Welche Gerechtigkeit soll es denn sein?

Lesezeit: 4 Minuten
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by Cornelia Schum | 04. Nov. 2024 | 2 comments

Gerechtigkeit in der Span­nung von Ein­heit und Diversität

Ich ste­he vor dem Buf­fet ein­er Lodge in Namib­ia. Hier biegen sich die Tis­che, draussen sitzen zer­lumpte Kinder, und ich frage mich im Stillen: Ist das gerecht? Viel lauter sind die Aktivistin­nen der «Last Gen­er­a­tion», welche sich auf die Strassen kleben und damit ihrem Unmut über die Kli­maun­gerechtigkeit unüber­hör­bar Luft machen. Viele junge Men­schen haben ein feines Gespür für Ungerechtigkeit und Vorurteile. Sie wollen nicht mitanse­hen, wie Min­der­heit­en diskri­m­iniert und beschimpft wer­den, wie die Umwelt acht­los zer­stört wird und wie Kriege sich aus­bre­it­en. Sie wollen sich ein­set­zen für eine Welt, in welch­er die Einzi­gar­tigkeit jedes Men­schen geachtet wird. Mit anderen Worten: Sie sehnen sich nach Gerechtigkeit!

Mit dieser Sehn­sucht sind sie nicht allein: Gott selb­st hat ein riesiges Herz für Gerechtigkeit. Die ganze Bibel spricht von Gottes grossem Plan, seine Welt wieder­herzustellen, die er doch zu Beginn vol­lkom­men gut und gerecht erschaf­fen hat. Nach­dem er sein Volk aus Unter­drück­ung und Sklaverei befre­it hat, set­zt er sich für die Anliegen der Armen, der Unter­drück­ten und der Aussen­seit­er ein (2. Mose 22,20–26). Lei­der wählt sein Volk ganz andere Wege, aber Gott hält an seinem Plan fest, ganzheitliche Gerechtigkeit herzustellen, indem er einen Ret­ter ver­spricht: «Siehe, mein Knecht, den ich halte, mein Auser­wählter, an dem meine Seele Wohlge­fall­en hat: […] Er wird nicht verza­gen noch zusam­men­brechen, bis er Gerechtigkeit auf Erden aufgerichtet hat.» (Jesa­ja 41,1.4) Jesus tritt dann seinen Job an, indem er seine Auf­gabenbeschrei­bung öffentlich vor­li­est: Den Armen die gute Botschaft verkün­den, Gefan­gene befreien, Blinde heilen und Zer­schla­ge­nen die Frei­heit brin­gen (Lk 4,18–19).

Ich bin zutief­st überzeugt, dass Gott selb­st die Sehn­sucht nach Gerechtigkeit, Frieden und Wieder­her­stel­lung in uns hinein­gelegt hat. Doch Gerechtigkeit ist gar nicht so ein­fach zu erre­ichen, wie allen Eltern, Lehrper­so­n­en oder Arbeits­ge­bern schmer­zlich bewusst ist: Erre­icht man Gerechtigkeit beim Einge­hen auf die Bedürfnisse des Einzel­nen oder auf die Inter­essen der Gruppe? Sollen alle Men­schen die gle­ichen Start­möglichkeit­en erhal­ten, oder ist Gerechtigkeit erst bei Ergeb­nis­gle­ich­heit erre­icht? Was liegt in der Ver­ant­wor­tung der Betrof­fe­nen, und wofür ist die Gemein­schaft zuständig? Und wo liegt die Gren­ze zwis­chen zen­tralen Bedürfnis­sen und illu­sorischen Wünschen?

Bere­its hier wird klar, dass es die Gerechtigkeit nicht gibt. Meine Def­i­n­i­tion von Gerechtigkeit hängt stark von meinem Welt­bild [1] ab: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist das Grund­prob­lem der Men­schheit und wie kann es gelöst wer­den? Wie kann Leben gelin­gen? Auf all diese Fra­gen hat mein­er Mei­n­ung nach der christliche Glauben die schön­sten und befreiend­sten Antworten. Diese ste­hen aber in ein­er plu­ral­is­tis­chen Welt in Konkur­renz mit vie­len anderen Lebensphilosophien.

Für mich ist der Bap­tis­ten­pas­tor und Vorkämpfer für Men­schen­rechte Mar­tin Luther King ein gross­es Vor­bild. In sein­er berühmten Rede «I have a dream» rief er der Volks­menge zu:

«Ich habe den Traum, dass eines Tages die Söhne der früheren Sklaven und die Söhne der früheren Sklaven­hal­ter sich auf den roten Hügeln Geor­gias gemein­sam an den Tisch der Brüder­schaft wer­den set­zen kön­nen.» [2]

King war überzeugt, dass eine Ein­heit möglich ist, welche alle Gren­zen über­windet. Doch es ist eine trau­rige Tat­sache, dass es 60 Jahre nach Kings Rede noch immer viel zu viele Men­schen gibt, die auf­grund ihrer Herkun­ft, ihres Geschlechts, ihrer Reli­gion oder ihrer Sex­u­al­ität benachteiligt, beschimpft und an den Rand gedrängt wer­den. Genau hier liegt die Ursache für die aufk­om­mende Iden­tität­spoli­tik, welche sich von Kings Vision abwen­det und bestre­it­et, dass Ein­heit und «gle­iche Rechte für alle» eine Lösung sein kann. Im Gegen­teil, die Diver­sität soll betont und gefeiert wer­den, denn Min­der­heit­en bräucht­en beson­dere Aufmerk­samkeit, um aus ihrer Mar­gin­al­isierung aus­brechen zu kön­nen. Diese neuen Ideen wer­den oft auch als «woke», «neo­marx­is­tisch» oder «links-iden­titär» beze­ich­net, in diesem Blog werde ich meist von «kri­tis­chen (Gesellschafts-)Theorien» sprechen. [3]

Während sich vor allem junge Intellek­tuelle von diesen Ide­olo­gien begeis­tern lassen, beobachte ich viele Men­schen, die den aufk­om­menden Ideen von Anti­ras­sis­mus, «Queers for Pales­tine» oder der LGBTQ+-Community ziem­lich rat­los gegenüber­ste­hen. Das ist der Grund, weshalb die Debat­te oft polemisch verläuft.

Als Mut­ter und Pas­torin bere­it­et es mir Sor­gen, dass junge Men­schen aus unseren Kirchen das Welt­bild der kri­tis­chen The­o­rien aufnehmen und dabei Stück für Stück ihren Glauben ver­lieren. Ausser­dem teile ich mit vie­len anderen die Ansicht, dass die kri­tis­chen The­o­rien nicht hal­ten, was sie ver­sprechen: Statt eines Zusam­men­rück­ens beobacht­en wir eine Zer­split­terung der Gesellschaft in einzelne Bub­bles mit klaren Feind­bildern und ein­er Can­cel Cul­ture. [4] Doch wenn wir mit Ander­s­denk­enden auf Augen­höhe unter­wegs sein wollen, helfen uns Empörung und Polemik nicht weit­er. Junge Men­schen, welche diese Ideen aufnehmen, tun dies meist aus Sehn­sucht nach ein­er gerechteren Welt. Und mit dieser Sehn­sucht müssen wir sie als Kirchen nicht allein lassen!

Wir haben einen Gott, der jeden einzel­nen Men­schen wun­der­bar und einzi­gar­tig gemacht hat (Psalm 139,14). Wir haben einen Gott, der den Einzel­nen sieht (1. Mose 16,13). Wir haben einen Gott, der jede Träne auf­fängt (Psalm 56,9). Wir haben einen Gott, der sich lei­den­schaftlich für Gerechtigkeit ein­set­zt (Psalm 9,12–13). Wir haben einen Gott, der sich selb­st klein gemacht hat und sich mit unserem Leid und unser­er Not iden­ti­fiziert (Jesa­ja 53,4). Wir haben einen Gott, der uns durch sein Leben, seinen Tod und seine Aufer­ste­hung in die Lage ver­set­zt, seinem Auf­trag in dieser Welt zu fol­gen (Eph­eser 3,20). Und wir haben eine Hoff­nung, sowohl für diese Welt, als auch für eine zukün­ftige Welt, in der vol­lkommene Gerechtigkeit herrschen wird. Als Chris­ten haben wir einen ganzheitlichen, real­is­tis­chen und hoff­nungsvollen Blick auf Gerechtigkeit. Wir haben tat­säch­lich eine gute Nachricht! Gott möchte seine Kirche heute neu anzün­den mit sein­er Lei­den­schaft für eine gerechte Welt. Und ich bin überzeugt, dass er dafür ins­beson­dere die näch­ste Gen­er­a­tion gebrauchen will.

In diesem Blog geht es mir ein­er­seits darum, die Ideen hin­ter den kri­tis­chen The­o­rien zu ver­ste­hen. Ich möchte die Welt­bilder der kri­tis­chen The­o­rien und des christlichen Glaubens ver­gle­ichen und zeigen, warum wir eine «Bet­ter Sto­ry» haben. Gle­ichzeit­ig möchte ich darüber nach­denken, wie eine bib­lis­che Gerechtigkeit ausse­hen kann und wie wir einen Glauben leben kön­nen, der in alle Bere­iche des Lebens ausstrahlt.


