt diesen Befund in Frage. Nur weil bei Personen, welche in der Vergangenheit eine solche Therapie gemacht haben, eine erhöhte Suizidalität vorhanden ist, heisst das noch lange nicht, dass diese zwingend von der Therapie herkommt. Man muss zum Beispiel auch die Vorher-nachher Relation untersuchen. Eine korrekte Auswertung von Daten zeigt gemäss Sullins, dass solche Therapien durchaus auch zu einer Abnahme der Suizidalität beitragen können.
Beispiel 10.2: Schwarze und Armut
Eine weitverbreitete Annahme ist, dass erhöhte Gewalt und Armut bei schwarzen Amerikanern ihre Ursache in rassistischer Diskriminierung hat. Meist kommt die Feststellung mit der Forderung nach Antidiskriminierungsgesetzen und mehr sozialen Programmen. Der schwarze Ökonom und Sozialwissenschafter Thomas Sowell weist aber nach, dass Rassismus eine wohl eher untergeordnete Rolle spielt. Entscheidender sind zum Beispiel familiäre Entwicklungen (Scheidungsraten, alleinerziehende Eltern). Soziale Programme können nach ihm gar eine kontraproduktive Wirkung haben.
11_Der Appell an die Emotionen
Beschreibung: Anstelle einer stichhaltigen Argumentation wird versucht, eine emotionale Reaktion hervorzurufen.
Erläuterung: Zu den Appellen an Emotionen gehören Appelle an Angst, Neid, Hass, Mitleid, Stolz und vieles mehr. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch kohärente Argumente Emotionen hervorrufen oder einen emotionalen Aspekt haben dürfen! Das Problem tritt aber auf, wenn Emotionen verwendet werden, um die Inkohärenz oder Mangelhaftigkeit einer Argumentation zu verschleiern. Menschen lassen sich nun mal von Emotionen ansprechen, und so sind Appelle an Emotionen eine sehr verbreitete, aber manchmal unehrliche Taktik.
Beispiel 11.1: Predigten
Emotionen dürfen und sollen zum Predigen gehören. Es bleibt für Pastoren und Evangelisten aber eine stete Versuchung, fehlende Argumente, fehlende Gründlichkeit oder gar die eigene Orientierungslosigkeit durch den Griff in die Schublade der Emotionen zu überdecken. Gerade begabte Rhetoriker stehen in der Versuchung, Menschen mit Emotionen zu manipulieren, statt über den Inhalt zu punkten.
12_Die schiefe Ebene
Beschreibung: Dieser Denkfehler geht fälschlicherweise aus von einem zwingenden Zusammenhang zwischen einem Ereignis oder einer Situation und einer weiteren Entwicklung.
Erläuterung: Man sollte hier beachten, dass es natürlich diese sogenannten ‘slippery slope’ gibt. Aber nicht jede ‘schiefe Ebene’ ist tatsächlich eine negative schiefe Ebene. Es gibt sie auch in moralisch guter Form.
Beispiel 12.1: Gesellschaftlicher Untergang
Diverse bedeutende Soziologen haben einen Zusammenhang zwischen zunehmender sexueller Freizügigkeit und dem Untergang von Kulturen hergestellt: Liberalisiert eine Kultur ihre Sexualethik, gerät sie auf eine ‘schiefe Ebene’ die automatisch ihren Untergang herbeiführen wird. Der Anthropologe J. D. Unwin hat sogar die Zeitdauer bis zum Untergang beziffert: 3 Generationen. Demnach müssten unsere westlichen Kulturen 3 Generationen nach der sexuellen Revolution der 60/70er untergehen – also irgendwo in den kommenden ca. 30 Jahren. Auch aus christlicher Perspektive haben solche Theorien haben eine gewisse Plausibilität, finden wir doch auch in der Bibel göttliches Gericht über die Völker als Konsequenz von Sünde und vergehen. Wir finden in der Bibel aber auch das andere: Völker erhalten eine reale Chance, wenn sie von ihren bösen Wegen umkehren. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Ninive in der Jonas-Geschichte. Der Untergang ist nicht unausweichlich. Bei Gott ist Umkehr möglich.
Beispiel 12.2: Sklaverei
Ein Sklavenhalter aus den Südstaaten der USA konnte im 19.Jh sagen: «Wenn ihr die Sklaven befreit, werden wir als nächstes auch noch den Frauen das Wahlrecht geben!» Das entsprach der Logik der Befreiung und hat dann auch so stattgefunden. Aber den Frauen das Wahlrecht zu geben, kann als moralisch richtig bezeichnet werden. Dann war es im positiven Sinne eine ‘schiefe Ebene’.
13_Der Ad-populum-Fehlschluss (Zugwagen-Fehlschluss)
Beschreibung: Man beruft sich auf die Popularität einer Idee oder auf die Tatsache, dass viele Menschen etwas tun, um daraus zu schliessen, dass die entsprechende Idee oder Handlung gut sein muss.
Erläuterung: Der Fehler in diesem Argument ist, dass die Popularität einer Idee absolut keinen Einfluss auf ihre Gültigkeit oder Güte hat. Beim Ad-populum-Fehlschluss wird oft appelliert, sich «auf die richtige Seite der Geschichte» zu stellen. Es wird dazu aufgefordert, rechtzeitig ‘auf den Zug’ aufzuspringen.
Beispiel 13.2: Totalitarismus
Diverse totalitäre Systeme haben ihre Macht mit einer Mehrheit der Bevölkerung im Rücken angetreten. Ihre Ideologien haben sich dennoch als zerstörerisch erwiesen.
14_Die Berufung auf eine Autorität
Beschreibung: Etwas muss wahr sein, weil eine Autorität oder glaubwürdige Quelle das auch glaubt.
Erläuterung: Wir brauchen Experten oder Autoritäten. Das Urteil eines Arztes ist aufgrund seiner medizinischen Fachkenntnisse wichtig. Aber natürlich können sich Autoritäten auch irren, oder Fachpersonen sind sich uneinig. Das Problem tritt verstärkt auf, wenn Fachpersonen willkürlich herangezogen werden oder als Autoritäten in für sie fremde Fachbereiche.
Beispiel 14.1: Covid-Spezialisten
In der Covid19 Thematik haben sich alle auf Autoritäten berufen, und dabei völlig gegensätzliche Meinungen vertreten. Die Covid Krise hat aber auch aus ganz vielen Laien vermeintliche Autoritäten gemacht – ohne dass sie wirkliche Kompetenz gehabt hätten.
15_Die falsche Ursache
Beschreibung: Weil auf A ein B folgt, muss A die Ursache für B sein.
Erläuterung: Viele Menschen verwechseln Korrelation (Dinge, die zusammen oder nacheinander auftreten) mit Kausalität (dass eine Sache die andere tatsächlich verursacht). Manchmal ist die Korrelation zufällig, manchmal ist eine gemeinsame Ursache gegeben.
Beispiel 10.3: Covid Nebenwirkungen
Nach der Covid Impfung verzeichnete die Schweiz einen starken Rückgang der Geburtenzahlen. Es liegt auf der Hand, dass eine Verbindung hergestellt wird. Trotzdem könnte es neben der Impfung weitere oder andere Ursachen geben. Der mögliche Zusammenhang muss sauber untersucht werden, bevor daraus eindeutige Schlüsse gezogen werden können.
16_Die falsche Verallgemeinerung (Der induktive Fehlschluss)
Beschreibung: Aus dem Einzelnen wird auf das Allgemeine geschlossen.
Erläuterung: Dieser Fehlschluss ist ähnlich wie die anekdotische Beweisführung. Um zu verallgemeinern, dass die meisten A wie B sind, muss man mehr als nur ein paar Beispiele dafür anführen. Es gilt aufmerksam zu sein auf Formulierungen wie “alle”, “die meisten”, “immer”, “nie”…
Beispiel 16.1: Westboro Baptisten
In den Mainstream-Medien werden die Handlungen einer kleinen und hasserfüllten Kirche, der ‘Westboro Baptist Church’, manchmal als repräsentativ für Evangelikale oder gar das Christentum präsentiert. Das ist falsch. Diese Gruppe ist für ihre hasserfüllten Plakate und andere Schandtaten bekannt. Von ihrem Verhalten auf den allgemeinen Charakter der Christenheit zu schliessen, ist eine falsche Verallgemeinerung.
