In den letzten Monaten konnte man immer wieder Bilder mit Demonstranten sehen, welche Plakate mittragen wie: «Queers for Palestine» oder «No Climate Justice in Apartheid». Viele Menschen schütteln den Kopf und fragen sich, was denn die Klimabewegung und die LGBTQ+-Community mit islamistischen Extremisten verbindet. Dieser Grundlageartikel versucht, diese Bilder einzuordnen.
Queers for Palestine (Bild: Kurayba, Flickr).
Ich beobachte momentan mit einiger Sorge, wie insbesondere intelligente und sozial engagierte christliche Jugendliche von den woken Ideologien, auch kritische Theorien genannt, angezogen werden. Diese Jugendlichen haben ein grosses Herz für Menschen und wollen etwas bewirken gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Wie das Foto oben zeigt, sind Anhänger der kritischen Theorien oft aktivistisch, sie wollen Unrecht in dieser Welt nicht einfach so hinnehmen, und das zieht junge Menschen an. Gerechtigkeit ist genauso ein Kernanliegen des christlichen Glaubens. Und doch unterscheiden sich der christliche Glauben und die Überzeugungen von woken Aktivisten in vielen Punkten stark. Um miteinander ins Gespräch zu kommen, brauchen wir dringend Hintergrundwissen über die Grundideen der kritischen Theorien. Die hier vorgestellten Grundideen sind alle im Bild oben (Queers for Palestine) erkennbar. Sie wurden dem sehr empfehlenswerten Buch Critical Dilemma von Neil Shenvi und Pat Sawyer[1] entnommen und werden hier erstmals ohne Wertung vorgestellt:
- Die woken Ideologien sehen die Ursache für Ungerechtigkeit in den herrschenden Machtverhältnissen. Sie betrachten die Welt als aufgeteilt in Gruppenidentitäten von Menschen, die unterdrückt sind, und Menschen, welche andere unterdrücken. So werden Weisse als Unterdrücker, PoC[2] oder Migranten als Unterdrückte betrachtet. Männer sind Unterdrücker, Frauen (bzw. FINTA-Personen[3]) sind unterdrückt, Heterosexuelle Cis-Menschen[4] sind Unterdrücker, wer sich zu LGBTQ+ zählt, ist unterdrückt etc.
- Aus diesem Blickwinkel betrachtet bringt es nichts, nur eine Unterdrückungsform, wie z.B. das Patriarchat, zu bekämpfen. Ansonsten profitieren beispielsweise vor allem privilegierte weisse Frauen, während Musliminnen oder Transfrauen leer ausgehen. Aus diesem Grund müssen alle Unterdrückungsformen gleichzeitig bekämpft werden. Dieses Prinzip wird Intersektionalität genannt. Es ist die Überzeugung, dass alle Formen der Unterdrückung zutiefst miteinander verwoben sind. Die Transparente «Queers for Palestine» bringen das zum Ausdruck: Der israelische Kolonialismus und die herrschende Heteronormativität können nicht voneinander getrennt bekämpft werden.
- Gleichzeitig wird die Linie zwischen «gut und böse» entlang der Identitäten gezogen: Israel ist die Kolonialmacht und daher Täter und schuldig. Die Palästinenser sind unterdrückt, und daher unschuldige Opfer, mit denen man sich solidarisieren muss. Die Taten der Opfer am 7. Oktober 2023 werden zwar nur von wenigen Aktivisten bejubelt, aber sie werden von vielen psychologisch erklärt und damit entschuldigt. In den kritischen Theorien gelten damit unterschiedliche Massstäbe, je nach dem, ob jemand zu den Unterdrückern oder zu den Unterdrückten gehört.
- Aktivisten der kritischen Theorien behaupten dabei nicht, dass jeder Israeli ein bösartiger Mensch ist. Aber die Israeli als Kolonialmacht sind Teil eines unterdrückerischen Systems, genauso wie heterosexuelle Cis-Menschen Teil dieses unterdrückerischen Systems sind. Wer an der Macht ist, verhält sie sich «automatisch» so, dass seine Privilegien erhalten oder sogar vergrössern werden. Die dominanten Gruppen nutzen ihren Einfluss und prägen die gesellschaftlichen Werte und Systeme. Damit haben sie einen grossen Einfluss darauf, was als «normal und richtig» betrachtet wird, und was als «abnormal und falsch». Dies nennt man hegemoniale Macht.
