Holy Bible? (3/6) — Entstehung der modernen Bibelwissenschaft

Lesezeit: 12 Minuten
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by Roland Hardmeier | 23. Mai. 2021 | 1 comment

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft ist ein Kind der Aufk­lärung. In einzel­nen Teilen lässt sie sich bis zur Renais­sance und zur Ref­or­ma­tion zurück­führen. Wie der Begriff es sagt, ist sie ein fes­ter Teil der Epoche der Mod­erne und nur aus ihr her­aus ver­ste­hbar. In diesem Teil beschreibe ich, wie die mod­erne Bibel­wis­senschaft ent­stand und lege ihre Denkvo­raus­set­zun­gen offen. Auf diese Weise soll der Begriff «Bibelkri­tik» fass­bar werden.

Von der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft ist oft vere­in­fachend als der «Bibelkri­tik» die Rede. Der unscharfe Begriff ist Beze­ich­nung für einen wis­senschaftlichen Zugang zur Bibel, dessen Anfänge auf das 18. Jahrhun­dert anzuset­zen sind.  Im 19. Jahrhun­dert wurde der Begriff «Kri­tik» zum Leit­be­griff der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft. Während im heuti­gen Sprachge­brauch mit Kri­tik ein abw­er­tendes Kri­tisieren gemeint ist, stand der Begriff im auf­streben­den Wis­senschafts­be­trieb des vor­let­zten Jahrhun­derts für ein method­isch über­prüf­bares Vorge­hen. In diesem Sinn wird der Begriff in der Wis­senschaft immer noch ver­wen­det. So will eine «kri­tis­che» Werkaus­gabe von Luthers Schriften oder ein «kri­tis­ch­er» Matthäuskom­men­tar nicht Luther oder Matthäus kri­tisieren, son­dern die auf sie zurück­ge­hen­den Texte nach wis­senschaftlichen Regeln analysieren.

Der Anspruch der Bibelkri­tik ist ein hoher und fest mit west­lichem ratio­nal­is­tis­chem Denkver­mö­gen ver­bun­den. Die mod­erne Bibel­wis­senschaft will unter neuzeitlichen Denkvo­raus­set­zun­gen eine method­isch kon­trol­lier­bare Erschlies­sung der bib­lis­chen Schriften bieten. Sie hat dazu die «his­torisch-kri­tis­che» Meth­ode entwick­elt, die ich in Teil 5 näher beschreiben werde.

Renaissance und Humanismus

Wenn man die mod­erne Bibel­wis­senschaft ver­ste­hen will, muss man sich ein Stück europäis­che Geis­tes­geschichte vergegenwärtigen.

Im 15. Jahrhun­dert kommt es in Ital­ien zu einem kul­turellen Auf­bruch, der ganz Europa erfasst und später von den His­torik­ern als «Renais­sance» (Wiederge­burt) beze­ich­net wird. Mit dem Begriff wird zum Aus­druck gebracht, dass die Ide­ale der Antike wieder­ent­deckt und frucht­bar gemacht wur­den. Zen­trum der Frühre­nais­sance ist Flo­renz, das durch Bankgeschäfte und Han­del zu Reich­tum gelangt. Das Ver­mö­gen wird dazu ver­wen­det, Klöster, Kün­ste, Gelehrte und antike Forschung zu finanzieren.

Die Epoche der Renais­sance bringt den Human­is­mus her­vor, in welchem die Got­teben­bildlichkeit des Men­schen und seine Würde als Geschöpf in den Mit­telpunkt tritt. Zum bedeu­tend­sten Weg­bere­it­er der Ref­or­ma­tion wird der berühmte nieder­ländis­che Human­ist Eras­mus von Rot­ter­dam (1466–1536). Man sagte ihm nach, er habe das Ei gelegt, das Luther aus­ge­brütet habe.

Das Losungswort der Human­is­ten lautet «ad fontes!» (zu den Quellen). Es ist Aus­druck der Suche nach den Ide­alen der Antike in ihrer unver­fälscht­en Gestalt. Damit ist eine wichtige Vorbe­din­gung für die Ref­or­ma­tion erfüllt, in der die Beschäf­ti­gung mit dem Bibel­text von zen­traler Bedeu­tung wird. Die Human­is­ten ler­nen fleis­sig Griechisch, um die antiken Klas­sik­er wie Homer und Pla­ton und das Neue Tes­ta­ment in der Orig­i­nal­sprache lesen zu kön­nen. Bish­er ken­nt man den christlichen Glauben fast auss­chliesslich durch die Ver­mit­tlung der katholis­chen Tra­di­tion und The­olo­gie des Mit­te­lal­ters. Das ändert sich nun. Man begin­nt sich kri­tisch mit lit­er­arischen Quellen zu befassen und fragt nach ihrem his­torischen Ort: Wo ent­standen sie? Wer schrieb sie? Mit welch­er Absicht? Man bemüht sich um exak­te Über­set­zun­gen ins Lateinis­che, das in Europa bis ins 18. Jahrhun­dert Amts- und Gelehrten­sprache ist, und schenkt so den ursprünglichen Tex­ten viel Aufmerksamkeit.

