Warum sich Linksaktivisten mit Islamisten gegen Israel verbünden.

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by Peter Bruderer | 02. Dez. 2023 | 1 comment

Wie kommt es, dass zahlre­iche linke Aktivis­ten und Akademik­er die Hamas und ihren bluti­gen Kampf gegen Israel unter­stützen, ja zu recht­fer­ti­gen ver­suchen? Wo kreuzen sich die Wege der radikalis­lamis­chen Hamas-Ter­ror­is­ten und der ‚wok­en‘ Linksak­tivis­ten, welche in diesen Tagen mit palästi­nen­sis­chen Fah­nen durch die Straßen unser­er Städte marschieren? Eine Spuren­suche führt in die 1960er-Jahre und deckt Wurzeln der Gewalt­bere­itschaft auf.

Das grausame Mas­sak­er an israelis­chen Zivilis­ten vor eini­gen Wochen hat schock­iert und tief betrof­fen gemacht. Zurecht wurde die dafür ver­ant­wortliche Hamas von Men­schen aus allen poli­tis­chen Lagern verurteilt. Den­noch haben die ver­gan­genen Wochen auch klar gemacht: Die Ter­ror­is­ten der Hamas scheinen in der west­lichen Welt in den Rei­hen link­er Aktivis­ten und Akademik­er ihre heim­lichen oder gar offe­nen Für­sprech­er zu haben. Ob an der renom­mierten Har­vard Uni­ver­sität, in den Studier­stuben der Queer-Elite oder an den Kli­mademos von Gre­ta Thun­berg: viele Linksak­tivis­ten sol­i­darisieren sich mit den Palästi­nensern gegen die ‚unter­drück­erische Besatzungs­macht‘ des Zion­is­ten­staates Israel.

Dabei ist es schein­bar egal, dass es die palästi­nen­sis­che Hamas – die regierende Partei in Gaza – war, welche den wieder­aufge­flammten Nahostkon­flikt am 07. Okto­ber 2023 mit einem beispiel­slosen Blut­bad an der israelis­chen Zivil­bevölkerung los­ge­treten hat. Um die Rela­tio­nen etwas aufzuzeigen: Es ist davon die Rede, dass die Ereignisse des 07. Okto­bers das größte Mas­sak­er an Juden seit dem Holo­caust vor 80 Jahren waren. Das tief­sitzende Trau­ma der Juden wird durch diese grausame Abschlach­tung von wehrlosen Zivilis­ten – darunter Frauen, Kinder, Holo­caust-Über­lebende – mit einem Schlag wiedererweckt.

Wie schräg die Iden­ti­fika­tion gewiss­er ‚wok­er‘ Kreise mit radikalis­lamistis­chen Kriegstreibern im Gaza Streifen ist, hat in den ver­gan­genen Wochen für Diskus­sio­nen gesorgt. Denn Fem­i­nistin­nen, welche in unseren Strassen ihre Palästi­na-Flagge schwenken, wür­den spätestens im mus­lim­is­chen Gaza ihre Gle­ich­berech­ti­gung ver­lieren. Gre­ta Thun­bergs Klimapro­gramm ist den Palästi­nensern schnuppe. Die ‚Queers for Pales­tine‘-Gruppe dürfte gar an Leib und Leben bedro­ht sein, wollte sie in Gaza-Stadt ihre Pride-Parade aufziehen.

Trotz­dem wer­den die Fah­nen geschwenkt, wer­den die „From the Riv­er to the See“-Chöre anges­timmt, welche die Idee ein­er total­en Juden­vertrei­bung aus dem Staats­ge­bi­et Israels beschwört.

Wie kann es sein, dass eine ‚woke‘ Bewe­gung, welche sich den Kampf für eine gerechtere Welt auf die Fahne geschrieben hat, bei einem solchen Mas­sak­er ein­fach wegschauen kann? Wie kann es sein, dass selb­st gewisse ges­tandene Poli­tik­er im linken Spek­trum den Hamas-Ter­ror um keinen Preis beim Namen nen­nen wollen?

Das Let­zte, was ich möchte, ist, mich mit diesem Artikel als Fach­mann für den Palästi­na-Kon­flikt präsen­tieren. Die Kom­plex­ität des Kon­flik­tes ist enorm und das Leid tat­säch­lich auf allen Seit­en groß. Die ganze Sit­u­a­tion schre­it zum Him­mel. Ich für mich möchte hier nur der Frage nachge­hen, woher die eigen­tüm­liche und schein­bar blinde Sym­pa­thie gewiss­er link­er Kreise für ein palästi­nen­sis­ches Pro­gramm des gewalt­samen Kampfes gegen das jüdis­che Volk kommt.