- Kritische postmoderne Denker wie Foulcault erklären aufgrund dessen, dass die momentan herrschenden «Wahrheiten», das «Normal» in einer Gesellschaft, nicht objektiv richtig ist, sondern sich durch die Hegemonie durchgesetzt hat. Normen und Regeln einer Gesellschaft dienen daher nach Ansicht der kritischen Theorien einzig dazu, bestehende Machtverhältnisse zu erhalten. Dies erklärt, weshalb die Anhänger der kritischen Theorien dem Christentum so kritisch gegenüberstehen: Die Kirche wird als hegemoniales Machtsystem betrachtet, welches durch ihre Werte (wie z.B. der Hochachtung der Familie oder dem Lebensschutz) alles daran setzt, das heteronormative Patriarchat weiter an der Macht zu erhalten. Daher besteht ein wichtiger Teil des linken Aktivismus darin, sämtliche bestehenden Normen zu dekonstruieren, damit die Machtverhältnisse gekippt werden.[AS1]
- Als machtvolles Instrument dafür wird die Sprache betrachtet. Es wird stark auf eine woke und inklusive Sprache geachtet, weil Sprache (laut Foucault) «Wirklichkeit» erschafft und damit die Kraft hat, den Status Quo zu verändern. Die gelebte Erfahrung von Menschen aus Opfergruppen gelten dabei als die einzigen «wahren» Erkenntnisse. Dabei spielt der Grad der Intersektionalität eine wichtige Rolle, also in wie vielen Bereichen eine Person zu einer unterdrückten Identität gehört. Eine lesbische Palästinenserin im Rollstuhl hat laut dieser Weltanschauung einen viel unverstellteren Blick auf die Wirklichkeit, als dies ein weisser Mann jemals haben kann.
Die Darstellung unten illustriert diese Ideen: Die Welt wird durch die Brille von Macht und Ohnmacht betrachtet. Gerechtigkeit wird es erst geben, wenn jedes unterdrückerische System abgeschafft worden ist. Als machtvolles Mittel dazu wird die Sprache eingestuft, Geschichten von Unterdrückten decken die ungerechten Machtverhältnisse auf und haben das Potential, hegemoniale Normen zu durchbrechen.
Eigene Darstellung
Die Grundideen der kritischen Theorien bilden eine Weltanschauung bzw. ein Metanarrativ. Sie geben eine stimmige Erklärung für die herrschende Ungerechtigkeit und bieten die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Davon werden einerseits Menschen angezogen, die sich selbst als Unterdrückte sehen. Es werden aber auch empathische junge Menschen angesprochen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen wollen.
In diesem Blog ist es mir wichtig, im Dialog mit Menschen zu sein. Das bedeutet für mich, dass ich dem anderen erstmals «unterstelle», dass er grundsätzlich gute Absichten hat[5]. Wenn ich in meinem Blog unterschiedliche Thematiken der KT beleuchte, so mache ich dies mit den folgenden Prämissen:
- Wie jede Weltanschauung enthalten auch die kritischen Theorien Aspekte, die wir als Christen bejahen: Wir haben einen Gott, der sich leidenschaftlich für Gerechtigkeit einsetzt, der auf der Seite der Ausgestossenen, der Armen und der Gefangenen steht.
- Weil die Ursachen für die Ungerechtigkeit, wie die kritischen Theorien sie sehen, einseitig sind, führt dies zu einer einseitigen Weltanschauung. Dies zeigt sich in den vielen inneren Widersprüchen, welche die Ideen der KT mit sich bringen. In diesem Blog wird es immer wieder um diese Dissonanzen gehen.
- Der einseitige Ansatz der kritischen Theorien, der sich auf die Machtverhältnisse konzentriert, ist nicht in der Lage, die Welt nachhaltig zu verbessern. Mehr noch, die Aktivitäten der woken Ideologien haben teilweise massiv schädliche Auswirkungen auf den Einzelnen und auf die gesamte Gesellschaft.
- Doch es ist zu einfach, nur die Fehler der anderen anzukreiden. Unser Ziel besteht immer darin, zu zeigen, welchen Mehrwert das Evangelium hat[6].
In diesem Blog möchte ich aufzeigen, dass die KT nicht halten, was sie versprechen. Mein Hauptkritikpunkt ist, dass die kritischen Theorien negative Auswirkungen auf unsere Beziehungen und auf die Gemeinschaft haben. Dies sehen nicht nur Christen so, sondern es ist auch eine Hauptsorge von vielen anderen Denkern, welche den woken Ideologien kritisch gegenüberstehen. Die liberale Publizistin Helen Pluckrose fällt in ihrem Buch Zynische Theorien (2022) das vernichtende Urteil (S. 103):
„Durch den Versuch, die Menschheit in marginalisierte Identitätsgruppen und ihre Unterdrücker zu spalten, geht die Bewegung [der kritischen Gesellschaftstheorien] das Risiko ein, unsere niedrigsten Instinkte zu wecken: Stammesdenken und Rachesucht.“
Doch ich möchte noch mehr: Ich möchte dem die beste aller Nachrichten entgegenhalten, die Einladung an Gottes Tisch, welche jedem einzelnen Menschen gilt.
Der dreieinige Gott, der eine liebevolle Einheit in Vielfalt ist, lädt jeden in seiner Einzigartigkeit ein, an seinen gedeckten Tisch. Diese liebevolle Gemeinschaft, wo jeder dem anderen dient und vom anderen empfängt, hat eine unglaubliche Anziehungskraft und weist auf Jesus hin, gerade in einer Welt, die in immer kleinere Gruppen zerfällt.
Mein Wunsch und mein Gebet ist, dass Menschen, welche mit den Ideen der kritischen Theorien sympathisieren, erkennen, wie viel besser und wie viel ganzheitlicher und heilsamer die Botschaft ist, die wir mit Jesus haben. Mein Wunsch ist aber genauso, dass wir als Pastoren, Jugendleiter und Eltern sprachfähig werden, damit diese gute Nachricht Kreise zieht.
[1] Shenvi, Neil and Pat Sawyer (2023): Critical Dilemma, Eugene: Harvest House.
[2] PoC: People of Colour, also Farbige
[3] FINTA: Frauen, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans- und agender Personen
[4] Der Begriff Cis bezeichnet Menschen, bei welchen das biologische Geschlecht (Sex) und das empfundene Geschlecht (Gender) übereinstimmen.
[5] Leider gibt es auch Aktivisten der kritischen Theorien, die einen Hass auf das Christentum haben und zu keinem Dialog bereit sind. Nach meiner Erfahrung sind aber die meisten Menschen sehr offen und sogar dankbar für Diskussionen auf Augenhöhe.
[6] Ich vertrete dabei den Ansatz der kontextuellen Kommunikation, wie sie Timothy Keller ins seinem Buch Predigen (2017) vorschlägt (S. 93): «Kontextualisierung heisst, auf die Kultur, zu der ich predige, einzugehen und sie gleichzeitig infrage zu stellen. Es heisst, die Götzen einer Gesellschaft blossstellen, während man gleichzeitig den Menschen in ihr und ihren Hoffnungen und Sehnsüchten mit Achtung begegnet.» Sein Vorgehen, welches mich in diesem Blog inspiriert, beschreibt er folgendermassen (S. 108ff.): «Als erstes müssen wir die kulturellen Prämissen und Denkmuster so gut beschreiben, dass sie für unsere Zuhörer «sichtbar» werden. Zweitens müssen wir anhand der Bibel klarstellen, was wir an diesen Prämissen bejahen können. Und anschliessend müssen wir die Denkmuster kritisieren, und dies auf verschiedene Weisen. […] Um den Kontextualisierungsprozess abzuschliessen, müssen wir unseren Zuhörern zeigen, dass und wie der christliche Glaube uns den Schlüssel in die Hand gibt, um diese Probleme zu lösen. […]» Und zwar nicht, indem wir Menschen auffordern, sich mehr anzustrengen, sondern indem wir ihnen grösser machen, was Christus für uns tun möchte.
Titelbild: Queers for Palestine (Bild: Kurayba, Flickr).
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