Gerechtigkeit in der Spannung von Einheit und Diversität
Ich stehe vor dem Buffet einer Lodge in Namibia. Hier biegen sich die Tische, draussen sitzen zerlumpte Kinder, und ich frage mich im Stillen: Ist das gerecht? Viel lauter sind die Aktivistinnen der «Last Generation», welche sich auf die Strassen kleben und damit ihrem Unmut über die Klimaungerechtigkeit unüberhörbar Luft machen. Viele junge Menschen haben ein feines Gespür für Ungerechtigkeit und Vorurteile. Sie wollen nicht mitansehen, wie Minderheiten diskriminiert und beschimpft werden, wie die Umwelt achtlos zerstört wird und wie Kriege sich ausbreiten. Sie wollen sich einsetzen für eine Welt, in welcher die Einzigartigkeit jedes Menschen geachtet wird. Mit anderen Worten: Sie sehnen sich nach Gerechtigkeit!
Mit dieser Sehnsucht sind sie nicht allein: Gott selbst hat ein riesiges Herz für Gerechtigkeit. Die ganze Bibel spricht von Gottes grossem Plan, seine Welt wiederherzustellen, die er doch zu Beginn vollkommen gut und gerecht erschaffen hat. Nachdem er sein Volk aus Unterdrückung und Sklaverei befreit hat, setzt er sich für die Anliegen der Armen, der Unterdrückten und der Aussenseiter ein (2. Mose 22,20–26). Leider wählt sein Volk ganz andere Wege, aber Gott hält an seinem Plan fest, ganzheitliche Gerechtigkeit herzustellen, indem er einen Retter verspricht: «Siehe, mein Knecht, den ich halte, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat: […] Er wird nicht verzagen noch zusammenbrechen, bis er Gerechtigkeit auf Erden aufgerichtet hat.» (Jesaja 41,1.4) Jesus tritt dann seinen Job an, indem er seine Aufgabenbeschreibung öffentlich vorliest: Den Armen die gute Botschaft verkünden, Gefangene befreien, Blinde heilen und Zerschlagenen die Freiheit bringen (Lk 4,18–19).
Ich bin zutiefst überzeugt, dass Gott selbst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Frieden und Wiederherstellung in uns hineingelegt hat. Doch Gerechtigkeit ist gar nicht so einfach zu erreichen, wie allen Eltern, Lehrpersonen oder Arbeitsgebern schmerzlich bewusst ist: Erreicht man Gerechtigkeit beim Eingehen auf die Bedürfnisse des Einzelnen oder auf die Interessen der Gruppe? Sollen alle Menschen die gleichen Startmöglichkeiten erhalten, oder ist Gerechtigkeit erst bei Ergebnisgleichheit erreicht? Was liegt in der Verantwortung der Betroffenen, und wofür ist die Gemeinschaft zuständig? Und wo liegt die Grenze zwischen zentralen Bedürfnissen und illusorischen Wünschen?
Bereits hier wird klar, dass es die Gerechtigkeit nicht gibt. Meine Definition von Gerechtigkeit hängt stark von meinem Weltbild [1] ab: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist das Grundproblem der Menschheit und wie kann es gelöst werden? Wie kann Leben gelingen? Auf all diese Fragen hat meiner Meinung nach der christliche Glauben die schönsten und befreiendsten Antworten. Diese stehen aber in einer pluralistischen Welt in Konkurrenz mit vielen anderen Lebensphilosophien.
Für mich ist der Baptistenpastor und Vorkämpfer für Menschenrechte Martin Luther King ein grosses Vorbild. In seiner berühmten Rede «I have a dream» rief er der Volksmenge zu:
«Ich habe den Traum, dass eines Tages die Söhne der früheren Sklaven und die Söhne der früheren Sklavenhalter sich auf den roten Hügeln Georgias gemeinsam an den Tisch der Brüderschaft werden setzen können.» [2]
King war überzeugt, dass eine Einheit möglich ist, welche alle Grenzen überwindet. Doch es ist eine traurige Tatsache, dass es 60 Jahre nach Kings Rede noch immer viel zu viele Menschen gibt, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer Sexualität benachteiligt, beschimpft und an den Rand gedrängt werden. Genau hier liegt die Ursache für die aufkommende Identitätspolitik, welche sich von Kings Vision abwendet und bestreitet, dass Einheit und «gleiche Rechte für alle» eine Lösung sein kann. Im Gegenteil, die Diversität soll betont und gefeiert werden, denn Minderheiten bräuchten besondere Aufmerksamkeit, um aus ihrer Marginalisierung ausbrechen zu können. Diese neuen Ideen werden oft auch als «woke», «neomarxistisch» oder «links-identitär» bezeichnet, in diesem Blog werde ich meist von «kritischen (Gesellschafts-)Theorien» sprechen. [3]
Während sich vor allem junge Intellektuelle von diesen Ideologien begeistern lassen, beobachte ich viele Menschen, die den aufkommenden Ideen von Antirassismus, «Queers for Palestine» oder der LGBTQ+-Community ziemlich ratlos gegenüberstehen. Das ist der Grund, weshalb die Debatte oft polemisch verläuft.