Eine weit­ere Frucht des Human­is­mus ist die Grün­dung zahlre­ich­er Uni­ver­sitäten, unter anderem in Tübin­gen (1477) und Wit­ten­berg (1502), wo Luther lehren wird, und die Grün­dung bedeu­ten­der Bib­lio­theken, die nicht an ein Kloster angeschlossen sind. Damit wer­den die Grund­la­gen gelegt für die Entwick­lung wis­senschaftlich­er Forschung, die sich nicht mehr eng an den christlichen Glauben anlehnt und ihre Berech­ti­gung in ihrem human­is­tis­chen Selb­stver­ständ­nis find­et. Der Human­is­mus wird zum entschei­den­den Weg­bere­it­er der Reformation:

«Der Human­is­mus bere­it­ete als geistige Gross­macht Europas entschei­dend den Boden für die Refor­ma­tio­nen. Die Möglichkeit­en zum Studi­um der Quellen, die daraus sich ablei­t­ende Kri­tik altherge­brachter Tra­di­tio­nen und vor allem die kri­tis­che Wen­dung gegen die Lebens­ferne scholastis­ch­er The­olo­gie prägten alle Per­sön­lichkeit­en der Ref­or­ma­tion nach­haltig.»[1]

Die Reformation

Nach Überzeu­gung der Refor­ma­toren ist das, was das Chris­ten­tum aus­macht, an den Aus­sagen der Schrift zu prüfen. Diese Prü­fung ist ihrer Auf­fas­sung nach möglich, weil die Schrift in sich selb­st klar und ver­ständlich ist.

Wie gelan­gen die Refor­ma­toren zu ihrer Erken­nt­nis? Sie fol­gen dem wis­senschaftlichen Impuls ihrer Zeit und gehen wie die Human­is­ten zurück zu den Quellen. In ihrem Fall ist das das Neue Tes­ta­ment. Luther liest mit Inbrun­st das Neue Tes­ta­ment, studiert aber auch fleis­sig die Werke berühmter Humanisten.

Die Beschäf­ti­gung mit der Bibel rückt in den Mit­telpunkt der evan­ge­lis­chen The­olo­gie. An die Stelle des katholis­chen Lehramts tritt die Autorität der Schrift samt ihrer sachgerecht­en Ausle­gung. Damit ist eine wichtige Voraus­set­zung für das spätere Entste­hen der his­torisch-kri­tis­chen Meth­ode gegeben:

«Für die Ref­or­ma­tion ist die Heilige Schrift die ‘Urkunde’ der Offen­barung Gottes und darum die einzige und auss­chliessliche Quelle aller Verkündi­gung der Kirche. Kirch­liche Tra­di­tio­nen, auch tra­di­tionelle Regeln für die Ausle­gung der Bibel, sind dem grundle­gen­den Zeug­nis der Schrift unterzuord­nen und an diesem zu prüfen. Damit aber wird der wörtliche Sinn des bib­lis­chen Zeug­niss­es mass­ge­blich für sein Ver­ständ­nis. Seit der Alten Kirche hat­te sich für die Bibelausle­gung in The­o­rie und Prax­is das Sys­tem eines vier­fachen Schriftsinns entwick­elt. Neben dem Wortsinn glaubte man einen dreifachen über­tra­ge­nen Sinn ent­deck­en zu kön­nen: Der alle­gorische oder mys­tis­che Sinn umfasst die hin­ter dem Wortsinn ver­bor­ge­nen Glaubenswahrheit­en, der moralis­che Sinn ent­nahm dem Bibel­wort Anweisun­gen zum recht­en Han­deln, der ana­gogis­che Sinn richtete sich auf die escha­tol­o­gis­chen (endzeitlichen) Geheimnisse. Die Refor­ma­toren beton­ten demge­genüber, dass die Bibel als ein in der Geschichte ergan­ge­nes Zeug­nis an ihrem his­torischen Ort ver­standen wer­den muss, denn das Wort ist Fleisch gewor­den (Joh 1,14). Diese Ein­sicht in den geschichtlichen Charak­ter der Offen­barung Gottes förderte nicht nur die Bemühung um die ursprünglichen hebräis­chen und griechis­chen Texte der Bibel, son­dern liess die Schrif­tausle­gung zum über­ra­gen­den Kennze­ichen der Ref­or­ma­tion wer­den. Die Beto­nung des Wortsinns der Heili­gen Schrift schuf so die Voraus­set­zun­gen für die spätere his­torisch-kri­tis­che Meth­ode.»[2]

Entschei­dend für die Ref­or­ma­tion (und die Ausle­gungs­geschichte der Bibel) ist Luthers Auftritt vor Kaiser und Reich­stag am 17. April 1521 in Worms. Luther erklärt:

«Solange ich nicht durch das Zeug­nis der Heili­gen Schrift oder klare Ver­nun­ft­gründe wider­legt werde, so halte ich mich über­wun­den durch die Heilige Schrift. Mein Gewis­sen ist in Gottes Wort gefan­gen. Darum kann und will ich nicht wider­rufen, weil gegen das Gewis­sen zu han­deln beschw­er­lich und gefährlich ist. Gott helfe mir. Amen.»[3]

Luthers Auftritt in Worms gehört zu den entschei­den­den Ereignis­sen der abendländis­chen Geschichte. Luther nimmt für sich vor dem Reich­stag in Anspruch, in Sachen Glauben anders zu urteilen als zehn Konzile, hun­dert Kirchen­väter und tausend Jahre Ausle­gungstra­di­tion! Sein Gewis­sen löst sich vom Zugriff des Dog­mas, es ist an Gottes Wort gebun­den, nicht an die Ver­laut­barun­gen der Kirche. Luthers Weigerung zu wider­rufen, samt sein­er Begrün­dung, ist ein epochaler Vor­gang. Mit Luther erkämpft sich das autonome Gewis­sen seinen legit­i­men Platz in der europäis­chen Geschichte. Es ist jet­zt legit­im, an überkomme­nen Vorstel­lun­gen zu zweifeln, auch wenn die let­zte Kon­se­quenz dieses Zweifelns erst mit der Aufk­lärung sicht­bar wird. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Aufk­lär­er das von Luther erstrit­tene Recht zu zweifeln, für ihre Sicht in Anspruch nehmen. Sie wer­den weit über Luthers Kri­tik an Tra­di­tion und The­olo­gie hin­aus­ge­hen und an den Grund­festen des christlichen Abend­lan­des rütteln.

Aufklärung und kritisches Denkvermögen

Als wichtig­stes Merk­mal der Aufk­lärung, deren Anfänge auf die Mitte des 17. Jahrhun­derts anzuset­zen sind, gilt die Beru­fung auf die Ver­nun­ft als entschei­dende Urteilsin­stanz. Nur hun­dert Jahre nach Luther hat sich die Sit­u­a­tion so geän­dert, dass fun­da­men­tale Kri­tik an der christlichen Weltan­schau­ung möglich wird. In der Zeit der Ref­or­ma­tion gab es keinen Stre­it über das Exis­ten­zrecht christlich­er Weltan­schau­ung, sie wurde voraus­ge­set­zt. Der Stre­it zwis­chen Katholizis­mus und Ref­or­ma­tion beschränk­te sich darauf, welche christliche Sicht die richtige ist. Jet­zt wird die christliche Weltan­schau­ung selb­st in Frage gestellt.

Wahlspruch der Aufk­lärung ist der von Immanuel Kant geprägte Satz: «Habe Mut, dich deines eige­nen Ver­standes zu bedi­enen!» Kant (1724–1804) gilt als der wichtig­ste Philosoph der deutschen Aufk­lärung und als ein­er der ein­flussre­ich­sten Denker des Abend­lan­des. Kant definiert die Aufk­lärung als «Aus­gang des Men­schen aus sein­er selb­stver­schulde­ten Unmündigkeit.» Aus Sicht der Aufk­lär­er hat das kirch­liche Dog­ma den Bürg­er ent­mündigt. Unmündigkeit ist nach Kant «das Unver­mö­gen, sich seines Ver­standes ohne eines anderen zu bedi­enen.» Die Loslö­sung von tra­di­tionellen Vorstel­lun­gen und kirch­lichen Dog­men ist im Zeital­ter der Aufk­lärung «mod­ern» und führt zu einem ersten grossen Säku­lar­isierungss­chub in der Geschichte des Christentums.

Renais­sance, Human­is­mus und Ref­or­ma­tion haben die Vorar­beit für diese Entwick­lung geleis­tet. Die Wieder­ent­deck­ung der antiken Wis­senschaften durch die Renais­sance führte zu einem ver­stärk­ten Fra­gen nach der Natur und dem Ursprung der Dinge. Der Human­is­mus appel­lierte an die Ver­nun­ft und lenk­te den Blick auf die Möglichkeit­en des Men­schen. Und die Ref­or­ma­tion war Voraus­set­zung für die Aufk­lärung, indem sie Kri­tik an der Kirche und ihren Tra­di­tio­nen pop­ulär machte.

«Ich denke, also bin ich»

Nicht nur die Philoso­phie bewegt sich, auch in den Natur­wis­senschaften kommt es zu grossen Verän­derun­gen. Im 17. Jahrhun­dert macht die Welt tech­nis­che Quan­ten­sprünge. Zahlre­iche Ent­deck­un­gen und Erfind­un­gen verän­dern das Leben und führen das her­bei, was wir die «Mod­erne» nen­nen. An die Stelle von Tra­di­tion treten Erfahrung und Ver­nun­ft. Erst­mals in der Geschichte blickt man nicht mehr zurück, son­dern voraus, um das Leben zu meis­tern. Je schneller der Wan­del sich vol­lzieht desto weniger ist die Tra­di­tion eine Hil­fe. Im Umgang mit den neuen Möglichkeit­en der mod­er­nen Welt sind Wis­sen und Ver­nun­ft gefragt. Wis­senschaftlich halt­bar kann in der Folge nur noch sein, was durch prak­tis­chen Nachvol­lzug bewiesen wer­den kann und was vernün­ftig ist. Die Welt wird je länger je weniger durch den Glauben ver­standen und bald nur noch durch die Ver­nun­ft erfasst. Das wird sich sehr bald als Wende im abendländis­chen Denken erweisen.

Für die neue Art zu denken ste­ht der franzö­sis­che Natur­wis­senschaftler und Philosoph René Descartes (1596–1650), der mit seinem berühmten Satz «Ich denke, also bin ich» etwas von unge­heur­er Sprengkraft tut: Er ver­legt die Gewis­sheit von Gott in den Men­schen! Bis zu Descartes fand der Men­sch sein Selb­stver­ständ­nis in der Betra­ch­tung Gottes und im Glauben daran, dass er Eben­bild des Schöpfers ist. Jet­zt richtet sich das denk­ende Sub­jekt ganz auf sich selb­st. Descartes fragt sich, wie er zu gesicherten Erken­nt­nis­sen kom­men kann. Er stellt alles, was sich­er scheint, radikal in Zweifel. Er zweifelt an Gott, an der Welt, an der Natur der Dinge und an sich selb­st. Gibt es Gott? Gibt es mich selb­st über­haupt? Während Descartes alles gründlich anzweifelt und die Dinge sozusagen im freien Fall sind, macht er eine Ent­deck­ung: Da ist jemand, der am zweifeln und daher am denken ist! Also muss es diesen jemand geben und dieser jemand bin ich! Ich denke, also bin ich! Das Fak­tum der eige­nen Exis­tenz wird zum Fun­da­ment aller Gewis­sheit­en.[4]

Die an der Ver­nun­ft ori­en­tierte Denkweise, gilt nicht nur für wis­senschaftliche Behaup­tun­gen, son­dern bald auch für das kirch­liche Dog­ma und das altkirch­liche Schriftver­ständ­nis. Die Vor­denker der Aufk­lärung lesen die Bibel mit den Augen der Ver­nun­ft. Die bib­lis­chen Schriften «müssen zuerst als his­torische Urkun­den der Ver­gan­gen­heit gese­hen wer­den, nicht als ein die Gegen­wart beanspruchen­des Wort. Daher sind die bib­lis­chen Schriften nach densel­ben Meth­o­d­en zu unter­suchen wie andere Doku­mente ihrer Zeit, genau wie die Schriften Pla­tons und Senecas. Was sie für die Gegen­wart bedeuten, muss dann ihre Inter­pre­ta­tion durch die autonome Ver­nun­ft ergeben.»[5]

Was The­olo­gie ist, wie sie betrieben wer­den soll, und wem sie zu dienen hat, erfährt in dieser Zeit eine bis heute nach­wirk­ende Verän­derung. Das Bibel­wort wird dem sub­jek­tiv­en Urteil des Forsch­ers unter­wor­fen und so der men­schlichen Ver­nun­ft aus­geliefert. Auf dem Höhep­unkt des Ver­nun­ftzeital­ters glaubt man, Schrif­tausle­gung ohne Rück­bindung an die kirch­lichen Beken­nt­nisse und ohne Rück­sicht auf die Ausle­gungs­geschichte und die Dog­matik allein nach wis­senschaftlichen Regeln durch­führen zu kön­nen. Die Folge ist eine Ent­frem­dung der akademis­chen The­olo­gie von der kirch­lichen Basis, die bis heute nicht über­wun­den ist. Dort, wo die Bibel mit radikalem Zweifel gele­sen wird, löst sich der Grundbe­stand des Glaubens im Dun­stkreis der Ver­nun­ft auf.

Die Entste­hung der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft ver­dankt sich, wie deut­lich gewor­den ist, einem vielschicht­en und zum Teil anspruchsvollen Prozess. Diesen Prozess sollte man in seinen Grundzü­gen ken­nen, wenn man sich ein Urteil darüber erlauben will, was die mod­erne Bibel­wis­senschaft ausmacht.

Ein Klassiker

Wenn man ver­ste­hen will, auf welchen Denkvo­raus­set­zun­gen die mod­erne Bibel­wis­senschaft grün­det, muss man Ernst Troeltsch (1865–1923) lesen. Die Auseinan­der­set­zung mit ihm ist anspruchsvoll, aber notwendig, um den genetis­chen Code der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft zu knacken.

In seinem Klas­sik­er «Über his­torische und dog­ma­tis­che Meth­ode in der The­olo­gie» bringt er die Grund­sätze der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft nach den Denkvor­gaben der Aufk­lärung auf den Punkt. Die «his­torische» Meth­ode, wie Troeltsch sie nen­nt, ist die Meth­ode der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft, wonach die Bibel nicht aus sich selb­st her­aus, son­dern vom Stand­punkt der all­ge­meinen Geschichte aus betra­chtet und aus­gelegt wird. Die «dog­ma­tis­che» Meth­ode dient bei Troeltsch als Beze­ich­nung für das klas­sis­che Schriftver­ständ­nis, so wie es heute die Evan­ge­likalen vertreten. Troeltsch möchte die bei­den Meth­o­d­en miteinan­der ver­gle­ichen und dabei die Vorzüge der Bibelkri­tik aufzeigen. Troeltsch benen­nt drei Leit­prinzip­i­en, nach denen gear­beit­et wer­den soll:

Das erste Prinzip, auf das Troeltsch die The­olo­gie verpflicht­en will, ist die his­torische Kri­tik. Die bib­lis­chen Berichte müssen ein­er kri­tis­chen Beurteilung unter­wor­fen wer­den. Wie bei Descartes muss der bib­lis­che Text von der Ver­nun­ft sys­tem­a­tisch in Zweifel gezo­gen wer­den. Kri­tik bedeutet für Troeltsch, «dass es auf his­torischem Gebi­et nur Wahrschein­lichkeit­surteile gibt, von sehr ver­schiede­nen Graden der Wahrschein­lichkeit, vom höch­sten bis zum ger­ing­sten, und dass jed­er Über­liefer­ung gegenüber daher erst der Grad an Wahrschein­lichkeit abgemessen wer­den müsse, der ihr zukommt.»[6] Eine his­torische Sichtweise erlaubt also nur Wahrschein­lichkeit­surteile darüber, ob ver­gan­gener Ereignisse wie berichtet stattge­fun­den haben. Zu Gewis­sheit­en führen kann sie nicht. Was in voraufk­lärerisch­er Zeit als bib­lis­che Wahrheit durchging, wird jet­zt kri­tisch rel­a­tiviert. Man muss alles gründlich in Zweifel ziehen und fra­gen, welch­er Grad an Wahrschein­lichkeit beispiel­sweise einem Wort von Jesus oder ein­er von ihm berichteten Tat zukommt. Hat Jesus das wirk­lich gesagt? Ist es Jesus, der hier spricht, oder sind ihm die Worte von der Urkirche in den Mund gelegt wor­den? Wie wahrschein­lich ist es beispiel­sweise, dass Jesus auf dem Wass­er gegan­gen ist?

Wie kann man den Grad der Wahrschein­lichkeit ein­er Sache ermit­teln? Das geschieht zweit­ens durch das Prinzip der Analo­gie. Nach Troeltsch weisen alle his­torischen Ereignisse eine prinzip­ielle Gle­ichar­tigkeit auf. Für Ereignisse und Vorgänge, die wir heute beobacht­en kön­nen, gibt es einen hohen Grad an Wahrschein­lichkeit, dass sie auch vor zweitausend Jahren stattge­fun­den haben. Dinge, die es heute nicht gibt, haben mit einem hohen Grad an Wahrschein­lichkeit auch früher nicht stattge­fun­den. Das Prinzip der Analo­gie ist also ein Erfahrungskri­teri­um. Der Forsch­er schliesst von sein­er heuti­gen Erfahrung ana­log auf damals. Troeltsch spricht in diesem Zusam­men­hang von der «All­macht der Analo­gie».[7] Die Gle­ichar­tigkeit his­torisch­er Ereignisse erlaubt es dem Forsch­er zu beurteilen, wie wahrschein­lich es ist, dass ein Ereig­nis so stattge­fun­den hat, wie es in den Evan­gelien oder an ander­er Stelle berichtet wird.

Gemäss der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft ist es die Auf­gabe des Forsch­ers, kri­tisch zu unter­schei­den zwis­chen den bib­lis­chen Bericht­en und den ursprünglichen Ereignis­sen, auf die sich die Berichte beziehen. Es ist davon auszuge­hen, dass zwis­chen Ereig­nis und Bericht Dif­feren­zen beste­hen. Der Forsch­er will den ver­muteten Dif­feren­zen auf die Spur kom­men. Er fragt zu diesem Zweck ganz im Sinne von Troeltsch:  Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus predi­gend durch die jüdis­chen Lande zog und das Gottes­re­ich aus­rief? Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus sich als Mes­sias ver­stand? Wie wahrschein­lich ist es, dass Jesus auf dem Wass­er ging? Troeltschs Analo­giekri­teri­um würde in diesem Fall bedeuten: Weil es auch heute Leute gibt, die sich an Strasse­neck­en auf­stellen und predi­gen, ist es wahrschein­lich, dass Jesus das auch tat, zumal wan­dernde Predi­ger im Juden­tum keine Sel­tenheit waren. Hinge­gen wird mir heute kaum jemand begeg­nen, der in Basel oder Köln über den Rhein spaziert. Ana­log dazu ist es unwahrschein­lich, dass die Berichte der Evan­gelien vom Gang Jesu auf dem Wass­er, ein his­torisches Ereig­nis wiedergeben.

Schliesslich fragt Troeltsch, was dazu berechtigt, durch analoge Schlüsse Wahrschein­lichkeit­surteile zu fällen. Das führt zum drit­ten Prinzip der Kor­re­la­tion. Es besagt, dass alle his­torischen Begeben­heit­en in ein­er inner­weltlichen Wech­sel­wirkung zueinan­der­ste­hen. Alles, was geschieht, ste­ht in einem kor­rel­a­tiv­en Fluss mit anderen Din­gen und muss von diesen Din­gen her ver­standen und beurteilt werden:

«Ist aber diese alles niv­el­lierende Bedeu­tung der Analo­gie nur möglich auf Grund der Gemein­samkeit und Gle­ichar­tigkeit des men­schlichen Geistes und sein­er geschichtlichen Betä­ti­gun­gen über­haupt, so ist damit der dritte his­torische Grund­be­griff gegeben, die Wech­sel­wirkung aller Erschei­n­un­gen des geistiggeschichtlichen Lebens, wo keine Verän­derung an einem Punk­te ein­treten kann ohne voraus­ge­gan­gene und fol­gende Änderun­gen an einem anderen, so dass alles Geschehen in einem beständi­gen kor­rel­a­tiv­en Zusam­men­hange ste­ht und notwendig einen Fluss bilden muss, indem Alles und Jedes zusam­men­hängt und jed­er Vor­gang in Rela­tion zu anderen ste­ht.»[8]

Jedes Ereig­nis hat also eine Ursache, die sich inner­halb eines deis­tis­chen Welt­bildes (Gott greift nicht in die Geschichte ein) erk­lären lassen muss und somit imma­nent ist. Was meint Troeltsch damit genau und welche Methodik zeigt sich hier?

Bruchlinien

Im Grunde genom­men führt Troeltsch einen method­is­chen Athe­is­mus (es gibt keinen Gott) im Bere­ich der The­olo­gie durch. Sein Welt­bild ist zumin­d­est eine Form des Deis­mus. