Wer erklärt mir bitte «Queers for Palestine»? – Ein Überblick über die kritischen Theorien

Lesezeit: 6 Minuten
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by Cornelia Schum | 01. Okt. 2024 | 0 comments

In den let­zten Monat­en kon­nte man immer wieder Bilder mit Demon­stran­ten sehen, welche Plakate mit­tra­gen wie: «Queers for Pales­tine» oder «No Cli­mate Jus­tice in Apartheid». Viele Men­schen schüt­teln den Kopf und fra­gen sich, was denn die Klimabe­we­gung und die LGBTQ+-Community mit islamistis­chen Extrem­is­ten verbindet. Dieser Grund­lageartikel ver­sucht, diese Bilder einzuordnen.

Queers for Pales­tine (Bild: Kuray­ba, Flickr).

Ich beobachte momen­tan mit einiger Sorge, wie ins­beson­dere intel­li­gente und sozial engagierte christliche Jugendliche von den wok­en Ide­olo­gien, auch kri­tis­che The­o­rien genan­nt, ange­zo­gen wer­den. Diese Jugendlichen haben ein gross­es Herz für Men­schen und wollen etwas bewirken gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Wie das Foto oben zeigt, sind Anhänger der kri­tis­chen The­o­rien oft aktivis­tisch, sie wollen Unrecht in dieser Welt nicht ein­fach so hin­nehmen, und das zieht junge Men­schen an. Gerechtigkeit ist genau­so ein Ker­nan­liegen des christlichen Glaubens. Und doch unter­schei­den sich der christliche Glauben und die Überzeu­gun­gen von wok­en Aktivis­ten in vie­len Punk­ten stark. Um miteinan­der ins Gespräch zu kom­men, brauchen wir drin­gend Hin­ter­grund­wis­sen über die Grun­dideen der kri­tis­chen The­o­rien. Die hier vorgestell­ten Grun­dideen sind alle im Bild oben (Queers for Pales­tine) erkennbar. Sie wur­den dem sehr empfehlenswerten Buch Crit­i­cal Dilem­ma von Neil Shen­vi und Pat Sawyer[1] ent­nom­men und wer­den hier erst­mals ohne Wer­tung vorgestellt:

  • Die wok­en Ide­olo­gien sehen die Ursache für Ungerechtigkeit in den herrschen­den Machtver­hält­nis­sen. Sie betra­cht­en die Welt als aufgeteilt in Grup­peniden­titäten von Men­schen, die unter­drückt sind, und Men­schen, welche andere unter­drück­en. So wer­den Weisse als Unter­drück­er, PoC[2] oder Migranten als Unter­drück­te betra­chtet. Män­ner sind Unter­drück­er, Frauen (bzw. FIN­TA-Per­so­n­en[3]) sind unter­drückt, Het­ero­sex­uelle Cis-Men­schen[4] sind Unter­drück­er, wer sich zu LGBTQ+ zählt, ist unter­drückt etc.

  • Aus diesem Blick­winkel betra­chtet bringt es nichts, nur eine Unter­drück­ungs­form, wie z.B. das Patri­ar­chat, zu bekämpfen. Anson­sten prof­i­tieren beispiel­sweise vor allem priv­i­legierte weisse Frauen, während Mus­lim­in­nen oder Trans­frauen leer aus­ge­hen. Aus diesem Grund müssen alle Unter­drück­ungs­for­men gle­ichzeit­ig bekämpft wer­den. Dieses Prinzip wird Inter­sek­tion­al­ität genan­nt. Es ist die Überzeu­gung, dass alle For­men der Unter­drück­ung zutief­st miteinan­der ver­woben sind. Die Trans­par­ente «Queers for Pales­tine» brin­gen das zum Aus­druck: Der israelis­che Kolo­nial­is­mus und die herrschende Het­ero­nor­ma­tiv­ität kön­nen nicht voneinan­der getren­nt bekämpft werden.

  • Gle­ichzeit­ig wird die Lin­ie zwis­chen «gut und böse» ent­lang der Iden­titäten gezo­gen: Israel ist die Kolo­nial­macht und daher Täter und schuldig. Die Palästi­nenser sind unter­drückt, und daher unschuldige Opfer, mit denen man sich sol­i­darisieren muss. Die Tat­en der Opfer am 7. Okto­ber 2023 wer­den zwar nur von weni­gen Aktivis­ten bejubelt, aber sie wer­den von vie­len psy­chol­o­gisch erk­lärt und damit entschuldigt. In den kri­tis­chen The­o­rien gel­ten damit unter­schiedliche Massstäbe, je nach dem, ob jemand zu den Unter­drück­ern oder zu den Unter­drück­ten gehört.

  • Aktivis­ten der kri­tis­chen The­o­rien behaupten dabei nicht, dass jed­er Israeli ein bösar­tiger Men­sch ist. Aber die Israeli als Kolo­nial­macht sind Teil eines unter­drück­erischen Sys­tems, genau­so wie het­ero­sex­uelle Cis-Men­schen Teil dieses unter­drück­erischen Sys­tems sind. Wer an der Macht ist, ver­hält sie sich «automa­tisch» so, dass seine Priv­i­legien erhal­ten oder sog­ar ver­grössern wer­den. Die dom­i­nan­ten Grup­pen nutzen ihren Ein­fluss und prä­gen die gesellschaftlichen Werte und Sys­teme. Damit haben sie einen grossen Ein­fluss darauf, was als «nor­mal und richtig» betra­chtet wird, und was als «abnor­mal und falsch». Dies nen­nt man hege­mo­ni­ale Macht.

  • Kri­tis­che post­mod­erne Denker wie Foul­cault erk­lären auf­grund dessen, dass die momen­tan herrschen­den «Wahrheit­en», das «Nor­mal» in ein­er Gesellschaft, nicht objek­tiv richtig ist, son­dern sich durch die Hege­monie durchge­set­zt hat. Nor­men und Regeln ein­er Gesellschaft dienen daher nach Ansicht der kri­tis­chen The­o­rien einzig dazu, beste­hende Machtver­hält­nisse zu erhal­ten. Dies erk­lärt, weshalb die Anhänger der kri­tis­chen The­o­rien dem Chris­ten­tum so kri­tisch gegenüber­ste­hen: Die Kirche wird als hege­mo­ni­ales Macht­sys­tem betra­chtet, welch­es durch ihre Werte (wie z.B. der Hochachtung der Fam­i­lie oder dem Lebenss­chutz) alles daran set­zt, das het­ero­nor­ma­tive Patri­ar­chat weit­er an der Macht zu erhal­ten. Daher beste­ht ein wichtiger Teil des linken Aktivis­mus darin, sämtliche beste­hen­den Nor­men zu dekon­stru­ieren, damit die Machtver­hält­nisse gekippt wer­den.[AS1] 

  • Als machtvolles Instru­ment dafür wird die Sprache betra­chtet. Es wird stark auf eine woke und inklu­sive Sprache geachtet, weil Sprache (laut Fou­cault) «Wirk­lichkeit» erschafft und damit die Kraft hat, den Sta­tus Quo zu verän­dern. Die gelebte Erfahrung von Men­schen aus Opfer­grup­pen gel­ten dabei als die einzi­gen «wahren» Erken­nt­nisse. Dabei spielt der Grad der Inter­sek­tion­al­ität eine wichtige Rolle, also in wie vie­len Bere­ichen eine Per­son zu ein­er unter­drück­ten Iden­tität gehört. Eine les­bis­che Palästi­nenserin im Roll­stuhl hat laut dieser Weltan­schau­ung einen viel unver­stell­teren Blick auf die Wirk­lichkeit, als dies ein weiss­er Mann jemals haben kann.

Die Darstel­lung unten illus­tri­ert diese Ideen: Die Welt wird durch die Brille von Macht und Ohn­macht betra­chtet. Gerechtigkeit wird es erst geben, wenn jedes unter­drück­erische Sys­tem abgeschafft wor­den ist. Als machtvolles Mit­tel dazu wird die Sprache eingestuft, Geschicht­en von Unter­drück­ten deck­en die ungerecht­en Machtver­hält­nisse auf und haben das Poten­tial, hege­mo­ni­ale Nor­men zu durchbrechen.

Eigene Darstel­lung

Die Grun­dideen der kri­tis­chen The­o­rien bilden eine Weltan­schau­ung bzw. ein Meta­nar­ra­tiv. Sie geben eine stim­mige Erk­lärung für die herrschende Ungerechtigkeit und bieten die Möglichkeit, selb­st aktiv zu wer­den und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Davon wer­den ein­er­seits Men­schen ange­zo­gen, die sich selb­st als Unter­drück­te sehen. Es wer­den aber auch empathis­che junge Men­schen ange­sprochen, die sich für Gerechtigkeit ein­set­zen wollen.

In diesem Blog ist es mir wichtig, im Dia­log mit Men­schen zu sein. Das bedeutet für mich, dass ich dem anderen erst­mals «unter­stelle», dass er grund­sät­zlich gute Absicht­en hat[5]. Wenn ich in meinem Blog unter­schiedliche The­matiken der KT beleuchte, so mache ich dies mit den fol­gen­den Prämissen:

  1. Wie jede Weltan­schau­ung enthal­ten auch die kri­tis­chen The­o­rien Aspek­te, die wir als Chris­ten beja­hen: Wir haben einen Gott, der sich lei­den­schaftlich für Gerechtigkeit ein­set­zt, der auf der Seite der Aus­gestosse­nen, der Armen und der Gefan­genen steht.
  2. Weil die Ursachen für die Ungerechtigkeit, wie die kri­tis­chen The­o­rien sie sehen, ein­seit­ig sind, führt dies zu ein­er ein­seit­i­gen Weltan­schau­ung. Dies zeigt sich in den vie­len inneren Wider­sprüchen, welche die Ideen der KT mit sich brin­gen. In diesem Blog wird es immer wieder um diese Dis­so­nanzen gehen.
  3. Der ein­seit­ige Ansatz der kri­tis­chen The­o­rien, der sich auf die Machtver­hält­nisse konzen­tri­ert, ist nicht in der Lage, die Welt nach­haltig zu verbessern. Mehr noch, die Aktiv­itäten der wok­en Ide­olo­gien haben teil­weise mas­siv schädliche Auswirkun­gen auf den Einzel­nen und auf die gesamte Gesellschaft.
  4. Doch es ist zu ein­fach, nur die Fehler der anderen anzukrei­den. Unser Ziel beste­ht immer darin, zu zeigen, welchen Mehrw­ert das Evan­geli­um hat[6].

In diesem Blog möchte ich aufzeigen, dass die KT nicht hal­ten, was sie ver­sprechen. Mein Haup­tkri­tikpunkt ist, dass die kri­tis­chen The­o­rien neg­a­tive Auswirkun­gen auf unsere Beziehun­gen und auf die Gemein­schaft haben. Dies sehen nicht nur Chris­ten so, son­dern es ist auch eine Haupt­sorge von vie­len anderen Denkern, welche den wok­en Ide­olo­gien kri­tisch gegenüber­ste­hen. Die lib­erale Pub­lizistin Helen Pluck­rose fällt in ihrem Buch Zynis­che The­o­rien (2022) das ver­nich­t­ende Urteil (S. 103):

„Durch den Ver­such, die Men­schheit in mar­gin­al­isierte Iden­titäts­grup­pen und ihre Unter­drück­er zu spal­ten, geht die Bewe­gung [der kri­tis­chen Gesellschaft­s­the­o­rien] das Risiko ein, unsere niedrig­sten Instink­te zu weck­en: Stammes­denken und Rachesucht.“

Doch ich möchte noch mehr: Ich möchte dem die beste aller Nachricht­en ent­ge­gen­hal­ten, die Ein­ladung an Gottes Tisch, welche jedem einzel­nen Men­schen gilt.

