Rules for Radicals

Lesezeit: 11 Minuten
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by Peter Bruderer | 08. Sep. 2023 | 1 comment

Heiligt der Zweck die Mit­tel? «Meis­tens», wäre die Antwort von Saul D. Alin­sky vor gut 50 Jahren gewe­sen. Mit seinem Buch «Rules for Rad­i­cals» hat er das strate­gis­che Hand­buch für die Aktivis­ten der 68er Gen­er­a­tion geschaf­fen. Heute greifen aber auch kon­ser­v­a­tive in seine Trick­kiste und feiern damit Erfolge. Ein Grund, diesen ins Alter gekomme­nen Klas­sik­er mal unter die Lupe zu nehmen.

Wer sich in ein­er Auseinan­der­set­zung befind­et, tut gut daran zu wis­sen, mit welchen Mit­teln sein Geg­n­er kämpft. Das gilt für Armeen, für poli­tis­che Parteien, für Fir­men und für die Kirche unter Druck seit­ens der Gesellschaft oder seit­ens ein­er lib­eralen The­olo­gie. Das Buch “Rules for Rad­i­cals” war für mich dies­bezüglich ein Augenöffn­er. Es ist ein aus der Prax­is abgeleit­etes Buch. Und Prax­is hat­te Saul D. Alin­sky (1909–1972) wahrlich genug, als er 1971 seine ‘prag­ma­tis­che Anleitung für real­is­tis­che Radikale’ veröf­fentlichte. Alin­sky hat­te sich über fast 40 Jahre hin­weg den Ruf des effek­tiv­en ‘Com­mu­ni­ty Orga­niz­ers’ erar­beit­et. Als Kämpfer für sozial­is­tis­che Ide­ale im kap­i­tal­is­tis­chen Ameri­ka war er für die einen eine Leg­ende, für die anderen das Feind­bild schlechthin.

Saul D. Alin­sky: Rules for Rad­i­cals, A Prag­mat­ic Primer for Real­is­tic Rad­i­cals, 1971

Die von Alin­sky aufge­baute Organ­i­sa­tion hat­te sich darauf spezial­isiert, mar­gin­al­isierten Gemein­schaften und aus­ge­beuteten Arbeit­er­schaften in den Chefe­ta­gen von Städten und Fir­men Gehör zu ver­schaf­fen. Dazu waren auch ziem­lich alle Mit­tel recht. Wenn Alin­sky mit seinem Team in eine Stadt ein­rollte, war eines sich­er: Es war vor­bei mit der Ruhe.

Doch der mit allen Wassern gewasch­ene Klassenkämpfer ärg­ert sich über eine neue Gen­er­a­tion von Aktivis­ten: die Rev­o­lu­tionäre der 68er. Diese neue Gen­er­a­tion meint, mit «lan­gen Haaren» und «Attack­en auf die amerikanis­che Flagge» in der Gesellschaft etwas bewe­gen zu kön­nen (xviii,xix). Ihnen gel­ten Alin­skys Ratschläge. Denn, wie er so schreibt: Es gibt gewisse zen­trale Konzepte des Aktivis­mus, welche unab­hängig der Umstände und Zeit greifen. Diese zu ken­nen sei die Grund­lage für einen «prag­ma­tis­chen Angriff auf das etablierte Sys­tem». (xvii). Ger­ade diese Über­trag­barkeit von Alin­skys Prinzip­i­en auf neue Umstände macht das Buch interessant. 

In den ver­gan­genen 50 Jahren waren die poli­tis­chen und kul­turellen Rev­o­lu­tionäre jen­er Tage so erfol­gre­ich, dass sie heute selb­st zum ‘etablierten Sys­tem’ gewor­den sind. Und so find­et sich das Buch des Linksak­tivis­ten Alin­sky in unseren Tagen auf ein­mal in den Hän­den von kon­ser­v­a­tiv­en ‘Strassenkämpfern’ wieder, welche seine tak­tis­chen Winkelzüge gegen die ‘woke’ Dom­i­nanz unser­er Tage einsetzen.

Zum Beispiel bezieht sich der kon­ser­v­a­tive Kom­men­ta­tor Matt Walsh, bekan­nt für seinen Film ‘What is a Woman’ expliz­it auf Alin­sky als Inspi­ra­tionsquelle für eine sein­er jüng­sten Kampagnen:

“Was wir mit Bud Light und jet­zt mit Tar­get gemacht haben, stammt direkt aus Saul Alin­skys “Rules for Rad­i­cals”: Wäh­le das Ziel, friere es ein, per­son­al­isiere es, polar­isiere es. Die Linke hat das schon immer so gemacht. Jet­zt kön­nen sie mal sehen, wie es sich am emp­fan­gen­den Ende anfühlt.” (meine Übersetzung)

Worauf bezieht sich Matt Walsh? Nach Wer­bekam­pag­nen mit LGBT+ The­men mussten die amerikanis­che Bier­marke Bud Light und die Super­mark­tkette Tar­get diesen Som­mer mas­sive Umsatzein­bussen auf­grund ein­er Boykot­tkam­pagne verze­ich­nen. Walsh gehört zu den Ini­tia­toren dieses Boykott’s.

Alinsky’s Regel­w­erk wird also Hüben und Drüben angewen­det. Was kennze­ich­net das ‘Sys­tem Alin­sky’? Wie ist dieses zu bew­erten? An zwei Kapiteln im Buch möchte ich das erläutern.

Eine Ethik des Zweckmässigen

Die Arbeitsweise Alinsky’s ist durch und durch von Prag­ma­tismus geprägt: Gut ist, was nützt. Wenn das, was nützt auch gut ist, ist es auch ok. Aber das Einzige, was let­z­tendlich zählt, ist das Erre­ichen des gesteck­ten Zieles. Ob die dabei einge­set­zten Mit­tel ethisch lauter sind oder nicht, ist abhängig von der eige­nen Befind­lichkeit, von der Bedeut­samkeit des Zieles und natür­lich davon, ob man selb­st ein Mit­tel ein­set­zt oder der Geg­n­er. Alin­sky fasst fol­gen­der­massen zusammen:

«Mit­tel und Zweck ste­hen in ein­er so engen Beziehung zueinan­der, dass die wahre Frage nie die sprich­wörtliche war: “Recht­fer­tigt der Zweck die Mit­tel?”, son­dern immer lautete: “Recht­fer­tigt dieser bes­timmte Zweck diese bes­timmten Mit­tel”?» (S47, meine Übersetzung)

Anhand ver­schieden­er Beispiele und 11 Prinzip­i­en erläutert er seine Ethik des ‘Zweck­mäs­si­gen’ (S26-47). Für Inter­essierte habe ich diese im Anhang aufge­führt)[1]. Wer sich diese 11 Prinzip­i­en zu Gemüte führt, wird hof­fentlich gle­ichzeit­ig den Kopf schüt­teln und inner­lich nick­en.

Der Leser wird hof­fentlich den Kopf schüt­teln in Anbe­tra­cht dessen, wie durch und durch oppor­tunis­tisch die Ethik von Alin­sky ist. Für Alin­sky sind ethis­che Leit­sätze keine Prinzip­i­en, welche uns in unserem Han­deln leit­en sollen. Sie sind vielmehr ein­fach Instru­mente oder gar Waf­fen, welche im Kampf gezielt einge­set­zt wer­den kön­nen, um ein Ziel zu erre­ichen. Ethis­ches Ver­hal­ten ist für ihn etwas, was man immer vom Geg­n­er ein­fordern soll, auch wenn man sich selb­st nicht daran hält. Je nach Nüt­zlichkeit ist die Ethik mal wichtig oder eben nicht. Und sowieso: Der Sieger wird let­z­tendlich die Geschichts­büch­er schreiben. Folge dessen ist der der Sieger immer automa­tisch auch auf der ethisch kor­rek­ten Seite. Was ist deshalb das Wichtig­ste? Das Siegen!

Wichtig ist zu ver­ste­hen, dass moralisch vor­bildlich­es Ver­hal­ten für Alin­sky etwas dur­chaus Wertvolles ist. Es ist ihm aber nicht auf­grund sein­er Vor­bildlichkeit wertvoll, son­dern weil auch moralisch gutes Ver­hal­ten ein effek­tives Mit­tel zur Ziel­er­re­ichung sein kann. Alinsky’s Kro­nzeuge ist dabei der bekan­nte Frieden­sak­tivist Mahat­ma Ghan­di (S37-45) Dieser habe das Opti­mum aus seinen spär­lichen Möglichkeit­en her­aus­ge­holt. Seine Strate­gie des gewalt­freien Wider­standes sei nur ent­standen, weil er keine Waf­fen zur Ver­fü­gung hat­te und die Men­schen in seinem Ein­flussfeld grund­sät­zlich wenig motiviert waren. Mit anderen Worten: Wenn Ghan­di Waf­fen gehabt hätte, hätte er diese wohl einge­set­zt. Doch er hat­te sie nicht. Daher sei gemäss Alin­sky das ‘am Boden Sitzen und Nichts tun’ ein­fach der opti­male Ein­satz der vorhan­de­nen Mit­tel gewe­sen. Das ‘am Boden sitzen und nichts tun’ kam zudem moralisch erhaben daher. Alin­sky doku­men­tiert seine These mit glaub­haft klin­gen­den Quellen. Lakonisch merkt er an, dass zu den ersten Aktiv­itäten des endlich unab­hängi­gen Indi­en das Ein­schränken von Demon­stra­tionsrecht­en und der Ein­satz von Waf­fen im Kash­mir-Kon­flikt gewe­sen sei. Neue Mit­tel waren zur Hand, und damit auch neue ethis­che Regeln.

Der Leser wird deshalb ver­mut­lich auch inner­lich nick­en, weil die von Alin­sky for­mulierten Leit­sätze doch so präzise das wiedergeben, was in Real­ität in unser­er Welt vor sich geht. Wie schnell wer­den heute Anliegen und Prinzipen über Bord gewor­fen, nur weil sich eine Lage neu präsen­tiert! Wie oft wird moralis­ches Ver­hal­ten einge­fordert, welch­es man selb­st in kein­er Weise ein­hält! Wie schnell wer­den aus Frieden­sak­tivis­ten Kriegstreiber! Wie ein­fach mutieren Unter­drück­te zu Unterdrückern!

Wie sollen wir über diesen ethis­chen Prag­ma­tismus denken? Zumin­d­est zeigen uns die von Alin­sky aufgestell­ten Prinzip­i­en ein­drück­lich, nach welchen Regeln die kleinen und grossen Macht­spiele in unser­er Welt aus­ge­spielt wer­den. Diese zu ken­nen kann uns helfen, die Welt um uns etwas bess­er zu ver­ste­hen, Dinge einzuord­nen oder sich selb­st und anderen ein­mal den Spiegel vorzuhalten.

Das Tragis­che ist: Alin­sky find­et diesen ethis­chen Prag­ma­tismus tat­säch­lich super. Seine Botschaft: So funk­tion­iert die Welt und nach diesen Regeln musst du spie­len, wenn du deine Feinde besiegen willst.

Taktische Prinzipien

In den tak­tis­chen Prinzip­i­en Alin­skys tritt seine Jahre­lange Erfahrung deut­lich zutage. Hier sind seine 13 tak­tis­chen Prinzip­i­en, jew­eils mit kurz­er Erläuterung:

  1. «Macht ist nicht nur das, was man hat, son­dern auch, das der Feind glaubt, dass man sie hat.»
    Will heis­sen: Gib vor Mit­tel zu haben, auch wenn du sie nicht hast. Wenn du lügen musst, dann lüge.
  2. «Gehe nie über die Erfahrung dein­er Leute hinaus.»
    Will heis­sen: Men­schen mei­den das, was ihnen nicht famil­iär ist. Sie wollen sich mit ihren eige­nen Waf­fen schlagen.
  3. «Wann immer es möglich ist, gehe über die Erfahrung deines Fein­des hinaus.»
    Will heis­sen: Erhöhe bei deinem Geg­n­er die Unsicher­heit, indem du ihm unge­wohnte Erfahrungs­felder aufzwingst.
  4. «Bring den Feind dazu, seine eige­nen Regeln zu befolgen.»
    Will heis­sen: Bring die Inkon­sis­ten­zen oder Übertrei­bun­gen des Geg­n­ers zum Leucht­en. Zwinge ihn dazu, sich kor­rigieren zu müssen.
  5. «Spott ist die stärk­ste Waffe des Menschen.»
    Will heis­sen: Gegen Spott kann man sich nicht vertei­di­gen. Spott erzeugt im Geg­n­er zudem Wut. Wut führt zu Reak­tio­nen, die wiederum aus­genutzt wer­den können.
  6. «Eine gute Tak­tik ist eine, die deinen Leuten Spass macht.»
    Das erk­lärt sich von selbst…
  7. «Eine Tak­tik, die sich zu lange hinzieht, wird zur Belastung.»
    Will heis­sen: Irgend­wann geht den Leuten die Luft aus und sie gehen nach Hause. Das muss einge­plant werden.
  8. «Halte den Druck aufrecht.»
    Will heis­sen: Gib deinem Geg­n­er keine Chance, sich neu zu formieren und Atem zu holen.
  9. «Eine Bedro­hung ist meist schreck­lich­er als die Sache selbst.»
    Will heis­sen: Emp­fun­dene Bedro­hun­gen binden Kräfte, die dann ander­norts nicht zur Ver­fü­gung stehen.
  10. «Die wichtig­ste tak­tis­che Prämisse ist die Entwick­lung von Oper­a­tio­nen, die einen kon­stan­ten Druck auf den Geg­n­er aufrechterhalten.»
    Will heis­sen: Du befind­est dich in einem Krieg, nicht in einem Einzel­ge­fecht. Auf eine Oper­a­tion muss die näch­ste fol­gen. Ein erziel­ter Kom­pro­miss ist ein­fach der Aus­gangspunkt für den näch­sten Kon­flikt, den es anzuzetteln gilt. Das Ziel ist immer der ganze ‘Sala­mi’ — eine Scheibe nach der anderen.
  11. «Wenn man mit einem Neg­a­tiv hart und tief genug Druck macht, wird es in die Gegen­seite einbrechen.»
    Will heis­sen: Wenn du dein Anliegen lange und ein­dringlich genug vor­bringst, wer­den sich auf ein­mal Leute auf deine Seite schla­gen, oder dein Geg­n­er lässt sich zu einem Fehler verleiten.
  12. «Der Lohn für einen erfol­gre­ichen Angriff ist eine kon­struk­tive Alternative.»
    Will heis­sen: Wer Krieg führt, sollte auch eine ‘Lösung’ respek­tive einen konkreten Endzu­s­tand vor Augen haben. Son­st wird der Geg­n­er die Lösung liefern.
  13. «Wäh­le das Ziel, friere es ein, per­son­al­isiere es und polar­isiere es.»
    Will heis­sen: Fokussiere auf eine Per­son oder Organ­i­sa­tion und mache diese toxisch.

Auch in dieser Liste drückt der fehlende innere Kom­pass von Alin­sky immer wieder durch. Den­noch empfinde ich, dass hier auch einzelne wertvolle Erken­nt­nisse sind, welche kon­struk­tiv einge­set­zt wer­den kön­nen. Grup­pen funk­tion­ieren nun mal nach gewis­sen Prinzip­i­en der Psy­cholo­gie und Grup­pen­dy­namik. Das kann auch kon­struk­tiv einge­set­zt werden.

Wichtig in der Anwen­dung ist aus Sicht von Alin­sky, dass diese Prinzip­i­en mit viel Fan­tasie und tak­tisch auf spez­i­fis­che Sit­u­a­tio­nen zugeschnit­ten angewen­det wer­den. Es braucht immer noch den Leit­er mit den richti­gen Instink­ten und Siegeswillen, um erfol­gre­ich zu sein.

Dur­chaus unter­halt­sam sind die vie­len Beispiele, die Alin­sky in seine Erzäh­lung ein­flechtet und die seinen Willen doku­men­tieren: Wirke wenn möglich inner­halb von Gesetz und Vorschriften, lote die Gren­zen aber bis aufs äusser­ste aus. Ein Beispiel dazu: Alin­sky wurde von ein­er Stu­den­ten­gruppe an ein­er kon­ser­v­a­tiv­en protes­tantis­chen Schule ange­heuert. Die Stu­den­ten störten sich daran, dass sie in der Schule nicht rauchen, tanzen oder ein Bier trinken durften. Doch Kau­gum­mi kauen war erlaubt. So sorgten sie dafür, dass einige hun­dert Stu­den­ten an der Schule für eine regel­rechte Kau­gum­mi­plage sorgten. Es sei nicht lange gegan­gen, bis fast alles auss­er Kau­gum­mikauen erlaubt gewe­sen sei. (S145/146).

Polar­i­sa­tion ist für Alin­sky etwas, was er sehr bewusst anstrebt. Polar­i­sa­tion hil­ft, einen Kon­flikt erst mal zu schaf­fen, aus welchem dann Prof­it geschla­gen wer­den kann (S134). Polar­i­sa­tion bewirkt man unter anderem mit Dis­rup­tion oder gar Trans­gres­sion – dem bewussten Übertreten von einge­spiel­ten Selb­stver­ständlichkeit­en, von gesellschaftlichen Codes oder moralis­chen Vorstel­lun­gen. Im Fall der kau­gum­mikauen­den Schüler war die Dis­rup­tion eine ganz kleine. Sie haben die Gehsteige ihrer Schule mit Kau­gum­mi verseucht – nicht ille­gal, aber ent­ge­gen der guten Sitte. Die Empörung darüber war dann der Aus­gangspunkt dafür, dass sie ihre tat­säch­lichen Forderun­gen (Rauchen, Tanzen und Bier trinken) durch­set­zen konnten.

Wer die Mech­a­nis­men der moralis­chen Rev­o­lu­tion unser­er Tage aktiv beobachtet, der wird bemerken, wie die Tak­tiken von Alin­sky auch heute Anwen­dung find­en. Die ‘Sala­mi-Tak­tik’ ken­nen ich nur zu gut aus den ganzen Entwick­lun­gen rund um die Ehe für alle. Der Prinzip der Trans­gres­sion führt uns Rosa von Praun­heim aktuell vor, wenn er seine per­versen Bilder in ein­er Kirche ausstellt und damit logis­cher­weise einen Sturm der Entrüs­tung ent­facht. Auch Derek Webb, vor Jahren noch Mit­glied der pop­ulären christlichen Pop-Band Caedmon’s Call, kann als Beispiel genan­nt wer­den. Nach sein­er Dekon­ver­sion, set­zt er die tak­tis­chen Prinzip­i­en Alinsky’s gegen sein früheres Milieu ein. Sein jüng­ster Coup: eine Drag Queen an die Spitze der christlichen Apple-Charts in den USA zu kat­a­pul­tieren. Dabei kamen min­destens 5 der tak­tis­chen Prinzip­i­en zur Anwen­dung (Nr 3, 5, 6, 11, 13). Wir dür­fen uns auf weit­ere Episo­den freuen oder gefasst machen.

Abschliessende Gedanken

Was halte ich von diesem Alin­sky und sein­er Dien­stan­weisung für Revolutionäre?

Zum ersten: Die Lek­türe hat mir tat­säch­lich Spass gemacht! Auch wenn die vie­len Beispiele im Buch aus ein­er völ­lig anderen Zeit kom­men, so merkt man doch wie Ähn­lich­es heute immer noch abläuft, wenn auch an anderen Schau­plätzen. Die Büh­nen sind heute eher die sozialen Medi­en mit ihren «Shit­storms» und virtuellen ‘Schlacht­en’. Manch­mal sieht man, wie sich solche Schlacht­en bilder­buch­mäs­sig nach Alin­sky-Mustern ent­fal­ten, wie Men­schen regel­recht in die Fall­en hinein­ren­nen, welche ihnen gestellt wer­den. Wer Alin­sky ken­nt, wird sich let­z­tendlich sicher­er auch in Onlinediskus­sio­nen engagieren können.

Ein span­nen­der Aspekt 50 Jahre nach Erscheinen des Buch­es ist natür­lich, dass heute Hüben und Drüben nach dem gle­ichen tak­tis­chen Regel­w­erk ‘gespielt’ wird. Das ist ehrlich gesagt kein guter Garant für kon­struk­tive Prozesse, son­dern befeuert eher die zunehmende Polarisierung.

Trotz­dem kann es mal dran sein, einen ‘auf Alin­sky’ zu machen. Ich per­sön­lich kann zum Beispiel den Aktio­nen gegen Tar­get und Bud-Light in den USA einiges abgewin­nen. Es gibt Momente, wo es gerecht­fer­tigt sein kann, Dinge auch öffentlich anzuprangern oder zu boykot­tieren. Wenn Grosskonz­erne ziel­gerichtet unter Kindern den Trans-Lebensstils mit all seinen ver­heeren­den Kon­se­quen­zen bewer­ben, darf das kreativ bekämpft wer­den. Das ist meine per­sön­liche Mei­n­ung. Nur sollte das Ganze dann ohne das Lügen, Lästern, Erpressen und Schikanieren auskom­men, was bei Alin­sky mit zum Pro­gramm gehörte.

Auch die Propheten in der Bibel haben nicht immer zim­per­lich zum Volk gesprochen. Jesus hat da und dort auf ‘den Putz’ gehauen – man denke zum Beispiel an die Tem­pel­reini­gung (Joh 2:13–25). Der Glaube ken­nt also so etwas wie eine ‘heilige Empörung’, welche auch mal Laut wird, welche ziel­gerichtet und mit ein­er gewis­sen Radikalität Verän­derung ein­fordert. Dem Unrecht, der Ver­führung oder der Bosheit, muss man sich auch mal entschlossen entgegenstemmen.

Aus mein­er Sicht völ­lig untrag­bar ist aber die ethis­che Beliebigkeit Alin­skys. Seine Zeitzeu­gen bericht­en, dass diese teil­weise ver­heerende Neben­wirkun­gen mit sich brachte. Am Anfang des Buch­es macht Alin­sky deut­lich, dass er selb­st mit dem Teufel einen Pakt schliessen würde. Er wid­met sein Buch auf der ersten Seite dem Wider­sach­er Gottes:

«Wir soll­ten… den ersten den Men­schen bekan­nten Radikalen nicht vergessen, der gegen das ‘Estab­lish­ment’ auf­begehrte und dies so erfol­gre­ich tat, dass er wenig­sten sein eigenes Reich gewann – Lucifer»

Alin­sky hat­te nicht viel für Glaube und Reli­gion übrig. Er stellt in seinem Buch auch klar, dass ehe­liche Treue nicht ins Reper­toire eines ‘Com­mu­ni­ty Orga­niz­ers’ gehöre. Eine Tätigkeit wie seine biete zu viele Gele­gen­heit­en, um sich mit Din­gen wie Enthalt­samkeit zu belas­ten (S65).

Trotz solchen State­ments liessen sich protes­tantis­che und katholis­che Organ­i­sa­tio­nen immer wieder auf ihn und seinen moralis­chen Rel­a­tivis­mus ein. Denn das Anheuern Alinsky’s kam mit dem Ver­sprechen eines erfol­gre­ichen Kampfes gegen Missstände.

Jesus gibt uns in der Berg­predigt und mit seinem ganzen Leben ein alter­na­tives Set an ethis­chen Leit­sätzen. Gerechtigkeit soll uns wichtig sein (Mt 5:6). Aber die Sicht auf den Kon­tra­hen­ten ist eine andere als bei Alinsky:

«Liebt eure Feinde und bit­tet für die, die euch ver­fol­gen» (Mt 5:12).

Jesus fordert uns her­aus, unser Leben in San­ft­mut und Rein­heit des Herzens zu leben (Mt 5:1–12). Er möchte nicht, dass wir unsere Feinde mit Spott ein­deck­en, son­dern die Backe hin­hal­ten (Mt 5:39). Es ist viel ein­fach­er einen Feind zu besiegen als ihn zu lieben. Der Anspruch Jesu auf die Art und Weise, wie ich mein Leben führe und Kon­flik­te gestalte, fordert mich tat­säch­lich sehr her­aus. Die Schlacht­en Gottes wer­den nach anderen Regeln geführt. Und die grössten Siege, so macht er uns klar, gilt es in unseren eige­nen Herzen zu gewinnen:

«Denn was hil­ft es dem Men­schen, die ganze Welt zu gewin­nen und Schaden zu nehmen an sein­er Seele?» (Mk 8:36)

Bilder: Peter Bruderer

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Fuss­noten:

[1] Die 11 ethis­chen Prizip­i­en von Alin­sky (jew­eils mit kurz­er Umschreibung).

  1. «Die Beschäf­ti­gung mit der Ethik der Mit­tel und Zwecke ist umgekehrt pro­por­tion­al zu den per­sön­lichen Inter­essen in dieser Frage.» Will heis­sen: Ethis­che Prinzip­i­en eracht­en wir für umso wichtiger, je weniger ihre Anwen­dung unsere Ziele betr­e­f­fen. Und wir eracht­en sie für umso weniger wichtig, je mehr sie unsere Ziele betreffen.
  2. «Das Urteil über die Ethik der Mit­tel ist abhängig von der poli­tis­chen Hal­tung der­jeni­gen, welche du beurteilst.» Will heis­sen: Wenn dir die poli­tis­che Hal­tung deines Geg­n­ers zuwider geht, dann bist du ihm gegenüber nicht an ethis­chen Prinzip­i­en gebunden.
  3. «Im Krieg heiligt der Zweck fast jedes Mit­tel.» Das erk­lärt sich wohl von selbst.
  4. «Die Beurteilung muss im Kon­text der Zeit erfol­gen, in der die Aktion stattge­fun­den hat, und nicht aus einem anderen chro­nol­o­gis­chen Blick­winkel.» Will heis­sen: Der spez­i­fis­che Kon­text bes­timmt, ob ein Mit­tel moralisch legit­im ist oder nicht.
  5. «Die Sorge um die Ethik steigt mit der Anzahl der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­tel und umgekehrt.» Will heis­sen: Wenn nur ein Mit­tel zur Hand ist zur Ziel­er­re­ichung, darf dieses Mit­tel einge­set­zt wer­den, auch wenn es moralisch ver­w­er­flich ist.
  6. «Je unwichtiger das angestrebte Ziel ist, desto mehr kann man es sich leis­ten, eine ethis­che Bew­er­tung der Mit­tel vorzunehmen.» Will heis­sen: In unwichti­gen Din­gen kann man sich auch mal ein ethisch kor­rek­tes Han­deln leisten.
  7. «Im All­ge­meinen ist der Erfolg oder Mis­ser­folg ein mächtiger Fak­tor in der ethis­chen Beurteilung.» Will heis­sen: Es gibt keine ‘erfol­gre­ichen Ver­räter’. Denn diese wer­den in der Geschichtss­chrei­bung zu ‘grün­den­den Vätern’ (S34). Demzu­folge ist der Erfolg das alles Entschei­dende. Wer Erfolg hat, der bes­timmt die Geschichtss­chrei­bung und kann das ethis­che Urteil bezüglich der einge­set­zten Mit­tel umschreiben.
  8. «Die Moral eines Mit­tels ist abhängig davon, ob eine Nieder­lage oder ein Sieg unmit­tel­bar bevorste­ht.» Will heis­sen: Wer auf der Ziellinie des Erfolges ein drastis­ches Mit­tel ein­set­zt, dem wird das später vorge­hal­ten wer­den. Beispiel: Atom­bombenein­satz in Japan am Ende des zweit­en Weltkrieges.
  9. «Jedes wirk­same Mit­tel wird von der Oppo­si­tion automa­tisch als unethisch eingestuft.» Will heis­sen: Gute Argu­mente oder stich­haltige Instru­mente in der Hand des Geg­n­ers haben grund­sät­zlich immer ‘böse’, ‘unlauter’ und ‘ver­w­er­flich’ zu sein.
  10. «Man tut, was man kann, mit dem, was man hat, und klei­det es in ein moralis­ches Gewand.» Will heis­sen: Es ist oft hil­fre­ich, Mit­tel einzuset­zen, welche als moralisch gut beurteilt wer­den, weil dies hil­fre­ich zur Ziel­er­re­ichung ist. Manch­mal ist die best­mögliche Option auch gle­ichzeit­ig eine moralisch gute.
  11. «Die Ziele müssen in all­ge­meinen Begrif­f­en wie “Frei­heit, Gle­ich­heit, Brüder­lichkeit”, “Gemein­wohl”, “Streben nach Glück”, “Brot und Frieden” for­muliert wer­den.» Will heis­sen: Zielpunk­te kön­nen sich im Laufe eines Kon­flik­tes in einem dynamis­chen Prozess ver­schieben. Deshalb soll­ten sie so for­muliert sein, dass sie nicht zur Zwangs­jacke wer­den, son­dern stetig neu inter­pretiert wer­den können.

Über den Kanal

Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

1 Comment

  1. Peter Bruderer

    Hier find­en sich so etwas wie die upge­dateten “Rules for Rad­i­cals” für unsere Zeit: https://beautifultrouble.org/

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