17_Die Kafka-Falle
Beschreibung: Unterstelle deinem Gegner etwas Bösartiges auf eine Art, dass, sobald er es abstreiten will, dies seine Schuld nur noch weiter unterstreicht.
Erläuterung: Im Roman “Der Prozess” präsentiert Kafka eine absurde, totalitäre Welt, in der ein Mann eines Verbrechens beschuldigt wird, aber aufgrund der verworrenen Bürokratie nie erfährt, was ihm vorgeworfen wird. Die Kafka-Falle geht immer zugunsten des Klägers aus. Der Angeklagte kann entweder dem Kläger zustimmen und ihn damit bestätigen — streitet er die Klage ab wird dies aber auch als Beleg gesehen, dass er schuldig ist.
Beispiel 17.1: Kim de l’Horizon
In einem Facebook Post lobt ein Theologe ‘Kim de l’Horizon’, Gewinner des Deutschen Buchpreises 2022. Als viele Kommentatoren sich entrüsten und auf pornografische und okkulte Elemente im Buch hinweisen, sieht sich der Theologe darin bestätigt, wie wichtig das Buch ist: «Die Kommentare hier zeigen mir, wie notwendig dieses Buch und auch dieser Preis offenbar sind.». Anders ausgedrückt: Wer dem Theologen applaudiert beweist, dass er mit seinem Lob recht hat, wer ihm widerspricht bestätigt dies ebenfalls.
Beispiel 17.2: ‘Weisser Kolonianismus’ und andere ‑ismen.
Die Kafka Falle kommt oft vor bei Anschuldigungen im Themenbereich von Rassismus, Sexismus und anderen ‑ismen. Im Denken ‘woker’ Aktivisten haben sich zum Beispiel “weisse heterosexuelle Männer” immer als Mitschuldige zu betrachten für die Unterdrückung von Minoritäten. Identifizieren sie sich nicht als mitschuldig, bestätigen sie lediglich die These, dass sie tatsächlich an der Unterdrückung beteiligt und damit schuldig sind. Die Leugnung einer Schuld wird zur eigentlichen Demonstration von Schuld und Mittäterschaft.
18_Der genetische Fehlschluss
Beschreibung: Dinge werden als gut oder schlecht eingestuft, je nachdem, woher oder von wem sie kommen.
Erläuterung: Dieser Trugschluss umgeht das Argument, indem er den Fokus auf die Herkunft von etwas oder jemandem verlagert. Er ähnelt dem “ad hominem”-Trugschluss, da er bestehende negative Wahrnehmungen ausnutzt, um das Argument eines anderen schlecht aussehen zu lassen, ohne tatsächlich zu begründen, warum das Argument selbst nicht stichhaltig ist. Das will nicht heissen, dass wir nicht die Ursprünge von Ideen erforschen sollen oder Leben und Weltsicht ihrer Urheber in die Beurteilung einer Idee einfliessen können.
Beispiel 18.1: Ravi Zacharias, Bill Hybels
Muss die Theologie eines Ravi Zacharias oder eines Bill Hybels abgelehnt werden, wenn sie sexuelle Verfehlungen begangen haben? Dies muss nicht zwingend sein. Dafür müsste der Nachweis erbracht werden, dass ihre Theologie ein Instrument war, mit dem sie ihr eigenes Verhalten gerechtfertigt haben oder das ihr Verhalten einen positiven Bezug zu ihrer Weltanschauung, ihrem Glauben hatte.
Beispiel 18.2: Jesu Herkunft
Einige lehnten Jesus und seine Botschaft ab, weil sie in Bezug auf seine Herkunft ein Vorurteil hatten: “Was kann aus Nazareth Gutes kommen!” (Joh 1:46)
19_Das zirkulare Argument (Zirkelschluss)
Beschreibung: Ein Argument wird mit dem gleichen Argument untermauert.
Erläuterung: Der Zirkelschluss beweist das Argument nicht, sondern wiederholt es. Dies geschieht, indem zwei Behauptungen aufgestellt werden, die das Gleiche bedeuten. Zirkelschlüsse entstehen oft in Situationen, in denen Menschen eine Annahme haben, die sehr tief verwurzelt ist und daher in ihrem Kopf als gegeben angenommen wird. Das bedeutet, dass man davon ausgeht, dass die eigene Meinung wahr ist, anstatt sie zu begründen.
Beispiel 19.1: Kaffee
«Kaffee regt an, weil er eine aufputschende Wirkung hat.» Hier ist die These bereits in der Begründung enthalten.
Beispiel 19.2: Die Bibel ist Gottes Wort
„Die Bibel ist Gottes Wort, weil der erste Brief an Timotheus klar sagt, dass alle Schrift von Gott eingegeben ist». Auf der Glaubensebene mag eine solche Aussage Sinn ergeben. Auf der logischen Ebene muss dieses Argument als Zirkelschluss betrachtet werden. Die Behauptung arbeitet zur Beweisführung mit ihrer eigenen Behauptung. Man kann jedoch sagen, dass es der Selbstanspruch der Bibel ist, Gottes Wort an die Menschen zu sein, und dies deshalb auch die christliche Grundannahme sein muss. Diese Grundannahme kann dann mit weiteren Argumenten gestützt werden.
20_Die falsche Äquivalenz (Äpfel mit Birnen vergleichen)
Beschreibung: Der Trugschluss der falschen Äquivalenz liegt vor, wenn der Sprecher oder Schreiber eine Sache mit einer anderen gleichsetzt und Schlussfolgerungen zieht, obwohl beide Sachen in Wirklichkeit unterschiedliche Dinge sind.
Erläuterung: -
Beispiel 20.1: Petrus und LGBT
Ein Theologe argumentiert in seinem Buch unter anderem mit der Geschichte von Petrus und Kornelius (Apg 10) für eine Neuordnung von Homosexualität. Das Argument besagt, dass in dieser Geschichte eine Linie überschritten wurde. Im Traum wurde Petrus gesagt, bisher verbotenes (der Konsum unreiner Tiere) sei nun erlaubt und gut. Demensprechend könne man nun auch im Bereich LGBT eine Grenze überschreiten, und homosexuelle Beziehungen gutheissen. Doch es fehlt hier die Äquivalenz. Es geht in jener Petrusgeschichte um die Ausweitung der Mission auf die Heiden und damit um etwas, was in den biblischen Schriften einen langen prophetischen Vorschatten hat. Bereits Jesus hatte den Jüngern den Auftrag gegeben, das Evangelium allen Völkern zu bringen (Mt 28,16–20) und er hatte auch die Speisevorschriften relativiert (z.B. Mt 15:17–18). Ganz anders in der Frage der Legitimität homosexueller Beziehungen: Jesus bestätigt ausdrücklich die Ehe als Beziehung von Mann und Frau und es gibt keinerlei prophetische Vorschatten. Nützlich ist für den besagten Theologen in seiner Argumentation also lediglich der Akt der Grenzüberschreitung in der Geschichte von Petrus, welche er dann auf eine grundlegend andere Fragestellung anwendet. Die Geschichte von Petrus und Kornelius (Ausweitung der biblisch vorangekündigten Heidenmission) lässt sich nicht einfach so übertragen auf ein neues Thema (Aufhebung der biblisch durchgängigen Ablehnung von homosexueller Praxis).
Beispiel 20.2: Ehe für alle
Die Abstimmung zur Ehe für alle wurde 2021 intensiv mit dem Argument geführt, das alle die gleichen Rechte haben sollen. Eigentlich würde das Rechtsprinzip aber lauten: «Gleiches ist nach Massgabe seiner Gleichheit gleich, Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln.» Wenn ungleiche Dinge gleichbehandelt werden, besteht die Gefahr, dass wiederum eine ungerechte Situation entsteht. Die Ungleichheit zwischen heterosexueller und homosexueller Ehe besteht im Bereich der Reproduktion. Das in der heterosexuellen Vereinigung angelegte Potential Kinder zu zeugen ist bei der homosexuellen nicht gegeben. Die Einführung der Ehe für alle führt deshalb logischerweise zu Forderungen, im Namen gleicher Rechte nun auch neue Möglichkeiten im Bereich der künstlichen Fortpflanzung zu erlauben. Dies schafft gegenüber betroffenen Kindern wiederum Ungerechtigkeiten. Am Ursprung steht die falsche Äquivalenz.
21_Das ‘Du auch’ Argument
Beschreibung: Man vermeidet es, sich mit einer Kritik auseinanderzusetzen, indem man sie auf den Ankläger zurückwirft. Man beantwortet Kritik mit Kritik.
Erläuterung: Dies wird häufig als wirksames Ablenkungsmanöver eingesetzt, weil es den Druck von jemandem nimmt, der sein Argument verteidigen muss, und stattdessen den Fokus wieder auf die Person gelenkt wird, welche die Kritik äußert. Dieses Argument existiert auch in der Form «Er auch», also das eine Drittperson kritisiert wird.
Beispiel 21.1: Kinder
Ein Kind hat etwas Dummes getan oder eine Hausregel gebrochen. Das Einfachste ist, die Aufmerksamkeit auf die Geschwister zu lenken welche auch dabei waren oder das Vergehen auch schon begangen haben. Wenn es ganz dumm läuft, hast du als Vater oder Mutter die Regel auch schon übertreten und das Kind reibt es dir unter die Nase: «Du auch!» Das «Du auch!» heisst aber nicht, dass die Regel aufgehoben wäre… nein, sie ist immer noch in Kraft!
Beispiel 21.1: Kirchenrückgang, Missbrauchsskandale usw.
Im kirchlichen Umfeld herrscht auch ein gewisser Konkurrenzkampf. Bei Negativschlagzeilen kann da auch mal heimliche Schadenfreude herrschen bei den Mitkonkurrenten. Die Gefahr ist aber, dass man die eigenen Hausaufgaben nicht macht. Nur weil andere Kirchen auch Probleme haben, heisst das noch lange nicht, dass man seine eigenen nicht angehen sollte.
22_Die Berufung auf die Natur
Beschreibung: Das Argument behauptet, dass etwas, weil es in der Natur existiert, auch gültig, gerechtfertigt, unvermeidlich, gut oder ideal ist.
Erläuterung: Viele “natürliche” Dinge werden automatisch auch als “gut” angesehen, aber die Natürlichkeit selbst macht etwas nicht gut oder schlecht. Es gibt auch schlechte Veranlagungen, welche sich als natürlich anfühlen oder sehr tief im Menschen sind.
Beispiel 22.1: Prostitution
Im 1. Korintherbrief Kap 6 geht Paulus auf das Argument ein, Sexualität sei für den Menschen wie das Essen für den Bauch, also ein natürliches Bedürfnis, welches z.B. auch durch Prostitution befriedigt werden kann. Paulus lehnt dieses Argument ab.
Beispiel 22.1: Neuzeitliche Sexologen
Neuzeitliche Sexologen wie Alfred Kinsey haben oft die Tierwelt beigezogen, um gewisse menschliche Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Der Mensch wurde als ‘menschliches Tier’ präsentiert, dem Schaden zugefügt würde, wenn man ihm das Ausleben seiner Instinkte nicht gestatten würde. Nun — die Tierwelt kennt auch Arten, welche aus instinkt die Nachkommen auffrisst oder gar den Sexpartner…
23_Die goldene Mitte
Beschreibung: Die Idee der goldenen Mitte legt nahe, dass ein Kompromiss zwischen zwei Extremen die Wahrheit respektive die beste Lösung sein muss.
Erläuterung: Manchmal liegt die Wahrheit tatsächlich zwischen zwei Extremen. Aber das kann unser Denken verzerren: Manchmal ist eine Sache einfach unwahr und ein Kompromiss damit ist ebenfalls unwahr. Der halbe Weg zwischen der Wahrheit und einer Lüge ist immer noch eine Lüge.
Beispiel 23.1: König Salomon
Das bekannte salomonische Urteil in 1 Könige 3,16–28 zeigt auf, wie falsch die goldene Mitte sein kann. Zwei Prosituierte erhoben Anspruch auf das gleiche Kind. Salomo provoziert das Hervortreten der Wahrheit, indem er vorschlägt, das Kind zweizuteilen und jeder Frau die Hälfte zu geben. Es liegt auf der Hand, dass die ‘goldene Mitte’ in diesem Fall nicht die Wahrheit sein konnte und nur eine der beiden Frauen die Mutter war.
24_Der Ruf nach Ambiguität
Beschreibung: Mehrdeutigkeit kann ausgenutzt werden, um irrezuführen oder die Wahrheit falsch darzustellen.
Erläuterung: -
Beispiel 24.1: Meinungsmacher
Meinungsmacher oder Politiker, welche sich alle Optionen offenhalten wollen, machen Ambiguität oft zu einem zentralen Element ihrer Sprache. Ambigue Positionen und Aussagen lassen sich im Nachhinein besser Verteidigen oder Revidieren.
Beispiel 24.2: Glaubenslehren
In der Theologie wird heute oft nach mehr Ambiguitätstoleranz gerufen. Dabei geht es darum, Einheit nicht über den Konsens in christlichen Lehren zu suchen, sondern die Vielfalt als einendes Element zu entdecken und zu feiern. Christliche Vielfalt muss aber Grenzen haben. In der Bibel werden immer wieder Beurteilungen vorgenommen, oder es wird dazu aufgerufen, falsche Lehren zu unterbinden. Es gibt für Christen einen unverhandelbaren Glaubenskern, bei dem Ambiguität gänzlich fehl am Platz ist (Vgl. z.B. 1Kor 15:3)
25_Der Design Fehlschluss
Beschreibung: Der Design Fehlschluss geht davon aus, dass etwas, nur weil es hübsch gestaltet oder schön präsentiert ist, auch wahrer ist.
Erläuterung: Was äusserlich überzeugend daherkommt muss nicht unbedingt auch ‘innerlich’ richtig und wahr sein. Die Substanz muss geprüft werden.
Beispiel 25.1: Architektur
In der modernen Architektur wird aus Designgründen oft auf Steildächer oder Vordächer verzichtet. Solche Konstruktionen sind aber oft weniger dauerhaft und funktional. Von einem modernen und durchgestylten Flachdachgebäude auf eine bessere Qualität zu schliessen, ist deshalb falsch.
Beispiel 25.2: Irrlehren
In der Theologie werden viele Lügen durch wohlformulierte, geschliffene und geschickt konstruierte Predigten verbreitet, welche überzeugend tönen und perfekt präsentiert sind. Auch Bühnen-Nebel, Licht-Effekte, LED-Wände oder gepolsterte Stühle sind kein Garant für inhaltliche Qualität…
26_“Special pleading”
Beschreibung: Dieser Trugschluss kritisiert ein Argument wegen einer bestimmten Eigenschaft, nimmt sich selbst aber von der gleichen Kritik aus.
Erläuterung: “Special pleading” ist eine Form von Inkonsistenz.
Beispiel 26.1: Queere Theologie
Vom Wunsch, die Bibel ernst zu nehmen, bleibt in der Praxis der progressiven Theologie oft wenig übrig. Besonders stark tritt dies zutage bei gewissen progressiven theologischen Ausprägungen wie zum Beispiel der queeren Theologie. Diese lebt stark davon, dass die persönliche Wahrnehmung in die Bibel hineinprojiziert wird. Die Ergebnisse sehen dann eher aus, wie die ideologische Programmschriften der Queer Theorie. Dem eigenen Anspruch, die Bibel ernst zu nehmen, wird nicht nachgekommen.
Beispiel 26.2: Follow the Science, follow the Enneagramm
In Feld derjenigen, welche sich in den vergangenen Jahren vom historischen Christentum verabschiedet haben, wird oft das Argument der Wissenschaftlichkeit aufgeführt. Die Bibel und das Christentum würden sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen verschliessen, weshalb man sich nun von bisher gehaltenen Glaubenssätzen distanziert. Gleichzeitig fällt jedoch auf, was für einen prominenten Platz unwissenschaftliches oft weiterhin hat im Leben dieser Menschen. Ihnen ist zum Beispiel das gänzlich unwissenschaftliche Enneagramm (weiterhin) äusserst wichtig. Viele verlagern ihr Interesse und suchen esoterische Erfahrungen. Scheinbar sind solche Dinge vom Grundsatz der Wissenschaftlichkeit ausgenommen…
27_Der “Cancellation-Fehlschluss”
Beschreibung: Der “Cancelation-Fehlschluss” ist eine Kombination von verschiedenen Fehlschlüssen und ist wirksam in der heutigen ‘Cancel-Culture’
Erläuterung: Dieser Fehlschluss wurde vom Philosophen und Apologeten Douglas Groothuis erörtert.
Beispiel 27.1: Beleidigung
1. Jemand fühlt sich durch P beleidigt (z.B. durch eine Aussage oder eine Handlung)
2. Daher ist P falsch und Böse (Ad-hominem)
3. Das moralische Unrecht, das von jemandem wie P begangen wird, wird einer breiten Kategorie wie Rassismus, Homophobie, Transphobie o.ä. zugeordnet (Strohmann)
4. Daher muss, wer sich auf die Seite von P stellt, gecancelt werden.
5. Wenn andere P nicht anprangern, müssen sie ebenfalls gecancelt werden, denn “Schweigen ist Gewalt”.
28_Dasa “Gaslighting”
Beschreibung: Gaslighting ist der Versuch, beim Gegenüber Zweifel an dessen Wahrnehmung der Realität zu wecken.
Erläuterung: Gaslighting versucht durch die Vortäuschung falscher Tatsachen oder durch Verleugnung von real existierenden Dingen, Verhaltensweisen oder Ereignissen beim Gegenüber Zweifel hervorzurufen an der eigenen Wahrnehmung der Realität. Der Begriff stammt aus dem Titel eines Theaterstücks von 1938 und den darauf basierenden Filmen, in denen ein Mann versucht, seine Frau glauben zu machen, dass sie verrückt ist. Gaslighting ist auch eine beliebte Strategie, um im öffentlichen Diskurs andere Personengruppen als ungebildet und dumm aussehen zu lassen.
Beispiel 28.1: Olympische Spiele
Ein gutes Beispiel für Gaslighting waren die Ereignisse rund um die Eröffnung der Olympiafeier in Paris. Nachdem die als ‘Abendmahls-Szene’ bekanntgewordene Episode der Feier für einen Aufschrei in religiösen Kreisen sorgte, wurde von den Veranstaltern der Bezug zu einer antiken bacchantischen Orgie forciert. Dies wurde in Progressiven Kreisen bereitwillig aufgenommen und in den sozialen Medien weitergetragen. Die Kreise, die sich entrüstet hatten, wurden so als ungebildet und von übermässigem religiösem Wahn getrieben dargestellt, während die Progressiven sich selbst als wissend und gebildet darstellen konnten. Im Beispiel der Olympischen Spiele schwingen weitere Elemente mit:
- Das falsche Dilemma. Das Fest konnte sich gleichzeitig sowohl auf die antiken Feste beziehen als auch eine Subversion des Abendmahls sein. Es musste nicht das eine oder andere sein, es konnte beides sein.
- Die Motte and Bailey Strategie: Rückzug auf eine einfacher zu verteidigende Aussage (das antike Fest), obwohl man eigentlich eine viel umstrittenere Botschaft an den Mann gebracht hatte (Beleidigung des Christentums).
29_“Motte and bailey”
Beschreibung: Die „motte and bailey“ ist eine Strategie, bei der man sich hinter ein einfach zu verteidigendes Argument oder Aussage verschanzt und behauptet, ein schwieriger zu verteidigendes Argument respektive eine schwieriger zu verteidigende Aussage nicht gemacht zu haben.
Erläuterung: Der Begriff stammt von einem Typus mittelalterlicher Burgen, welche einen Wehrturm (Motte) mit einer befestigten Vorzone kombinierten (Bailey). Der Motte-and-Bailey-Fehlschluss ist eine Form der Argumentation, bei dem ein Argumentierender zwei Positionen miteinander verbindet, die Ähnlichkeiten aufweisen: eine bescheidene und leicht zu verteidigende (die “Motte”) und eine viel umstrittenere und schwerer zu verteidigende (die “Bailey”). Der Argumentierende vertritt die umstrittene Position oder macht eine umstrittene Aussage, beharrt aber, wenn er herausgefordert wird, darauf, dass er nur die bescheidenere, weniger umstrittenere Position vertritt respektive Aussage gemacht hat.
Beispiel 29.1: Alle Weissen sind Rassisten
Im Buch “Critical Dilemma” von Neil Shenvi und Pat Sawyer wird die Motte-and-Bailey Strategie ausführlich besprochen am Beispiel Rassismus. Die Aussage „Alle Weissen sind Rassisten“ (die Bailey) wird dabei fallen gelassen zugunsten der Aussage „Alle Weissen sind an Systemen beteiligt, welche in Bezug auf Rasse ungerecht sind“ (die Motte).
Wichtig ist, den Rückzug auf die Motte zu verhindern, indem auf die erste gemachte Aussage fokussiert wird und deren Problematik hervorgehoben wird. Zum einen finden wir auch in guten Systemen wie der Ehe, dem Privatrecht usw. die Problematik der Ungleichheit. Zum anderen sind wir in diesen Systemen alle Beteiligt und miteinander verwoben so das man konsequenterweise auch sagen müsste: „Alle Latinos sind Rassisten“, „Alle schwarzen sind Rassisten“.
Beispiel 29.2: Radiostation
Eine Form von “Motte and bailey” ist es, die eigene Position oder Ideologie an den Mann zu bringen, indem man andere Menschen reden lässt. Eine Radiostation kann beispielsweise die Meinungsbildung ihrer Hörer beeinflussen durch die Auswahl der Interviewgäste. Wird man dann kritisiert, so kann man sich dahinter verstecken, dass man Interviewpartner offen und ehrlich über ihre Ansichten reden lassen will und deren Meinungen sich nicht mit der Ansicht der Redaktion decken müssen.
30_Das “Ghosting”
Beschreibung: Ghosting ist die abrupte Beendigung der Kommunikation mit einer Person, ohne Erklärung von Gründen.
Erläuterung: Das Konzept bezieht sich ursprünglich auf romantische Beziehungen, wird aber auch sonst in Freundschaften oder im Arbeitsumfeld angewandt. Das Ghosting ist auch eine Strategie im öffentlichen Diskurs und Online. Eine missliebige oder unbequeme Person oder Personengruppe (und damit auch deren Argument) wird durch Kommunikationsabbruch oder ‑Verweigerung aus dem Diskurs ferngehalten. Ghosting geht oft Hand in Hand mit Gaslighting, und das Ergebnis, das “Ghostlighting”, gibt dem Opfer oft das Gefühl, selbst schuld zu sein.
Beispiel 30.1: Umgang von Progressiven mit konservativen Kritikern
Als Blogger von Daniel Option erleben wir manchmal, wie wir online ‘geghostet’ werden. Progressive Meinungsführer, wenn sie einmal merken, dass wir unsere Positionen verteidigen, verlegen sich darauf, uns ohne Vorwarnung in den sozialen Medien zu sperren oder sich jeglichem Diskurs mit uns und unseren Argumenten zu verweigern.