[1] Ein Überblick über ver­bre­it­ete Welt­bilder find­et sich in: Sire, James W. (2020): The Uni­verse next door, Inter­Var­si­ty Press.

[2] Mar­ti­na Luther King Jr., I Have a Dream, 28. August 1963. Deutsche Fas­sung abruf­bar unter: kifile:///C:/Users/andre/AppData/Local/Temp/MicrosoftEdgeDownloads/500f9f3b-5411–4a32-add4-8242f1fce445/king-deutsch.pdfng-deutsch.pdf [04.09.2024]

[3] Die Forschen­den und Vertreter dieser Ideen wollen sich selb­st kein «Etikett» ver­passen, weshalb die Begriffe «woke» oder «Iden­tität­spoli­tik» von ihnen oft als Schmäh­wort ein­er reak­tionären Recht­en dargestellt wer­den. Es wäre im Sinne ein­er Ver­sach­lichung der Debat­te wün­schenswert, wenn sich ein werteneu­traler Begriff durch­set­zen würde. Shen­vi (2023) schlägt in Crit­i­cal Dilem­ma den Begriff «Crit­i­cal Social The­o­ry», also «kri­tis­che Gesellschaft­s­the­o­rie» vor, dies in Abgren­zung zu den «kri­tis­chen The­o­rien» der Frank­furter Schule (S. 28), Mounk (2024) wählt in Zeital­ter der Iden­tität dafür den Begriff der «Iden­titätssyn­these» (S. 29), während Pluck­rose und Lind­say (2022) in Zynis­che The­o­rien ganz ein­fach den Begriff «The­o­rie» wählen.

[4] Von christlich­er Seite: z.B. Shen­vi und Sawyer (2023): Crit­i­cal Dilem­ma, Har­vest House. Von lib­eraler Seite z.B. Pluck­rose und Lind­say (2022): Zynis­che The­o­rien, C.H. Beck oder Mounk (2024): Im Zeital­ter der Iden­tität, Klett-Cot­ta.

Über den Kanal

Cornelia Schum

Cornelia Schum, Jg. 1979, blüht auf, wenn sie in Diskussionen über Themen wie den Wert des Lebens, Gerechtigkeit oder die Umwelt verwickelt wird. Ihr Anliegen ist, dass Eltern und Leitende in brisanten gesellschaftlichen Themen sprachfähig werden. Sie hat Geografie, Mathematik und Theologie studiert, arbeitet im kirchlichen Bereich und macht ab und zu Stellvertretungen am Gymi. Sie lebt mit ihrem Mann Andi und ihren vier Töchtern in Sursee.

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Kommentare zu diesen Beitrag

2 Comments

  1. Cornelia Schum

    Lieber Lukas
    Ich ver­suche in los­er Folge, in den näch­sten Wochen und Monat­en auf einige dieser Aspek­te einzuge­hen. Ich glaube ins­beson­dere, dass wir eine “Bet­ter Sto­ry” haben in den Bere­ichen von Iden­tität, Gemein­schaft und Gerechtigkeit. Eine “kri­tis­che” Gerechtigkeit möchte vor allem Sys­teme verän­dern und damit Ergeb­nis­gle­ich­heit (oder Equi­ty) in allen Bere­ichen erre­ichen. Dies ist aber eine sehr ein­seit­ige Sichtweise auf Gerechtigkeit. Die Bibel sieht vielmehr sehr unter­schiedliche Ursachen für die Ungerechtigkeit in dieser Welt: Men­schen brauchen nicht nur gerechte Sys­teme, son­dern z.B. auch Sinn, Ein­bindung in eine Gemein­schaft und einen ethis­chen Kom­pass, um gute und lebens­fre­undliche Entschei­dun­gen zu tre­f­fen. Und die befreiende Botschaft dabei ist, dass wir durch den Heili­gen Geist Verän­derung erfahren kön­nen, so dass unser Herz verän­dert wird.
    Liebe Grüsse Coni

    Reply
  2. LukasB

    DANKE Cor­nelia,
    für deine inter­es­san­ten Gedanken.
    Wo find­en wir gute Antworten auf deine echt guten Fragen:

    ‘Ich möchte die Welt­bilder der kri­tis­chen The­o­rien und des christlichen Glaubens ver­gle­ichen und zeigen, warum wir eine «Bet­ter Sto­ry» haben. Gle­ichzeit­ig möchte ich darüber nach­denken, wie eine bib­lis­che Gerechtigkeit ausse­hen kann und wie wir einen Glauben leben kön­nen, der in alle Bere­iche des Lebens ausstrahlt.”

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