Junge Menschen mögen es eigentlich, wenn man offen und klar mit ihnen kommuniziert. Kirchliche Leiter halten sich aber in ihrer Kommunikation von Glaubensinhalten oft an eine Strategie der Ausklammerung schwieriger Themen. Das ist ein Problem. Denn lückenhaftes Wissen über Gott und eine fehlende, liebevolle Konfrontation lassen viele junge Menschen unzufrieden zurück.
Über viele Jahre hinweg durfte ich eine sehr aktive und zeitweise äusserst erfolgreiche regionale Jugendarbeit mitprägen. Wir feierten jeden Monat mit hunderten von Jugendlichen einen Gottesdienst. Wir machten Camps in Spanien und in den Bergen. Wir liebten es, grosse Projekte anzureissen wie Konzerte und dergleichen. Wir experimentierten mit diversen Formen von Evangelisation, Jüngerschaft und Leiterförderung. Über 15 Jahre hinweg (1998–2013) gab es im Raum Frauenfeld kein Vorbeikommen am dynamischen und stets sich wandelnden Gesicht des Godi Frauenfeld. Manchmal erreichen mich auch heute noch Berichte aus jener Zeit. Wie zum Beispiel der Bericht von Simon.
Warum hat mir das niemand gesagt?
Der junge Mann hiess Simon (Name geändert). Simon hatte seine Kindheit und seine Jugendjahre in unserem lebhaften Umfeld verbracht. Er war in einer unserer Kirchen vor Ort aufgewachsen und wirkte zwischenzeitlich in unserem Jugendgottesdienst mit. Er war einer derer, die man einfach gern haben musste, der aber grosse Mühe hatte, den Rank im Leben zu finden. Die Lehre in der Baubranche brach er von einem Tag auf den anderen leider ab. Seine romantische Ader liess zu, dass er sich Hals über Kopf verlieben konnte, und es dann auch kein Zurück mehr gab.
Mit dem Ende der Godi Jugendarbeit im Jahr 2013 verlor ich Simon aus den Augen. Gott sei Dank, dass er scheinbar seither Orientierung und Stabilität gefunden hat und eine Person wurde, welche mit grosser Ernsthaftigkeit Jesus nachfolgen möchte. Er hat inzwischen geheiratet und geht in eine eher konservative Kirche, in welcher er sich zuhause fühlt.
Nach längerer Funkstille kamen wir im Jahr 2019 wieder ins Gespräch. Simon teilte mir mit, dass er sein Glaubenszeugnis aufgeschrieben hat und mir gerne zum Lesen geben möchte. Ich habe das mit Freude getan und war erstaunt über den Umfang des Zeugnisses. Im Bericht über seine Neuorientierung äusserte Simon bezüglich seinem ehemaligen Umfeld und der Kirche seiner Kindheit und Jugend auch zwei Klagen:
- Warum hat niemand mir gesagt, wie Gott wirklich ist?
- Warum hat niemand mich mit meinen Sünden konfrontiert?
Diese zwei Vorwürfe an sein ehemaliges Umfeld, in dem auch ich Leitungsverantwortung trug, haben mich beschäftigt.
Wer sich im Leben neu orientiert, beurteilt sein altes Leben oft nicht in den feinsten Schattierungen. Vieles wird eher schwarz oder weiss gesehen. Das war sicher auch bei Simon der Fall. Möglicherweise hatte er in seiner Jugend bei der einen oder anderen Information nicht hingehört. Vielleicht hatte er den einen oder anderen ‘Wink mit dem Zaunpfahl’ nicht wahrnehmen wollen. Möglicherweise hatte ihm sein altes geistliches Umfeld dennoch das eine oder andere Gute mit auf den Weg gegeben.
Im Herzen merkte ich aber, dass ich die im Zeugnis von Simon formulierten Fragen an mich heranlassen sollte. Zu oft war es vielleicht tatsächlich einfacher gewesen, über die ‘Schoggi-Seiten’ unseres Glaubens zu reden. Den liebenden ‘Daddy im Himmel’ haben wir gerne verkündigt. Seine bedingungslose Annahme auch.
Anderes haben wir möglicherweise auch mal unterschlagen: Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit, oder die Realität der Sünde, welche uns Menschen von Gott trennt. Dass man mit Gott ‘Party’ machen kann, haben wir zur Genüge gefeiert. Wie oft Gott wegen uns ein gebrochenes Herz hat, stand vielleicht weniger im Fokus. Wir haben nichts Falsches gesagt über Gott. Aber wir haben möglicherweise durch Meidung von unpopulären, aber durchaus wichtigen biblischen Themen ein lückenhaftes und in letzter Konsequenz unehrliches Gottes- und Menschenbild gezeichnet.
Die kirchliche Selbstzensur
Gut 200 Jahre ist es her, seit in Genf der sogenannte Réveil ausgebrochen ist – eine Erweckungsbewegung, welche unter anderem zur Entstehung diverser Freikirchen in der Schweiz und in Frankreich führte. Unter anderem gehen die Wurzeln unserer Freien Evangelischen Gemeinden auf den Réveil zurück.
Das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert war eine bewegte Zeit, geprägt von vielen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen. In Genf, der Stadt des grossen Reformators Calvin, stand die Kirche unter dem starken Einfluss der Aufklärung. Der in Genf wirkende Jean-Jacques Rousseau übte grossen Einfluss im französischsprachigen Raum aus. Seine Sicht des Menschen: «…Der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube es, nachgewiesen zu haben…».
Auch Voltaire, eine weitere einflussreiche Figur der Aufklärung, hatte zeitweise in Genf gewirkt. Er war bekannt für seine skeptische Einstellung gegenüber der Bibel.
Derartige Ideen beeinflussten die Kirche Calvins, die ihrerseits das religiöse Leben der Stadt Genf bestimmte. Noch bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte nur Bürger der Stadt Genf werden, wer Mitglied der protestantischen Kirche war und sich deren Autorität unterstellte.
Doch es gab auch andere geistliche Entwicklungen in jener Zeit. Im deutschsprachigen Raum betonte die pietistische Bewegung die Wichtigkeit individueller Frömmigkeit. Im englischsprachigen Raum entstanden starke Erweckungsbewegungen rund um Figuren wie John Wesley. Diese betonten die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung und des Gehorsams der Heiligen Schrift gegenüber.
In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts kommen diese verschiedenen geistlichen Strömungen in der Weltstadt Genf zusammen. Innerhalb der protestantischen Kirche fängt es an zu ‘knistern’. Eine ‘trockene’, auf die Vernunft und Moral bezogene Religion, wurde nun durch junge Theologen herausgefordert, welche stark von den geistlichen Aufbrüchen im englischsprachigen Raum beeinflusst waren. Diese wollten die Bibel studieren, zu Busse und Bekehrung aufrufen und das Feuer der Erweckung auch in Genf entfachen.
Das ehrwürdige Pfarrkollegium der Protestantischen Kirche, deren Wurzeln bis zum grossen Reformator Calvin zurückgehen, sah sich zum Handeln veranlasst. Am 03. Mai 1817 fällt es einen Beschluss mit weitreichenden Folgen. Er verlangt von allen Pastoren und Theologiestudenten ein Reglement zu unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, über folgende Themen NICHT zu predigen (eigene Übersetzung):
- über die göttliche Natur der Person Jesus Christus.
- über die Erbsünde.
- über die Wirkungsweise der Gnade.
- über die Vorherbestimmung (Prädestination).
Der Beschuss kann in der Geschichtsschreibung (S. 119) der Protestantischen Kirche nachgelesen werden. Er hat es in sich. Die Kirche Calvins verbot es sich quasi selbst, über wesentliche Lehrinhalte ihrer eigenen Gründerfigur öffentlich zu sprechen – und natürlich ganz allgemein über grundlegende Themen des christlichen Glaubens. Der Kirchenfrieden sollte durch radikale Selbstzensur gewahrt werden. Den erwecklichen Kräften innerhalb der Kirche sollte damit der Wind aus den Segeln genommen werden.
Doch die meisten “Erweckten” weigerten sich, das Reglement zu unterschreiben. Sie wollten darüber reden, wer Gott ist. Wollten über Sünde und Gnade reden. Sie wollten über anspruchsvolle Themen wie die Vorherbestimmung der Gläubigen zum Heil reden. So kam es zu Kirchenausschlüssen; Studenten mussten ihr Studium abbrechen. Am 21. September 1817 nehmen diese ‘Störer’ des kirchlichen Friedens erstmals ausserhalb der offiziellen Kirche gemeinsam das Abendmahl ein. Der Genfer Réveil hat begonnen!
Die Sünde, über Sünde zu reden
Jetzt ist es fünf Jahre her, seit ich die vielleicht grösste berufliche Herausforderung meines Lebens stemmen musste. Als Koordinator für das Reformaction Jugendfestival in Genf durfte ich ein spannendes, aber auch hochkomplexes Jugendfestival mit 5000 Teilnehmern in der Stadt Genf leitend mitprägen. Es war die offizielle Jugendveranstaltung aus Anlass des 500-Jahr Jubiläums der Reformation.
Vom 03. bis 05. November 2017 nahmen wir die Stadt Genf ‘unter Beschlag’. Ich bin von Herzen dankbar für die Erfahrung. Es war ein grosses Vorrecht, in den Kirchen Calvins zu wirken und zusammen mit tausenden von jungen Menschen beim berühmten Reformationsdenkmal im Herzen der Stadt Genf zu stehen. Ich durfte viele wertvolle Bekanntschaften schliessen und bekam die Möglichkeit, meine Französischkenntnisse aufzufrischen. Es war sicher auch eine absolute Grenzerfahrung. Die Schlafprobleme, welche ich mir damals in der Hochdruckphase der Planung eingehandelt hatte, sind seither meine steten Begleiter.
Neben all dem Wertvollen und Erfreulichen bin ich in der Vorbereitung und Durchführung des Festivals auch diesem eigenartigen Drang begegnet, welche eigentlich so nicht zum Geist des Protestantismus passt: dem Drang nach kirchlicher Selbstzensur.
An einem der vielen Vorbereitungstreffen zu einer der Hauptversammlungen kam es zu einer ausgedehnten Diskussion. Unsere Idee war es, die 5 Solas zu thematisieren, welche in der Reformation formuliert wurden: Sola Scriptura (Allein die Schrift), Solus Christus (Allein Christus), Sola Fide (Allein durch Glauben), Sola Gratia (Allein durch Gnade), Soli Deo Gloria (Allein zur Ehre Gottes).
Bereits beim zweiten Sola ging es los: Sollte darüber gesprochen werden, dass die Bedeutung von Jesus Christus darin bestand, dass er für unsere Sünden ans Kreuz gegangen ist (Vgl. 1Kor 15,3)? Für eine Person in der Runde war das absolut ausgeschlossen. Das Wort ‘Sünde’ war ein Wort, welches an so einem Grossanlass offenbar nicht in den Mund genommen werden sollte. In diplomatischer Manier einigten wir uns schliesslich darauf, beim ‘Solus Christus’ inhaltlich darauf zu fokussieren, dass der Tod Jesu am Kreuz ein Erweis absoluter Liebe gewesen ist. Nun, das stimmt natürlich auch.
Doch was in Kommissionen beschlossen wird, geht bekanntlich in der Umsetzung manchmal vergessen. Als der Tag der Umsetzung kam, da nahm einer der Redner doch tatsächlich ein Wort in den Mund, welches scheinbar auf keinen Fall auf einer grossen Bühne an einem solch historischen Treffen ausgesprochen werden sollte: «Sünde».
Die Reaktion aus dem Publikum kam umgehend: «Wer kontrolliert am Reformaction, wer predigt?», twitterte eine Pfarrperson entrüstet aus der Veranstaltung, als das ‘verbotene’ Wort fiel. «Und eine solche “Predigt” hören dann über 5’000 Jugendliche. Na bravo!». Für diese Person war scheinbar klar: gerade die junge Generation sollte dringend vor einer solch schädlichen Idee wie dem biblischen Konzept von ‘Sünde’ geschützt werden. Möglicherweise wäre ihr lieber gewesen, man hätte den Aufklärer Rousseau zitiert.
Die jugendlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst hatten mit dieser scheinbar unzumutbaren Grenzüberschreitung weniger Probleme: Sie gaben in der Auswertung des Festivals diesem Teil der Veranstaltung absolute Bestnoten.
Lasst es uns sagen!
Warum hat mir niemand gesagt, wie Gott wirklich ist? Warum hat sich niemand getraut, mich zu konfrontieren? Die Worte von Simon klingen drei Jahre nachdem ich sie gelesen habe, immer noch nach.
Heute ist der 31. Oktober: Reformationstag. Die Reformation hatte gerade deshalb eine so durchschlagende Wirkung, weil sie die Bibel aus den wohlbehüteten Studierzimmern der Klöster in die Hand des Volkes brachte: ungefiltert, in ihrer ganzen Schärfe, mit allen Ecken und Kanten. Doch die Geschichte zeigt, wie schnell wir wieder im Land der Selbstzensur landen. Sie zeigt, wie gerne gerade die Hirten der Herde Gottes gewichtige Themen des Glaubens übergehen oder beiseite lassen zugunsten einer therapeutisch austarierten Glaubensvermittlung ohne Kraft und Saft.
Es sind Botschaften, die irgendwie alle ansprechen, aber niemanden betroffen machen. Es sind Botschaften, welche den Menschen gerne als Opfer sehen, aber nicht als Täter. Es sind Botschaften, die Gott verniedlichen, anstatt ihn gross zu machen. Es sind Botschaften, die gute Gefühle wecken sollen, aber den erlösenden Weg in die Freiheit durch Jesus Christus nicht aufzeigen.
Wie kann dieser uns scheinbar angeborenen Neigung entgegengewirkt werden? Hier ein Vorschlag: indem wir wieder das Wort Gottes für sich sprechen lassen. Zusammenhängend, ungefiltert, ohne Ausweichmanöver. Wenn wir uns dem Wort Gottes so stellen, dann werden uns die Themen automatisch begegnen, welche wir so gerne beiseitelassen. Dann überlisten wir unseren eigenen Hang nach Selbstzensur und stellen uns der wunderbaren, stets herausfordernden aber auch erbaulichen Fülle des Redens Gottes.
Lieber Peti
Mit diesem wichtigen Artikel hast du mir voll aus dem Herzen gesprochen — vielen herzlichen Dank dafür!
Wie das Evangelium Gottes vielerorts schon durch ein therapeutisches (Pseudo-)Evangelium oder gar mit einem Anti-Evangelium ersetzt wurde und wohin das letztlich führt, habe ich in einer Predigt mal mit dieser Tabelle veranschaulicht (siehe https://www.instagram.com/p/CitFV1HN2T_/).
Hier noch der Link zur Predigt “Die Halbierung von Gottes Auftrag”, in der die Tabelle erklärt wird (https://youtu.be/-a7tt56C2wM?t=815).
Die von dir beschriebene Lösung, Gottes Wort zusammenhängend, ungefiltert und ohne Ausweichmanöver für sich sprechen lassen, trifft den Nagel m. E. genau auf den Kopf! Juhui!
Vielen Dank und herzliche Grüsse!
Sigi
Herzlichen Dank für die Rückmeldung!
Starke Worte, Peti!
Vielen Dank!
Hallo Peti,
vielen Dank für deinen sehr gut geschriebenen Bericht.
Ich selber bin katholisch aufgewachsen und habe in einem LiFe Seminar das erste Mal Wahrheit gehört.
Ich bin in diesem Seminar buchstäblich von Blind zu Sehend geworden. Noch nie hat mir jemand die Zusammenhänge so gut erklärt.
Als es dann darum ging mein Leben ganz Jesus hinzugeben hatte ich einen grossen Kampf.
Auf die eine Seite wollte ich, auf der anderen hatte ich Angst.
Ich wusste nicht was dann passiert und was Gott von mir will.
Jeanette, meine Begleitperson, hat mir dann gut erklärt wer Gott ist, dass er ein liebender und gerechter Vater ist und nichts von mir verlangen würde was ich nicht geben kann. Sie sagte:“ Du hast einen freien Willen simone, du kannst zu Jesus ja oder nein sagen, aber eins musst du wissen, ohne Jesus wirst du NICHT in den Himmel kommen!!“
Das sass !!
Es waren klare Worte und ich wusste nun es gibt nur ein klares Ja oder Nein, nichts dazwischen.
Schlussendlich waren es aber genau diese Worte, die mich veranlassten auf die Knie zu gehen und Jesus die Herrschaft über mein Leben zu geben.
Es war die beste Entscheidung meines Lebens und ich bin Jeanette heute noch dankbar,dass sie so klar zu mir gesprochen hat.
Vielen Dank für deine Rückmeldung!