Demon­stran­tin an der nationalen Demo für Palästi­na in Lon­don (Bild: Alamy)

Die Neue Linke definierte Täter und Opfer von Diskriminierung

Die Antworten zu mein­er kleinen Frage sind unter anderem in neo­marx­is­tis­chen Ideen zu find­en, welche in den späten 1960ern in ein­er linken west­lichen Kul­ture­lite auf frucht­baren Boden fie­len, aber auch in gewis­sen ehe­ma­li­gen Kolo­nial­staat­en Afrikas und des Ori­ents für Inspi­ra­tion sorgten.

Damals sprach man von der soge­nan­nten ‚New Left‘ – der ‚Neuen Linken‘. Diese Bewe­gung suchte nach Wegen, wie marx­is­tis­che Utopi­en auch in west­lichen Kul­turen Gestalt annehmen kön­nten, nach­dem es dort mit dem ersehn­ten ‚Auf­s­tand des Pro­le­tari­ats‘ nicht wirk­lich funk­tion­iert hat­te. Weg­weisend für die Strate­gie, mit denen die New Left den West­en ‚knack­en‘ wollte, waren The­o­rien des ital­ienis­chen Kom­mu­nis­ten Anto­nio Gram­sci (1891–1937) und der soge­nan­nten Frank­furter Schule mit der von ihr begrün­de­ten Kri­tis­chen The­o­rie.

Die neue Strate­gie fokussierte auf ein bre­ites Spek­trum sozialer The­men wie Bürg­er­rechte, Fem­i­nis­mus, Rechte von Homo­sex­uellen, dro­gen­poli­tis­che Refor­men oder die Revi­sion tra­di­tioneller Fam­i­lien­werte und Geschlechter­rollen. Die Ziele soll­ten primär über das Ein­fordern von mehr sozialer Gerechtigkeit in diesen Bere­ichen erre­icht werden.

Instru­mente wie die Kri­tis­che The­o­rie und darauf auf­bauend das Konzept der soge­nan­nten Inter­sek­tion­al­ität halfen, diskri­m­inierte Grup­pen und deren Diskri­m­inierungs­grade sowie unter­drück­ende Grup­pen und Sys­teme zu definieren. So kam es, dass der ‚weiße het­ero­sex­uellen Mann‘ zum Inbe­griff des priv­i­legierten Unter­drück­ers wurde, übertrof­fen nur noch vom ‚weißen het­ero­sex­uellen Chris­ten‘.

In dieser Art, die Welt zu sehen, ist wahre moralis­che Autorität stets bei jenen Grup­pen, die als diskri­m­iniert iden­ti­fiziert wer­den, die einen Opfer­sta­tus haben. Diese haben die Deu­tung­shoheit über gesellschaftliche Sit­u­a­tio­nen. Ihnen muss deshalb auch zuge­hört und geglaubt wer­den. Der priv­i­legierte ‚weisse het­ero­sex­uelle Mann‘ aber, hat Busse zu tun für seine Priv­i­legien und für die unter­drück­ende Wirkung sein­er Peer­gruppe. Um seine moralis­che Stel­lung zu verbessern, muss er sich mit den Werten und Zie­len der als diskri­m­iniert iden­ti­fizierten Gruppe sol­i­darisieren und sich dem legit­i­men Kampf gegen ‚Aggres­soren‘ anschließen.  Er muss zum ‚Alli­ierten‘ der Diskri­m­inierten wer­den. Tut er das nicht, bleibt er gemäß dem neo­marx­is­tis­chen Deu­tungsmuster ein Aggres­sor, gegen den mit lauteren oder auch unlauteren Mit­teln vorge­gan­gen wer­den darf und der an den Pranger der öffentlichen Wahrnehmung gestellt wer­den muss.

Die ganze damit zusam­men­hän­gende Dynamik ist in unseren Tagen außeror­dentlich prä­gend für unsere gesellschaftliche Entwick­lung im Westen.

Neo­marx­is­tis­che Logik: “Queers for Pales­tine” marschieren mit Pro-Paläs­tinien­sis­chen demon­stran­ten. Lon­don, 31. Okto­ber 2023 (Bild: Alamy)

Die neomarxistische Logik der ‘woken’ Palästina-Solidarität

Aus­ge­hend von ein­er akademis­chen Elite haben sich die erläuterten Konzepte mit­tler­weile tief in das Selb­stver­ständ­nis unser­er west­lichen Gesellschaft einge­graben. Sie prä­gen auch die aktuelle Diskus­sion rund um die Palestina-Frage.