Der dreieinige Gott, der eine liebevolle Ein­heit in Vielfalt ist, lädt jeden in sein­er Einzi­gar­tigkeit ein, an seinen gedeck­ten Tisch. Diese liebevolle Gemein­schaft, wo jed­er dem anderen dient und vom anderen empfängt, hat eine unglaubliche Anziehungskraft und weist auf Jesus hin, ger­ade in ein­er Welt, die in immer kleinere Grup­pen zerfällt.

Mein Wun­sch und mein Gebet ist, dass Men­schen, welche mit den Ideen der kri­tis­chen The­o­rien sym­pa­thisieren, erken­nen, wie viel bess­er und wie viel ganzheitlich­er und heil­samer die Botschaft ist, die wir mit Jesus haben. Mein Wun­sch ist aber genau­so, dass wir als Pas­toren, Jugendleit­er und Eltern sprach­fähig wer­den, damit diese gute Nachricht Kreise zieht.


[1] Shen­vi, Neil and Pat Sawyer (2023): Crit­i­cal Dilem­ma, Eugene: Har­vest House.

[2] PoC: Peo­ple of Colour, also Farbige

[3] FINTA: Frauen, intergeschlechtliche, nicht­binäre, trans- und agen­der Personen

[4] Der Begriff Cis beze­ich­net Men­schen, bei welchen das biol­o­gis­che Geschlecht (Sex) und das emp­fun­dene Geschlecht (Gen­der) übereinstimmen.

[5] Lei­der gibt es auch Aktivis­ten der kri­tis­chen The­o­rien, die einen Hass auf das Chris­ten­tum haben und zu keinem Dia­log bere­it sind. Nach mein­er Erfahrung sind aber die meis­ten Men­schen sehr offen und sog­ar dankbar für Diskus­sio­nen auf Augenhöhe.

[6] Ich vertrete dabei den Ansatz der kon­textuellen Kom­mu­nika­tion, wie sie Tim­o­thy Keller ins seinem Buch Predi­gen (2017) vorschlägt (S. 93): «Kon­tex­tu­al­isierung heisst, auf die Kul­tur, zu der ich predi­ge, einzuge­hen und sie gle­ichzeit­ig infrage zu stellen. Es heisst, die Götzen ein­er Gesellschaft blossstellen, während man gle­ichzeit­ig den Men­schen in ihr und ihren Hoff­nun­gen und Sehn­sücht­en mit Achtung begeg­net.» Sein Vorge­hen, welch­es mich in diesem Blog inspiri­ert, beschreibt er fol­gen­der­massen (S. 108ff.): «Als erstes müssen wir die kul­turellen Prämis­sen und Denkmuster so gut beschreiben, dass sie für unsere Zuhör­er «sicht­bar» wer­den. Zweit­ens müssen wir anhand der Bibel klarstellen, was wir an diesen Prämis­sen beja­hen kön­nen. Und anschliessend müssen wir die Denkmuster kri­tisieren, und dies auf ver­schiedene Weisen. […] Um den Kon­tex­tu­al­isierung­sprozess abzuschliessen, müssen wir unseren Zuhör­ern zeigen, dass und wie der christliche Glaube uns den Schlüs­sel in die Hand gibt, um diese Prob­leme zu lösen. […]» Und zwar nicht, indem wir Men­schen auf­fordern, sich mehr anzus­tren­gen, son­dern indem wir ihnen gröss­er machen, was Chris­tus für uns tun möchte.


Titel­bild: Queers for Pales­tine (Bild: Kuray­ba, Flickr).

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Cornelia Schum

Cornelia Schum, Jg. 1979, blüht auf, wenn sie in Diskussionen über Themen wie den Wert des Lebens, Gerechtigkeit oder die Umwelt verwickelt wird. Ihr Anliegen ist, dass Eltern und Leitende in brisanten gesellschaftlichen Themen sprachfähig werden. Sie hat Geografie, Mathematik und Theologie studiert, arbeitet im kirchlichen Bereich und macht ab und zu Stellvertretungen am Gymi. Sie lebt mit ihrem Mann Andi und ihren vier Töchtern in Sursee.

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