31_Der “Authentizitäts-Fehlschluss”
Beschreibung: Der “Authentizitäts-Fehlschluss” (eigene Wortschöpfung) geht davon aus, dass etwas, was sich authentisch und ehrlich anfühlt, auch wahr und gut ist.
Erläuterung: Authentizität ist in unserer Gesellschaft ein sehr hoher Wert. Wer sich authentisch mitteilt findet Zustimmung. Doch Authentizität und Ehrlichkeit sind keine Garanten für die Wahrheit. Man kann auch authentisch daneben liegen, ehrlich in die Irre gehen.
Beispiel 30.1: Die Suche nach dem wahren Selbst
Im Zusammenhang mit Trennungen und Scheidungen begegnet mit oft das Argument der Authentizität. Personen argumentieren, dass in einer von unerfüllten Wünschen oder einer gewissen Entfremdung geprägten Beziehung der ehrliche (und deshalb gar der christliche) Weg die Suche nach Verwirklichung der eigenen Sehnsüchte ausserhalb der Beziehung sein muss. Die Suche nach dem “authentisches Selbst” darf auf Kosten der verbindlichen Beziehungen gehen, in denen man lebt (Ehe, Familie, Freundeskreis).
32_DARVO (Opfer-Täter Umkehr)
Beschreibung: DARVO steht für „Deny, Attack, and Reverse the roles of Victim and Offender“: Leugnen, Angreifen und die Rollen von Opfer und Täter vertauschen.
Erläuterung: Ich kenne den Begriff DARVO von James Lindsay, welcher dem Phänomen auf seiner Plattform “New Discourses” eine Folge widmet. DARVO beschreibt grundsätzlich eine Form von Opfer Täter Umkehr. Es ist ein Trick, der insbesondere von spalterischen Elementen eingesetzt wird, um Gegner mundtot zu machen oder als das eigentliche Problem zu framen.
Beispiel 32.1: kirchliche Einheit
Christliche Einheit ist ein hohes Gut. Die vergangenen Jahre haben in unserem freikirchlich/evangelikalen Milieu durch den Einzug postevangelikaler und progressiver Theologie Spannungen hervorgebracht. Mit Daniel Option haben wir die Entwicklung immer wieder kommentiert und auf die potenziell spaltende Wirkung hingewiesen, welche diese neuen Theologien in Kirchen und Verbänden haben können. Mit unserem offenen Benennen solcher Entwicklungen mussten wir uns aber selbst mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, spalterisch zu sein. Wer in guter Absicht auf Probleme im Leib Christi hinweist, steht bald selbst als Buhmann da, der den Hausfrieden gefährdet.
33_Die Pathologisierung
Beschreibung: Anstatt dass man sich mit den Argumenten des Gegenübers befasst, wird diesem eine medizinische Diagnose verpasst, um ihn in ein schlechtes Licht zu rücken.
Erläuterung: Bei der Pathologisierung werden Verhaltensweisen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, soziale Verhältnisse oder zwischenmenschlichen Beziehungen als krankhaft taxiert. Ob etwas im Bereich des Verhaltens als krankhaft eingestuft wird, hat eine subjektive Komponente. Damit eröffnet sich ein Spielraum, wo Diagnosen auch als ‘Waffe’ gegenüber missliebigen Personen oder Personengruppen eingesetzt werden können.
Beispiel 33.1: Elon Musk
In Bezug auf Elon Musk zitiert jemand in den sozialen Medien einen bekannten Psychiater: “Frank Urbaniok über Elon Musk: Er hat wohl ein Asperger-Syndrom …” Es folgt eine längere Diagnose, bei denen persönliche Defizite, pubertär unreifes Verhalten und dergleichen festgestellt und dies alles in den Zusammenhang eines diagnostizierten Asperger-Syndrom gestellt wird. Zu guter Letzt wird Musk als “nicht ungefährlich” bezeichnet. Diese Pathologisierung ist problematisch: Sie verbindet Asperger-Syndrom klischeehaft mit gefährlichen Wesenszügen und nimmt Personen mit einer gleichen Diagnose damit in Geiselhaft. Sie verbirgt vor allem das eigentliche Anliegen, nähmlich Elon Musk zu diskreditieren, weil man mit seinen politischen und wirtschaftlichen Positionen nicht einig ist. Die Pathologisierung macht diese Diskreditierung möglich, ohne dass man auf Argumente eingehen oder seine wahren Motive offenlegen muss.
Beispiel 33.2: Homophobie
Die 1970er Jahre waren gekennzeichnet von grossen Umbrüchen in der klinischen Diagnose von Homosexualität. Bis dahin war Homosexualität als Persönlichkeitsstörung im diagnostischen und statistischen Handbuch psychischer Störungen der amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung erfasst. Vor allem auf Druck einer sehr aktivistischen homosexuellen Bewegung (Konferenzen wurden gestürmt…), wurde diese Diagnose 1973 aus dem Handbuch gestrichen. Argument: Die Gesellschaft habe Homosexuelle nur aufgrund ihrer eigenen Ängste pathologisiert. In diesem Zusammenhang wurde dann ein neuer Begriff geprägt: Homophobie. “Krank” waren im Denken vieler nun nicht mehr die Homosexuellen, sondern die Menschen, welche in Bezug auf diese Form der Sexualität Vorbehalte haben. Hier wird sichtbar, wie Pathologisierung auch eine Waffe sein kann in einer ideologischen Auseinandersetzung.
34_“Guilty by Association” (Assoziationsschuld)
Beschreibung: Bei einer „Assoziationsschuld“ wird jemand oder eine Organisation nicht aufgrund von Beweisen, sondern aufgrund einer reellen oder konstruierten Assoziation mit einem ‘Täter’ in ein schlechtes Licht gerückt.
Erläuterung: Inhaltlich sehr ähnlich ist auch der Begriff der “Kontaktschuld”. Dies ist vor allem bekannt aus der Politik. Eine Organisation A gilt auf Grund von Kontakten zur Organisation B oder zu bestimmten Personen als radikal. Es reicht aber nicht zu wissen, dass es Kontakte gibt. Es müsste geklärt werden, inwiefern Positionen und Ideologien übereinstimmen. Die Assoziationsschuld ist eine der beliebtesten Kampfstrategien unserer Tage. Man diskreditiert bestimmte Personen, Gruppen oder Organisationen durch Assoziation mit anderen unbeliebten Bevölkerungskreisen, unter Vermeidung der eigentlichen Sachfragen.
Beispiel 34.1: Pro Life Bewegung
Die Pro-Life Bewegung wird oft in eine ganze Reihe von negativ behafteten gesellschaftlichen Milieus hineingeschoben. Während der Covid Pandemie wurde sie z.B. in einem Spiegel Artikel in Verbindung mit rechtsgerichteten Kreisen, Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern gebracht. Durch solche Assoziationen wird die Lebensrechtsbewegung ‘toxisch’ gemacht, ohne dass die eigentliche Sachdiskussion geführt wird. Die Interessengruppe wird dann aufgrund der negativen Assoziationen gemieden.
35_Das falsche Gerücht
Beschreibung: Gerüchte sind nicht belegte Nachrichten oder Informationen, die sich diffus verbreiten, und im Laufe ihrer Verbreitung oft auch verändert, verfremdet oder verstärkt werden. Gerade soziale Netzwerke sind aktuell ein Nährboden für Gerüchte.
Erläuterung: «Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten» sagt die Bibel in 2 Mose 23,1. Die Anweisung kommt nicht von ungefähr. Falsche Gerüchte können Personen und Organisationen grossen Schaden zufügen und werden deswegen leider auch immer wieder gezielt in die Welt gesetzt. Die Bekämpfung ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Zum einen lässt sich der Ursprung eines Gerüchts oft nicht feststellen. Zum anderen kann das Entlarven oder Ansprechen von Gerüchten als negativen Nebeneffekt auch deren weitere Verbreitung befeuern. Es gilt situativ abzuwägen, ob Schweigen oder Reden besser ist wenn es darum geht, einem Gerücht die Wirkung zu entziehen.