So haben die Denker der Neuen Linken und ihre ide­ol­o­gis­chen Erben auch die Kat­e­gorien der ‚Indige­nous Peo­ples‘ (Indi­gene Völk­er) als mar­gin­al­isierte Gruppe und der ‚White Set­tlers‘ (Weisse Siedler) als priv­i­legierte, unter­drück­ende Gruppe geschaf­fen. Instru­ment der Unter­drück­ung ist in dieser Machtkon­stel­la­tion der Kolo­nial­is­mus.

Es ist all­ge­mein bekan­nt, dass die his­torische Real­ität und die aktuelle Sach­lage in Israel äußerst kom­plex sind. In den Kat­e­gorien der Kri­tis­chen The­o­rie aber sind die Rollen klar fest­gelegt: Der Staat Israel wird als ein Pro­jekt des ‚west­lichen Siedler-Kolo­nial­is­mus‘ gese­hen und gehört damit beseit­igt. Ist die Kat­e­gorie des priv­i­legierten Aggres­sors erst ein­mal so geset­zt, wird es für den ‚wok­en‘ Men­schen mit Bewusst­sein für Diskri­m­inierung zur ‚heili­gen Pflicht‘, sich als Alli­iert­er auf die Seite der als mar­gin­al­isiert und unter­drückt iden­ti­fizierten Palästi­nenser zu stellen.

Doch um zu ver­ste­hen, warum selb­st bes­tialis­che Gewalt gegen jüdis­che Zivilis­ten, wie sie am 07. Okto­ber stattge­fun­den hat, die unge­broch­ene Sol­i­dar­ität mit den Palästi­nensern nicht gefährden kon­nte, muss man einen Blick auf die Bedeu­tung von Gewalt im Denken der ‚New Left‘ wer­fen. Beispiel­haft kann dies anhand von zwei Fig­uren vol­l­zo­gen wer­den, welche in den 1960ern auch für unsere Zeit ein­flussre­iche Schriften pub­lizierten: der deutsch-amerikanis­che Philosoph und Sozi­ologe Her­bert Mar­cuse (1898–1979) und der franko­phone und im algerischen Unab­hängigkeit­skrieg engagierte Psy­chi­ater und Philosoph Frantz Fanon (1925–1961).

Held der Strassen: Frantz Fanon Bild­nis in Bogo­ta, Columbi­en (Bild: Alamy)

Frantz Fanon und seine Medizin der Gewalt

Wer den Spuren der akademis­chen Wurzeln des Hamas Ter­rors nachge­ht, wie dies beispiel­sweise in einem guten Fachar­tikel vor eini­gen Wochen gemacht wurde, wird nicht nur auf Fig­uren wie den ein­flussre­ichen amerikanisch-palästi­nen­sis­chen Lit­er­atur-Pro­fes­sor Edward Said (1935–2003) stossen, son­dern früher oder später auch auf Frantz Fanon. In Frantz Fanon find­en wir eine Per­son, dessen Ideen nicht nur die Vor­denker ein­er palästi­nen­sis­chen Befreiungs­be­we­gung inspiri­ert haben, son­dern in den 1960ern auch vom ‘Vater’ der Neuen Linken, Her­bert Mar­cuse aufgenom­men wur­den. Hier kreuzen sich die Wege der west­lichen Sex­u­al­rev­o­lu­tionäre und der antikolo­nial­is­tis­chen Wort­führer der drit­ten Welt.

Mit ein­flussre­ichen Büch­ern wie «Schwarze Haut, weiße Masken» (1952) oder «Die Ver­dammten dieser Erde» (1961) schrieb Fanon mit­ten in die Hochblüte afrikanis­ch­er Unab­hängigkeits­be­we­gun­gen hinein. Fanon bee­in­flusste dabei sowohl Entkolo­nial­isierungs­be­we­gun­gen in der drit­ten Welt als auch rev­o­lu­tionäre Bewe­gun­gen inner­halb der west­lichen Welt wie zum Beispiel die Bewe­gung der Black Pan­ther in den USA.

Mit dem erwäh­n­ten Buch «Schwarze Haut, weiße Masken» gab Fanon diesen Bewe­gun­gen ein Bewusst­sein für psy­chol­o­gis­che Patholo­gien, die durch den Kolo­nial­is­mus her­vorgerufen wer­den. Seine These: Kolo­nial­is­mus und Ras­sis­mus lässt die Psy­che sowohl der Schwarzen als auch der Weißen verder­ben, wenn auch auf unter­schiedliche Weise. Der ‘Negro’ wird dabei durch seinen Min­der­w­ert ver­sklavt und der ‘Weisse Mann’ durch seine Über­legen­heit. Fanons Fest­stel­lung, dass Ras­sis­mus nicht nur durch indi­vidu­elle Vorurteile oder Insti­tu­tio­nen, son­dern auch durch die Kul­tur in Form von tief ver­wurzel­ten Denkmustern über­lebt, ist richtig und wichtig. Seine in diesem Buch entwick­elte Sprache find­et heute Wider­hall in mod­er­nen Begriffs­bil­dun­gen wie zum Beispiel ‘white Suprema­cy’ (=weisse Vorherrschaft).