Als Mutter und Pastorin bereitet es mir Sorgen, dass junge Menschen aus unseren Kirchen das Weltbild der kritischen Theorien aufnehmen und dabei Stück für Stück ihren Glauben verlieren. Ausserdem teile ich mit vielen anderen die Ansicht, dass die kritischen Theorien nicht halten, was sie versprechen: Statt eines Zusammenrückens beobachten wir eine Zersplitterung der Gesellschaft in einzelne Bubbles mit klaren Feindbildern und einer Cancel Culture. [4] Doch wenn wir mit Andersdenkenden auf Augenhöhe unterwegs sein wollen, helfen uns Empörung und Polemik nicht weiter. Junge Menschen, welche diese Ideen aufnehmen, tun dies meist aus Sehnsucht nach einer gerechteren Welt. Und mit dieser Sehnsucht müssen wir sie als Kirchen nicht allein lassen!
Wir haben einen Gott, der jeden einzelnen Menschen wunderbar und einzigartig gemacht hat (Psalm 139,14). Wir haben einen Gott, der den Einzelnen sieht (1. Mose 16,13). Wir haben einen Gott, der jede Träne auffängt (Psalm 56,9). Wir haben einen Gott, der sich leidenschaftlich für Gerechtigkeit einsetzt (Psalm 9,12–13). Wir haben einen Gott, der sich selbst klein gemacht hat und sich mit unserem Leid und unserer Not identifiziert (Jesaja 53,4). Wir haben einen Gott, der uns durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung in die Lage versetzt, seinem Auftrag in dieser Welt zu folgen (Epheser 3,20). Und wir haben eine Hoffnung, sowohl für diese Welt, als auch für eine zukünftige Welt, in der vollkommene Gerechtigkeit herrschen wird. Als Christen haben wir einen ganzheitlichen, realistischen und hoffnungsvollen Blick auf Gerechtigkeit. Wir haben tatsächlich eine gute Nachricht! Gott möchte seine Kirche heute neu anzünden mit seiner Leidenschaft für eine gerechte Welt. Und ich bin überzeugt, dass er dafür insbesondere die nächste Generation gebrauchen will.
In diesem Blog geht es mir einerseits darum, die Ideen hinter den kritischen Theorien zu verstehen. Ich möchte die Weltbilder der kritischen Theorien und des christlichen Glaubens vergleichen und zeigen, warum wir eine «Better Story» haben. Gleichzeitig möchte ich darüber nachdenken, wie eine biblische Gerechtigkeit aussehen kann und wie wir einen Glauben leben können, der in alle Bereiche des Lebens ausstrahlt.
[1] Ein Überblick über verbreitete Weltbilder findet sich in: Sire, James W. (2020): The Universe next door, InterVarsity Press.
[2] Martina Luther King Jr., I Have a Dream, 28. August 1963. Deutsche Fassung abrufbar unter: kifile:///C:/Users/andre/AppData/Local/Temp/MicrosoftEdgeDownloads/500f9f3b-5411–4a32-add4-8242f1fce445/king-deutsch.pdfng-deutsch.pdf [04.09.2024]
[3] Die Forschenden und Vertreter dieser Ideen wollen sich selbst kein «Etikett» verpassen, weshalb die Begriffe «woke» oder «Identitätspolitik» von ihnen oft als Schmähwort einer reaktionären Rechten dargestellt werden. Es wäre im Sinne einer Versachlichung der Debatte wünschenswert, wenn sich ein werteneutraler Begriff durchsetzen würde. Shenvi (2023) schlägt in Critical Dilemma den Begriff «Critical Social Theory», also «kritische Gesellschaftstheorie» vor, dies in Abgrenzung zu den «kritischen Theorien» der Frankfurter Schule (S. 28), Mounk (2024) wählt in Zeitalter der Identität dafür den Begriff der «Identitätssynthese» (S. 29), während Pluckrose und Lindsay (2022) in Zynische Theorien ganz einfach den Begriff «Theorie» wählen.
[4] Von christlicher Seite: z.B. Shenvi und Sawyer (2023): Critical Dilemma, Harvest House. Von liberaler Seite z.B. Pluckrose und Lindsay (2022): Zynische Theorien, C.H. Beck oder Mounk (2024): Im Zeitalter der Identität, Klett-Cotta.
Lieber Lukas
Ich versuche in loser Folge, in den nächsten Wochen und Monaten auf einige dieser Aspekte einzugehen. Ich glaube insbesondere, dass wir eine “Better Story” haben in den Bereichen von Identität, Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Eine “kritische” Gerechtigkeit möchte vor allem Systeme verändern und damit Ergebnisgleichheit (oder Equity) in allen Bereichen erreichen. Dies ist aber eine sehr einseitige Sichtweise auf Gerechtigkeit. Die Bibel sieht vielmehr sehr unterschiedliche Ursachen für die Ungerechtigkeit in dieser Welt: Menschen brauchen nicht nur gerechte Systeme, sondern z.B. auch Sinn, Einbindung in eine Gemeinschaft und einen ethischen Kompass, um gute und lebensfreundliche Entscheidungen zu treffen. Und die befreiende Botschaft dabei ist, dass wir durch den Heiligen Geist Veränderung erfahren können, so dass unser Herz verändert wird.
Liebe Grüsse Coni
DANKE Cornelia,
für deine interessanten Gedanken.
Wo finden wir gute Antworten auf deine echt guten Fragen:
‘Ich möchte die Weltbilder der kritischen Theorien und des christlichen Glaubens vergleichen und zeigen, warum wir eine «Better Story» haben. Gleichzeitig möchte ich darüber nachdenken, wie eine biblische Gerechtigkeit aussehen kann und wie wir einen Glauben leben können, der in alle Bereiche des Lebens ausstrahlt.”