Beispiel 35.1: Suggestivfrage
«Aber — wieviel Geld erhaltet Ihr eigentlich aus den USA und von Trumpisten?» Der kirchliche Funktionär, welcher online beim Schulleiter einer ihm wohl missliebigen Ausbildungsstädte kommentiert, wollte natürlich die in der Frage implizierte Antwort platzieren: Bestimmt bekommt ihr ganz viel Geld aus den USA und seid deshalb moralisch verwerflich! Suggestivfragen sind ein schlauer Weg, negative Gerüchte in die Welt zu setzen, ohne dass man dafür belangt werden könnte oder Nachweise erbringen müsste. Auch hier gilt: «Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten»!
Beispiel 35.2: Falsche Identität
Ein kirchlicher Funktionär benutze diverse falsche Online-Identitäten, um einen Verdacht der Zweckentfremdung von Spenden gegen eine ihm missliebige Person zu streuen. Unter anderem informierte der Funktionär eine auf investigative Recherchen spezialisierte christliche Nachrichtenagentur. Die Nachrichtenagentur entlarvte zwar korrekterweise die falsche Identität des Funktionärs, der dann auch entlassen wurde. Durch die breite Publikation des Vorfalls half die Agentur aber wohl auch, den gezielt platzierten Verdacht weiter zu verbreiten.
Die Beschreibungen bei den obigen Stichworten sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss, ich hoffe aber, dass sie die persönliche Reflektion anregen können. Die meisten Begrifflichkeiten findet man auch bereits irgendwo in der Literatur, während die eine oder andere Wortschöpfung von mir persönlich stammt. Gerne nehme ich Anregungen und Ergänzungen entgegen oder erweitere die Liste um weitere potenziell fehlerhaften Argumentationswege.

Persönliche Empfehlungen für Online-Streitgespräche
Zum Schluss noch einige persönliche Empfehlungen für Online-Streitgespräche.
Ich selbst unterscheide zwischen mindestens drei Grundsettings bei fehlerhaften oder unlauteren Diskurs-Strategien. Man kann ihnen unterschiedlich Begegnen:
- Wenn unsachgemäss argumentiert wird kann es helfen, dies sichtbar zu machen. Ob es nun eine “anekdotische Beweisführung” ist, ein “falsches Dilemma” oder ein “Strohmann”: Es hilft, unsaubere Argumentationen sichtbar zu machen. Das verändert die Grunddynamik des Diskurses.
- Hinter fehlerhaften Argumentationen verbirgt sich manchmal auch mangelnde Kompetenz. Wer selbst nicht sattelfest ist, greift gerne zum “Ad Hominem”, um den Kontrahenten in die Pfanne zu hauen. Wenn du dich selbst in der Thematik sicher fühlst, kann du dein Gegenüber bitten, seine Position ausführlich zu begründen. Oft zeigt sich, dass nicht viel hinter dem steckt, was dieser behauptet hat.
- Ebenfalls häufig sind Ablenkungsstrategien. Sie können z.B. in Form von persönlichen Angriffen kommen (“Ad-hominem”) oder indem auf ein anderes Thema oder ein Nebenthema umgelenkt wird (“Whataboutism”, “roter Hering”). Hier ist es wichtig, die angebotenen Köder nicht anzunehmen – also beim Thema zu bleiben.
Ich habe für mich persönlich zudem einige Dinge festgehalten, welche vielleicht auch für deine Online-Diskussionen hilfreich sein können:
- Du schreibst nie nur für den ‘Gegenspieler’, sondern immer auch für die stillen Mitleser.
- Prüfe dich selbst und sei auch bereit, Fehler einzugestehen.
- Versuche sachlich und freundlich zu bleiben, auch wenn dies schwerfällt.
- Gib den Leuten eine Chance.
- Öffentlich gesagtes darf grundsätzlich öffentlich diskutiert werden. Wähle trotzdem ein angemessenes Mittel der Kommunikation.
- Wäge ab, ob du wirklich Zeit und Energie hast.
- Höre auf Gott, denn alles hat seine Zeit.
- Hole allenfalls Feedback ein bei einer Person deines Vertrauens, bevor du kommentierst.
- Sei dir bewusst, dass die Online-Welt kein rechtsfreier Raum ist.
- Lasse Dir Zeit bei Antworten. Schlafe darüber.
- Du muss nicht immer das letzte Wort haben.
Ich hoffe, dass dieser Artikel für viele eine kleine Hilfe sein kann, wenn sie sich in öffentlichen Diskursen bewegen.
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Quellenhinweis: Auf Quellenangaben zu den einzelnen Beispielen wurde bewusst verzichtet, sie liegen aber dem Autoren vor.
Sehr geehrter Herr Bruderer,
vielen Dank für Ihre Darstellung und die transparente Erläuterung der verschiedenen problematischen Argumentationsmuster.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Beispiel des „texanischen Scharfschützen“ eingehen. Gerade bei der Auswahl von Beispielen ist es wichtig, besonders sorgfältig vorzugehen, um nicht selbst unbewusst diesem Fehlschluss zu erliegen. Der texanische Scharfschütze zeichnet sich ja genau dadurch aus, dass nachträglich Muster oder Kausalitäten konstruiert werden, die möglicherweise zufällig sind oder zumindest nicht belastbar belegt.
Deshalb finde ich es problematisch, wenn in Ihrem Beispiel zu den Konversionstherapien eine umstrittene Studie als Entkräftung der vielfach belegten Risiken dieser Praxis herangezogen wird. Das kann den Eindruck erwecken, dass hier Daten selektiv interpretiert werden, um eine eigene Position zu stützen, also genau das Verhalten, das Sie selbst mit dem texanischen Scharfschützen kritisieren.
Wenn die LGBT-Lobby sich auf die überwältigende Mehrheit gut belegter Studien und belastbarer Daten stützt, warum sollte sie dann den texanischen Scharfschützen anwenden? Gerade die breite, konsistente Datenbasis macht ihre Argumentation belastbar und schwer angreifbar.
Grüezi Benjamin
Danke für den Kommentar. Ich persönlich würde die Aussage, dass sich die LGBT-Lobby sich auf “die überwältigende Mehrheit gut belegter Studien und belastbarer Daten stützt” in Frage stellen. Aber hier fehlt der Platz das vertieft zu diskutieren. Ich mache zudem keinen Hehl daraus, das die von mir gewählten Beispiel Beispiele von meiner persönlichen Weltsicht geprägt sind. Ich versuche sie jedoch so sachlich wie möglich darzulegen. Hast du ein eigenes gutes Beispiel für einen texanischen Schützen? Das würde mich natürlich interessieren.
Eine ausführliche Dokumentation des Hin und Hers in der SOCE-Frage findet sich z.B. hier: https://www.researchgate.net/publication/372478583_Do_Sexual_Orientation_Change_Efforts_SOCE_increase_suicidal_risk_for_sexual_minorities_An_exchange
Grüezi Herr Bruderer,
vielen Dank für Ihre Antwort und den Link zur Publikation.
Ich finde es ehrlich und hilfreich, dass Sie sagen, dass Ihre Meinung von Ihrer Weltanschauung geprägt ist…
Zur SOCE-Debatte: Der von Ihnen verlinkte Artikel von D. Paul Sullins wird – wie Sie sicher wissen – in der Fachwelt sehr kritisch bewertet. Seine Methodologie weist erhebliche Schwächen auf, insbesondere in Bezug auf Kausalitätsannahmen, Repräsentativität und die ethische Einbettung..
Die APA, die WHO sowie zahlreiche nationale Fachverbände betonen seit Jahren, dass es keine wissenschaftlich belastbaren Belege für die Wirksamkeit sogenannter „Konversionstherapien“ gibt – wohl aber umfangreiche Hinweise auf mögliche psychische Schäden, darunter Depression, Angststörungen und ein erhöhtes Suizidrisiko.
Systematische Reviews und Metaanalysen zeigen klar: SOCE sind nicht nur ineffektiv, sondern mit einer erhöhten Rate an Suizidalität, internalisierter Homophobie und sozialem Rückzug verbunden. Diese Datenbasis ist breit, methodisch robust und von Fachgesellschaften anerkannt.
Sie fragen nach einem Beispiel für einen „texanischen Schützen:
Oft wird behauptet, dass Kinder in der traditionellen Familie – also bei Vater und Mutter – grundsätzlich besser aufwachsen als in anderen Konstellationen. Um diese These zu stützen, werden dann gezielt Studien zitiert, die auf gewisse Defizite in anderen Familienformen hinweisen. Häufig berufen sich solche Argumentationen etwa auf die umstrittene Studie des Soziologen Mark Regnerus , die nahelegt, dass Kinder homosexueller Eltern schlechtere Entwicklungschancen hätten – obwohl diese Studie vielfach wegen methodischer Mängel kritisiert wurde, etwa weil stabile gleichgeschlechtliche Elternschaften nicht korrekt erfasst wurden. Gleichzeitig bleiben zahlreiche qualitativ hochwertige Studien, die zeigen, dass Kinder auch in anderen stabilen Beziehungsmodellen gut gedeihen, unberücksichtigt oder werden abgewertet. So entsteht ein verzerrtes Bild, das nicht den Gesamtstand der Forschung widerspiegelt.
Ein weiteres Beispiel zeigt sich in der Debtte über geschlechtliche Vielfalt und Aufklärung an Schulen.Hier wird behauptet, dass Kinder durch sogenannte „Gender-Ideologie“ verwirrt würden oder sogar dazu gebracht werden, selbst trans zu werden. Zur Untermauerung dieser These werden gezielt Einzelfälle von Jugendlichen angeführt, die sich mit ihrer Geschlechtsidentität schwertun oder eine Transition später bereuen. Diese individuell tragischen, aber seltenen Fälle werden medial stark hervorgehoben, um ein allgemeines Risiko zu suggerieren. Dabei wird ignoriert, dass die überwiegende Mehrheit der trans Personen ihre Transition nicht bereut, dass geschlechtersensible Aufklärung nachweislich zu mehr Akzeptanz, weniger Mobbing und besserem psychischem Wohlbefinden bei allen Kindern führt und dass Kinder durch Bildung nicht beeinflusst, sondern informiert werden. Auch hier entsteht ein verzerrtes Bild, das wissenschaftlich nicht haltbar ist, aber politisch und ideologisch instrumentalisiert wird.
Ich bin sehr dafür, dass unterschiedliche Perspektiven gehört und auch unbequeme Fragen gestellt werden – gerade bei sensiblen Themen wie sexueller Identität und psychischer Gesundheit. Aber umso wichtiger ist dann eine verantwortungsvolle Auswahl und Bewertung von Quellen, insbesondere im Blick auf ihre ethische Tragfähigkeit und wissenschaftliche Qualität.
Grüsse
Benjamin
Danke Benjamin für die Antwort.
Wir haben uns im Rahmen der Abstimmung zur Ehe für alle in der Schweiz mit den vor dir aufgebrachten Themen befasst, zum Beispiel der Frage des Kindeswohls. Unsere Auseinandersetzung ist sicher nicht abschliessend, aber doch einigermassen gründlich. Deshalb teile ich auch deine Sicht der Dinge nicht, sowohl im Ergebnis, als auch was deinen Anspruch eines breiten wissenschaftlichen Konsenses im Sinne der LGBT+ Lobby betrifft. Kinder gedeihen am besten, wenn sie bei ihren beiden leiblichen Eltern geboren werden und von ihnen aufgezogen werden. Weil ich hier aber nicht einen langen Aufsatz verfassen will verweise ich einfach auf unsere Artikel, wo wir uns zu diesen Themen äussern. Sinnvollerweise würdest du direkt bei diesen kommentieren. LGBT+ ist nicht das eigentliche Thema dieses Artikels.
Hier drei relevante Artikel Zum Thema Kindeswohl (Wenn du Reaktionen dazu hast, kommentiere beim jeweiligen Artikel):
https://danieloption.ch/ethik/kindeswohl-ein-ueberwaeltigender-konsens/
https://danieloption.ch/ethik/kinder-fuer-alle/
https://danieloption.ch/gesellschaft/ehe-fuer-alle/
Hier mein Playdoyer für die natürliche Familie (Wenn du Reaktionen dazu hast, kommentiere beim jeweiligen Artikel):
https://danieloption.ch/gesellschaft/familie/die-natuerliche-familie‑1–2‑turm-alter-zeiten/
https://danieloption.ch/gesellschaft/familie/die-natuerliche-familie‑2–2‑turm-fuer-unsere-zeit/
Vielen Dank für deine Nachricht.
Ich möchte mich in meiner Antwort zunächst auf den ersten Artikel „Kindeswohl: ein überwältigender Konsens?“ beziehen.
Ich finde die Bewertung von Paul Sullins zu den 79 Studien problematisch und wenig überzeugend. Seine zentrale Kritik, dass viele der positiven Studien mit gezielt rekrutierten Teilnehmer:innen aus dem homosexuellen Milieu arbeiten und daher nicht repräsentativ seien, greift mir zu kurz. Zwar ist richtig, dass Rekrutierungsmethoden die Aussagekraft von Studien beeinflussen können, doch daraus pauschal zu schliessen, dass die Ergebnisse „nicht repräsentativ“ seien, ist eine unzulässige Vereinfachung…
In der Sozialforschung ist es allgemein üblich, gerade bei schwer erreichbaren oder spezifischen Gruppen gezielte Stichproben zu verwenden. Vollständig zufällige, repräsentative Stichproben sind selten realisierbar – das gilt für heterosexuelle wie homosexuelle Populationen gleichermassen. Statt Studien pauschal als „nicht repräsentativ“ abzutun, nutzen Forschende statistische Verfahren wie Gewichtung und Kontrollvariablen, um Verzerrungen zu minimieren oder zu kontrollieren. Diese Methoden sind in der Fachliteratur anerkannt und steigern die Validität der Ergebnisse.
Zudem unterstellt Sullins mit seiner Kritik, dass Menschen aus dem homosexuellen Milieu ihre Antworten systematisch verzerren, um ein positiveres Bild zu vermitteln. Diese Annahme ist unbelegt und kann als voreingenommen gelten. Studien zeigen, dass Teilnehmende grundsätzlich ein Interesse daran haben, ihre Erfahrungen ehrlich darzustellen, insbesondere wenn es um Familie und Kindeswohl geht. Eine pauschale Verzerrungsannahme schwächt die Vertrauenswürdigkeit der Sozialforschung insgesamt und läuft Gefahr, Vorurteile zu bestätigen.
Viele der 79 Studien kombinieren quantitative und qualitative Methoden – beispielsweise durch die Auswertung von Statistiken ergänzt um persönliche Interviews – und nutzen verschiedene Datenquellen.
Sullins’ Kritik an der durchschnittlichen Teilnehmerzahl von 39 Personen in den 70 positiven Studien ist ebenfalls zu einseitig. Er bewertet die Stichprobengrösse isoliert als alleiniges Kriterium für Repräsentativität, ohne die Komplexität sozialwissenschaftlicher Forschung zu berücksichtigen. Gerade bei schwer erreichbaren Gruppen wie gleichgeschlechtlichen Eltern sind kleinere Stichproben üblich und können valide Erkenntnisse liefern, wenn die Studien methodisch sorgfältig durchgeführt werden . Zudem übersieht Sullins, dass viele dieser kleinen Studien in Metaanalysen zusammengeführt werden, wodurch die Stichprobengrösse deutlich steigt und belastbare, verallgemeinerbare Aussagen möglich werden. Metaanalysen wie die von Fedewa, Black und Ahn (zeigen, dass das Kindeswohl bei gleichgeschlechtlichen Eltern überwiegend mit dem von Kindern heterosexueller Eltern vergleichbar ist.
Indem Sullins nur neun Studien als „repräsentativ“ einstuft und die übrigen ignoriert, trifft er eine selektive Entscheidung, die wesentliche Erkenntnisse und die methodische Vielfalt der Forschung ausser Acht lässt. Seine Fixxierung auf die Quantität der Teilnehmerzahlen vernachlässigt auch die Bedeutung qualitativer Ansätze und den Wert kleinerer Studien für ein umfassendes Verständnis.
Qualitative Studien bieten tiefere Einblicke in komplexe soziale Zusammenhänge, Erfahrungen und Bedeutungen, die mit reinen Zahlen nicht erfassbar sind. Sie ermöglichen das Verstehen von Nuancen, Kontext und individuellen Perspektiven, gerade bei Themen wie Familie, Identität oder psychischer Gesundheit besonders wichtig.
Indem Sullins sich hauptsächlich auf die Stichprobengrösse konzentriert, übersieht er, dass wissenschaftliche Erkenntnis häufig aus der Kombination verschiedener Methoden entsteht: Quantitative Studien liefern breite Daten, qualitative Studien Tiefe und Kontext. Diese methodische Vielfalt trägt zu einem umfassenderen und differenzierteren Bild bei und hilft, Verzerrungen besser zu erkennen und auszugleichen.
Würde in den Studien systematisch ein zu positives Bild gezeichnet, wären negative Aspekte kaum Thema. Tatsächlich berichten viele Untersuchungen offen über Herausforderungen, denen gleichgeschlechtliche Eltern und ihre Kinder begegnen. Das zeigt, dass die Forschung ein realistisches und ausgewogenes Bild anstrebt – und nicht nur positive Aspekte beton.
Interessanterweise zeigt sich bei Sullins selbst eine Tendenz: Während er anderen Studien vorwirft, ein verzerrt positives Bild zu zeichnen, wählt er in seiner eigenen Analyse häufig selektiv Daten aus, die seine vorgefasste negative Sichtweise bestätigen. Damit reproduziert er genau das Muster, das er kritisiert – nämlich eine einseitige Informationsauswahl zur Unterstützung einer bestimmten Ideologie statt einer ausgewogenen, methodisch transparenten Betrachtung.
Sullins’ Argumentation wirkt für mich teilweise wie ein Versuch, den wissenschaftlichen Konsens durch selektive Methodenkritik zu untergraben, anstatt sich differenziert mit den Ergebnissen auseinanderzusetzen. Seine Konzentration auf Werbinserate und Rekrutierungsmethoden ähnelt einem Umkehrschluss, der andere methodische Schwächen, etwa in heteronormativen Studien ausblendet. Diese Einseitigkeit stellt seine eigene Objektivität infrage…
Kurz gesagt: Indem Sullins Methoden kritisch bewertet, aber seine eigene Auswahl und Interpretation kaum hinterfragt, reproduziert er genau jene Verzerrung, die er anderen vorwirft. Seine Argumentation ist daher weniger wissenschaftlich neutral, sondern eher ideologisch gefärbt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst methodische Fehler begeht oder Daten selektiv interpretiert.
Auch das Beispiel der ACHESS-Studie von Simon Crouch, die mit gezielten Aufrufen zur Teilnahme arbeitet, ist kein Beweis für wissenschaftliche Unzuverlässigkeit. Solche Aufrufe über Multiplikatoren oder themenbezogene Medien sind in sozialwissenschaftlichen Studien üblich, um ausreichend Teilnehmer zu gewinnen. Entscheidend ist, dass die Datenauswertung transparent erfolgt und mögliche Verzerrungen methodisch berücksichtigt werden.
Ich möchte ausserdem auch noch auf den Artikel „Kinder für alle?“ eingehen, da ich dort einige wichtige Punkte sehe, die zur Debatte beitragen können…
Zur Darstellung der „Minderheiten-Stress“-Theorie finde ich, dass diese sehr einseitig bleibt. Zwar wird eine Studie zitiert, die zeigt, dass Suizidalität bei jungen LGBT-Personen trotz gesellschaftlicher Liberalisierung nicht zurückgeht. Dabei wird jedoch ausser Acht gelassen, dass Diskriminierung und Stigmatisierung weiterhin bestehen und sich oft nur subtil verändern. Psychische Gesundheit hängt von vielen Faktoren ab, und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe allein kann nicht alle Belastungen beseitigen…
Hinzu kommt, dass gesellschaftliche Akzeptanz zwar wächst, aber viele LGBT-Personen weiterhin mit internalisierten Vorurteilen, familiärer Ablehnung oder sozialer Isolation kämpfen, die sich nicht allein durch rechtliche Gleichstellung lösen lassen. Auch strukturelle Barrieren, wie Diskriminierung am Arbeitsplatz oder in Gesundheitssystemen, bleiben häufig bestehen. Zudem können Minderheitenstress-Faktoren je nach Region, Alter und sozialem Umfeld sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, was die Interpretation der Ergebnisse erschwert…
Es ist ausserdem wichtig zu betonen, dass psychische Probleme bei LGBT-Jugendlichen oft mit zusätzlichen Belastungen wie Mobbing in der Schule, Angst vor Coming-Out und mangelnder sozialer Unterstützung zusammenhängen. Die Verfügbarkeit von gleichgeschlechtlicher Ehe ist zwar ein wichtiger Schritt, doch ohne umfassende gesellschaftliche Veränderungen und gezielte psychosoziale Unterstützung bleiben viele dieser Probleme bestehen. Daher greift die Kritik an der Minderheiten-Stress-Theorie zu kurz, wenn sie sich allein auf den Effekt der Eheöffnung konzentriert und dabei die Komplexität der Lebensrealitäten von LGBT-Personen und deren psychischer Gesundheit nicht berücksichtigt.
Zum Thema Regnerus-Studien möchte ich ergänzen, dass die Diskussion um seine Ergebnisse sehr kontrovers ist und von vielen Expert:innen kritisch bewertet wird. Regnerus stellt zwar umfassende Daten von fast 3000 jungen Erwachsenen vor, allerdings wurden seine Studienmethoden vielfach wegen Stichprobenverzerrungen, problematischer Erhebungsdesigns und mangelnder Differenzierung kritisiert.
So liegt ein zentraler Kritikpunkt darin, dass viele seiner Daten nicht nur Kinder aus stabilen Regenbogenfamilien erfassen, sondern oft auch solche, die in instabilen oder belasteten Familienverhältnissen aufwuchsen. Dadurch werden Unterschiede zwischen Kindern gleichgeschlechtlicher Eltern und heterosexueller Ehepaare möglicherweise verzerrt und fälschlich als Ursache der Elternkonstellation interpretiert…
Wichtig ist auch, dass viele negative Ergebnisse, die Regnerus nennt — wie höhere Depressionsraten, grössere Anfälligkeit für Missbrauch oder schlechtere wirtschaftliche Lebenslagen, auch durch gesellschaftliche Diskriminierung, familiäre Instabilität oder sozioökonomische Faktoren erklärt werden können, nicht jedoch zwingend auf die sexuelle Orientierung der Eltern zurückzuführen sind.
In den Studien von Regnerus wird ausserdem nicht klar genug unterschieden, ob zwei Dinge wirklich zusammenhängen und ob das eine das andere verursacht. Er geht zu schnell davon aus, dass die Art der Eltern (also ob sie gleichgeschlechtlich oder heterosexuell sind) direkt der Grund für Probleme bei den Kindern ist. Dabei werden andere wichtige Faktoren, die ebenfalls eine Rolle spielen können, nicht genug beachtet oder ausgeschlossen…
Ich finde daher, dass Regnerus Ergebnisse zwar diskutiert werden sollten, jedoch keinesfalls als endgültiger Beleg für die Überlegenheit heterosexueller Elternschaft herhalten dürfen. Vielmehr zeigen sie, wie wichtig es ist, gesellschaftliche Diskriminierung abzubauen und Familien unabhängig von ihrer Form zu unterstützen, um das Wohl von Kindern bestmöglich zu fördern.
Sehr hilfreich!
Danke Udo!