Fanon lieferte aber nicht nur ein Psy­chogram für die Unter­drück­ten, son­dern auch ein Pro­gramm, eine Medi­zin. Diese Medi­zin hiess Gewalt. Davon han­delt sein let­ztes Buch «Die Ver­dammten dieser Erde», welch­es kurz vor seinem Tod pub­liziert wurde. Einige Auszüge aus dem ersten Kapi­tel des Buch­es geben einen Eindruck:

«Nationale Befreiung, nationale Wiederge­burt, Rück­gabe der Nation an das Volk oder das Gemein­we­sen, egal wie man es nen­nt, egal wie man es aus­drückt, die Entkolo­nial­isierung ist immer ein gewalt­sames Ereig­nis.» (eigene Übersetzung)

«In ihrer nack­ten Real­ität riecht die Dekolonisierung nach glühen­den Kanonenkugeln und bluti­gen Messern. Denn wenn die let­zten die ersten sein sollen, so kann das nur nach ein­er mörderischen und entschei­den­den Kon­fronta­tion zwis­chen den bei­den Pro­tag­o­nis­ten geschehen.» (eigene Übersetzung)

«Man kann eine Gesellschaft, so prim­i­tiv sie auch sein mag, nicht mit ein­er solchen Agen­da des­or­gan­isieren, wenn man nicht von Anfang an entschlossen ist, jedes Hin­der­nis, auf das man stößt, zu zer­schla­gen. Der Kolonisierte, der sich dazu entschlossen hat, dieses Pro­gramm zu real­isieren, sich zu seinem Motor zu machen, ist von jeher auf die Gewalt vor­bere­it­et. Seit sein­er Geburt ist es für ihn klar, dass diese beengte, mit Ver­boten durch­set­zte Welt nur durch absolute Gewalt her­aus­ge­fordert wer­den kann.» (eigene Übersetzung)

«Die kolo­niale Welt zu zer­stören, bedeutet nichts anderes, als den kolo­nialen Sek­tor zu ver­nicht­en, ihn so tief wie möglich in den Boden einzu­stampfen oder ihn aus dem Gebi­et zu ver­ban­nen.» (eigene Übersetzung)

In den Tex­ten von Fanon wird Gewalt zum Rit­u­al mit religiösen Zügen. Tod und Wiederge­burt des unter­drück­ten Men­schen geschehen durch Gewalt. Gewalt ist die Taufe, welche aus dem Unter­drück­ten einen neuen Men­schen macht. Gewalt ist ein notwendi­ger Akt zur psy­chol­o­gis­chen Wieder­her­stel­lung des Unterdrückten.

Der Philosoph Jean-Paul Sartre beschreibt dieses Denken von Fanon in sein­er Ein­leitung zur englis­chen Über­set­zung folgendermassen:

«Einen Europäer zu töten bedeutet, zwei Fliegen mit ein­er Klappe zu schla­gen, Unter­drück­er und Unter­drück­te in einem Zug zu beseit­i­gen, den einen zu töten und den anderen freizu­lassen.» (eigene Übersetzung)

Zur Vertei­di­gung der Gewal­tausübung kolonisiert­er Volks­grup­pen argu­men­tierte Fanon, dass Men­schen, welche von ihren Kolo­nial­her­ren nicht als solche betra­chtet wer­den, gegenüber ihren diesen auch nicht an die Grund­sätze der Men­schlichkeit gebun­den sind.

Her­bert Mar­cuse am 06. Juni 1972 in Frank­furt: Held der 68er (Bild: Alamy)

Herbert Marcuse und seine Intoleranz gegen alles Nicht-Linke

Inter­es­sant ist nun die Fest­stel­lung, dass die gewalt­täti­gen Befreiungs­fan­tasien von Fanon nicht nur in marx­is­tis­chen Bewe­gun­gen der drit­ten Welt oder in mus­lim­is­chen Befreiungs­be­we­gun­gen wie der­jeni­gen der Hamas Fuss gefasst haben. Sie haben unter anderem auch durch den ‘Vater’ der neuen Linken, Her­bert Mar­cuse, in die DNA von linksak­tivis­tis­chen Bewe­gun­gen unser­er Tage Ein­gang gefunden.

Beispiel­haft dafür kann der ein­flussre­iche Auf­satz von Mar­cuse über «Repres­sive Tol­er­anz» aus dem Jahre 1965 beige­zo­gen wer­den. Mar­cuse lehnt darin einen ‘neu­tralen’ Tol­er­anzbe­griff kat­e­gorisch ab. Die ange­bliche gesellschaftliche Tol­er­anz für alter­na­tive Konzepte und Per­spek­tiv­en sei vielmehr bes­timmt von repres­siv­er Tol­er­anz gegenüber diesen Alter­na­tiv­en. Die dom­i­nante Gruppe erhält ihre Macht aufrecht, indem sie Tol­er­anz vorgibt, tat­säch­lich aber durch ihre hege­mo­ni­ale Macht über den Zivi­lap­pa­rat die in der Gesellschaft vorherrschende Ide­olo­gie kontrolliert.

Der linksrev­o­lu­tionär Mar­cuse will die Men­schen unbe­d­ingt in die Frei­heit sein­er marx­is­tis­chen Utopie führen. Die repres­sive Tol­er­anz der dom­i­nan­ten Kul­tur ste­ht im Wege. Für ihn ist deshalb klar, dass wahre und befreiende Tol­er­anz nur durch die Etablierung ein­er neuen Intol­er­anz möglich ist:

«Befreiende Tol­er­anz würde mithin Intol­er­anz gegenüber Bewe­gun­gen von rechts bedeuten und Dul­dung von Bewe­gun­gen von links»

Wenn dem Volk zu ein­er aus Sicht von Mar­cuse ‘befre­it­en Tol­er­anz’ ver­holfen wer­den soll, geht dies nur über eine Intol­er­anz gegenüber recht­en Bewe­gun­gen. Das dies selb­st wiederum ein gefährlich­es total­itäres Konzept ist, ver­ste­ht sich hof­fentlich von selbst.

Inter­es­sant ist nun, dass Mar­cuse zur Stützung sein­er These mehrfach Frantz Fanon und «Die Ver­dammten dieser Erde» ref­eren­ziert. So zitiert er aus der von Jean-Paul Sartre ver­fassten Einleitung:

«Aber wenn das gesamte Regime und selb­st eure gewalt­losen Gedanken durch jahrtausendealte Unter­drück­ung bed­ingt sind, dann dient eure Pas­siv­ität nur dazu, euch auf die Seite der Unter­drück­er zu stellen.»

Mar­cuse greift hier Gedanken aus dem Buch von Fanon auf, welche die gewalt­lose Ein­stel­lung Betrof­fen­er qua­si als Pro­dukt repres­siv­er Tol­er­anz darstellen. Die implizite Botschaft: Mit Gewalt­losigkeit dient der Unter­drück­te nur dem Unter­drück­er. Es gibt demzu­folge eine legit­ime Alter­na­tive, bei der man sich nicht der pas­siv­en Unter­stützung des Unter­drück­ers schuldig macht: Gewaltausübung.

Eben­falls greift Mar­cuse zum von Fanon geprägten Begriff der ‘Ver­dammten dieser Erde’ in seinem pro­gram­ma­tis­chen Appell, Ander­s­denk­ende mit­tels Tol­er­anzentzug zu erziehen:

«Es sollte mit­tler­weile klar sein, dass die Ausübung bürg­er­lich­er Rechte durch die, die sie nicht haben, voraus­set­zt, dass die bürg­er­lichen Rechte jenen ent­zo­gen wer­den, die ihre Ausübung ver­hin­dern, und dass die Befreiung der Ver­dammten dieser Erde nicht nur Unter­drück­ung ihrer alten, son­dern auch ihrer neuen Her­ren voraus­set­zt. Dass rückschrit­tlichen Bewe­gun­gen die Tol­er­anz ent­zo­gen wird, ehe sie aktiv wer­den kön­nen, dass Intol­er­anz auch gegenüber dem Denken, der Mei­n­ung und dem Wort geübt wird (Intol­er­anz vor allem gegenüber den Kon­ser­v­a­tiv­en und der poli­tis­chen Recht­en) – diese anti­demokratis­chen Vorstel­lun­gen entsprechen der tat­säch­lichen Entwick­lung der demokratis­chen Gesellschaft, welche die Basis für all­seit­ige Tol­er­anz zer­stört hat. Die Bedin­gun­gen, unter denen Tol­er­anz wieder eine befreiende und human­isierende Kraft wer­den kann, sind erst herzustellen.»

Diese Zeilen lesen sich etwas kom­pliziert. Aber sie geben Hin­weise auf die gesellschaftliche Strate­gie, welche linksak­tivis­tis­che Kreise seit Jahren sehr erfol­gre­ich umset­zen. Dem­nach sind demokratis­che Gesellschaften nicht imstande, die Rah­menbe­din­gun­gen für die gewün­schte ‘befreiende Tol­er­anz’ sicherzustellen. Es braucht deshalb eine Umerziehung des Men­schen. Diese geschieht durch Machter­grei­fung in den mei­n­ungs­bilden­den gesellschaftlichen Gefässen und durch das Etablieren ein­er Kul­tur der Intol­er­anz gegenüber dem Denken, der Mei­n­ung und dem Wort der­er, welche nicht ins ide­ol­o­gis­che Pro­gramm passen. Wehe du äusserst dich heute an der Öffentlichkeit kri­tisch gegenüber gewis­sen gesellschaftlichen Auswüch­sen unser­er Zeit. Da hast du sofort deinen Shit­storm oder riskierst gar deine beru­fliche Stellung.

Mit­ten­drin in dieser für unsere west­liche Welt so entschei­den­den Ratio­nal­isierung ein­er linken Intol­er­anz find­en wir also auch Frantz Fanon. Dies zeigt auf, wie tief auch seine Gedanken­welt die Neue Linke geprägt hat. Die Befreiung der ‘Ver­dammten dieser Erde’ bed­ingt die Unter­drück­ung ihrer Her­ren. Der Zweck heiligt dabei die Mit­tel. Die Vision ein­er befreien­den linken Utopie bed­ingt den Auf­bau ein­er bewusst intol­er­an­ten Leitkul­tur mit Sprach- und Gedankenpolizei.

Lesestoff für Revolutionäre: "The New Left Reader". 1969

Bild: Peter Bruderer

Wer nach dem klas­sis­chen Lese-Menü für einen durch­schnit­tlichen 68er-Rev­o­lu­tionärs sucht, der wird zum Beispiel im Sam­mel­band «The New Left Read­er» aus dem Jahre 1969 fündig. Hier wird dem fortschrit­tlichen und nach gesellschaftlich­er Trans­for­ma­tion streben­den Men­schen jen­er Zeit vorgeschla­gen, wie die Utopie ein­er neuen und gerechteren Welt Gestalt annehmen kön­nte. Hier find­en wir sie alle vere­int: ob es nun der marx­is­tis­che Rev­o­lu­tionär Fidel Cas­tro oder der grüne Stu­den­ten­führer und Pädophilen-Sym­pa­thisant Daniel Cohn-Ben­dit ist, ob es nun der Sex­u­al­rev­o­lu­tionär Her­bert Mar­cuse oder der Prophet der Gewalt Frantz Fanon ist.

Um es nochmals festzuhal­ten. Hin­ter die gewalt­täti­gen Befreiungsträume von Fanon hat sich der berühmte Jean-Paul Sartre gestellt. Her­bert Mar­cuse hat ihn gead­elt. Diese Denkweise, dass Gewalt ein pro­bates Mit­tel zur Durch­set­zung der linken Ide­olo­gie ist, trägt bei den alljährlich Nachdemon­stra­tio­nen am 1. Mai ihre logis­chen Früchte.

Auch in unseren Tagen wird Fanon gehuldigt. Zulet­zt durch den all­seits respek­tierten Bürg­er­rechtler und Philosophen Cor­nel West. Für die aktuelle englis­chsprachige Kin­dle Aus­gabe von «Die Ver­dammten dieser Erde» hat er eine glühende Ein­leitung geschrieben. Die ersten Worte daraus:

«Frantz Fanon ist der grösste rev­o­lu­tionäre Visionär von Mitte des zwanzig­sten Jahrhun­derts. Er ist auch der rel­e­van­teste für das ein­undzwanzig­ste Jahrhun­dert.» (eigene Übersetzung)

Wir müssen ver­ste­hen: Cor­nel West hat Pro­fes­suren für rund sieben ver­schiedene Uni­ver­sitäten gehal­ten. Darunter Har­vard, Yale und Princeton.

Die Wege der links-pro­gres­siv­en west­lichen Bewe­gun­gen, welche uns in den ver­gan­genen Jahrzehn­ten sex­uelle Befreiung als poli­tis­ches Pro­gramm und in der jün­geren Geschichte The­o­rien der sex­uellen Vielfalt, queere The­o­rie und der­gle­ichen gebracht haben, kreuzen sich in den 1960er Jahren mit gewalt­bere­it­en Befreiungsphiloso­phien, welche heute radikale mus­lim­is­che Bewe­gun­gen wie die Hamas inspirieren.

Aus­ge­bran­nte Küche im Kib­butz Kfar Aza nach dem ter­ror­is­tis­chen Über­fall vom 07. Okto­ber 2023 (Bild: Alamy)

Die Hamas und ihr ‘wokes’ Vokabular

Ein Blick auf ein aktuelleres Posi­tion­spa­pi­er der Hamas aus dem Jahre 2017 zeigt, wie gut diese Ter­ror­be­we­gung es ver­ste­ht, neben islamistis­chen Kampf­parolen auch das Vok­ab­u­lar einzubauen, welch­es das Herz jedes ‘wok­en’ Marx­is­ten höher­schla­gen lässt. So lesen wir beispiel­sweise, Israel als «zion­is­tis­ches Pro­jekt» sei «ein ras­sis­tis­ches, aggres­sives, kolo­niales und expan­sion­is­tis­ches Pro­jekt». Das sind Worte, welche dem ‘wok­en’ Neo­marx­is­ten sofort sagen, mit welch­er Seite er sich zu sol­i­darisieren hat. Es sind Worte, welche direkt aus einem akademis­chen Paper an ein­er west­lichen Uni­ver­sität zitiert sein kön­nten. Es sind Worte, welche zum Beispiel aus der Abteilung ‘Urban Stud­ies’ der Uni­ver­sität Basel stam­men kön­nten, welche ‘Zion­is­mus’ in einem Atemzug mit ‘Ras­sis­mus’, ‘Anti­semitismus’, ‘Islam­o­pho­bie’, ‘Sex­is­mus’, ‘Homo­pho­bie’ und ‘Trans­pho­bie’ nennt.

Wer in die Entste­hungszeit der Hamas zurück­ge­ht, find­et in ihrer Grün­dungschar­ta weit­ere solche For­mulierun­gen. Ein Beispiel aus Artikel 15 über die Pflicht zum ‘Dschi­had’ zur Befreiung Palästinas:

«Das Bil­dungssys­tem muss grundle­gend verän­dert wer­den, um es von den Auswirkun­gen der ide­ol­o­gis­chen Inva­sion durch die Ori­en­tal­is­ten und Mis­sion­are zu befreien.»

Der israelis­che Staat ist in den Augen der Hamas wie auch in den Augen eines ein­flussre­ichen west­lichen Akademik­erzirkels ein west­lich­es sied­lungskolo­nial­is­tis­ches Pro­jekt, welch­es die palästi­nen­sis­che Bevölkerung Ver­drän­gen respek­tive Umerziehen will. Im Denken von Fanon wie auch von Mar­cuse bedeutet dies: Die palästi­nen­sis­che Bevölkerung muss sich gewalt­tätig erheben, und sie hat sich in ihrem Kampf an keine Regeln zu hal­ten. Denn: Die Per­so­n­en­gruppe oder das Volk, der durch Unter­drück­ung die Men­schlichkeit genom­men wurde, darf sich auch unmen­schlich ver­hal­ten. In diesem Denkschema ist die palästi­nen­sis­che Gewalt schlicht und ein­fach legit­im, berechtigt und sog­ar nötig.

Cor­nel West: wort­ge­waltiger Aktivist und renomiert­er Akademik­er (Bild: Alamy)

Fazit: Lieber christlich-jüdisches Menschenbild als Neomarxismus

Um es hier deut­lich zu sagen: Es gibt auch aus recht­en Kreisen Juden­hass und Anti­semitismus, der genau­so klar verurteilt gehört. Die Moti­va­tio­nen und Hin­ter­gründe mögen andere sein und bräucht­en einen eige­nen Artikel. Ich bin froh und dankbar, dass es im linken Spek­trum auch andere Stim­men gibt als die nun beschriebe­nen. Auch das soll an dieser Stelle in aller Deut­lichkeit fest­ge­hal­ten wer­den. So war bei uns in der Schweiz an ein­er Kundge­bung vom 02. Novem­ber 2023 in Zürich mit Daniel Jositsch (Stän­der­at SP) ein promi­nen­ter Poli­tik­er des linken Spek­trums vertreten, der seine Stimme gegen den Hass und die Gewalt an Juden erhoben hat. Klar: Jositsch ist selb­st Jude. Es gibt aber viele weit­ere Beispiele link­er Poli­tik­er, die sich gegen die Mas­sak­er des 7. Okto­ber 2023 und gegen Anti­semitismus äussern.

Den­noch: Die jüng­sten Ereignisse haben die Logik des neo­marx­is­tis­chen Denkens meines Eracht­ens auf erschreck­ende Weise zutage gefördert. Diese Logik wird gut sicht­bar in ein­er aktuellen Bran­drede des bere­its erwäh­n­ten Cor­nel West an ein­er Pro-Palästi­nen­sis­chen Demon­stra­tion vor dem UNO-Haupt­sitz in New York. Zu dieser Logik gehört: Der Fokus, die Für­sorge und Unter­stützung gilt allein der Per­so­n­en­gruppe, welche als die Unter­drück­te iden­ti­fiziert wor­den ist – in diesem Fall die Palästi­nenser. Ihr Land ist «beset­zt». An ihnen wird «ein Genozid verübt». Ihr Alli­iert­er gilt es nun zu sein, komme was wolle. Kein Wort über die Gräueltat­en der Hamas. Kein Wort darüber, wie die Hamas ihre eigene Bevölkerung als lebendi­ge Schutzschilde miss­braucht. Die Regeln der Inter­sek­tion­al­ität gebi­eten es, dass sich Priv­i­legierte mit den ‘Unpriv­i­legierten’ zu sol­i­darisieren haben – selb­st, wenn diese Gräueltat­en begehen.

Solche fix­en und ide­ol­o­gisch vorge­spurten Sol­i­dar­itäts-Mech­a­nis­men führen denn auch zu den eige­nar­ti­gen Auswüch­sen, welche das west­liche Gesicht des aktuellen Kon­flik­tes prä­gen. Fem­i­nistin­nen find­en sich auf ein­mal auf der Seite der Ter­ror­is­ten wieder, welche am 07. Okto­ber jüdis­che Frauen geschän­det haben. Frieden­sak­tivis­ten find­en sich auf ein­mal auf der Seite radikaler islamistis­ch­er Jihadis­ten. Queere marschieren in den Strassen des West­ens in Sol­i­dar­ität mit den­jeni­gen, welche ihren Lebensstil in jed­er Hin­sicht ablehnen und kon­se­quent unter­drück­en würden.

Unrecht schre­it zum Him­mel. Unrecht sollte als solch­es genan­nt wer­den, unab­hängig davon, wer dieses Unrecht ausübt. Wir alle soll­ten uns für eine bessere und gerechtere Welt ein­set­zen – aber nicht nach dem Regel­buch von Fanon oder Mar­cuse. Ihre rev­o­lu­tionären Utopi­en führen eher zur Zer­störung des Men­schen als zu seinem Heil. Das neo­marx­is­tis­che Deu­tungsmuster und das damit ver­bun­dene Heilmit­tel der gewalt­samen Rev­o­lu­tion ist eine Gebär­mas­chine von neuem Unrecht und stetiger Gewalt. Die nach selb­st­gewählten Para­me­tern erfol­gende Ein­teilung der Men­schen in ‘gute’ und ‘böse’ Per­so­n­en­grup­pen, in ‘unschuldige’ und ‘schuldige’ Kas­ten, wird der Tat­sache nicht gerecht, dass gemäss christlichem Men­schen­bild die Sünde aus dem Herzen jedes Men­schen kommt. Jed­er Men­sch macht sich vor Gott und anderen Men­schen schuldig und braucht Gnade.

Als Chris­ten sind wir ange­hal­ten, Gottes Wege der men­schlichen Befriedung zu suchen und zu leben. Gewisse Ansätze dazu habe ich bere­its vor einiger Zeit zu for­mulieren ver­sucht in einem Text über die Über­win­dung kul­tureller Gräben. Tat­sache ist: das selek­tive Regel­w­erk der Utopis­ten, welche einem linken poli­tis­chen Spek­trum alle Frei­heit­en zur Manip­u­la­tion und Gewal­tan­wen­dung geben, während sie genau diese Dinge bei anders Denk­enden anprangern, ist ver­logen. Dieses Regel­w­erk führt in der Prax­is aktuell zu toleriert­er Grausamkeit an unschuldigen Frauen und Kindern in Israel und zu toleriertem oder gar prak­tiziertem Hass gegenüber den Juden als Volk­gruppe. DAS ist nicht tolerierbar.

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Über den Kanal

Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

1 Comment

  1. Peter Bruderer

    Eine Bemerkung von Den­nis Alt­mann in seinem 1971er Buch “Homo­sex­u­al Opres­sion and Lib­er­a­tion” zeigt, das bere­its damals Feind­seligkeit gegenüber Juden inner­halb der Queeren Bewe­gung ein The­ma war: “Some Jew­ish homo­sex­u­als, con­cious of grow­ing hos­til­i­ty toward Zion­ism which was being echoed in gay lib­er­a­tion, have been meet­ing togeth­er to explore their par­tic­u­lar prob­lems.” (S134)

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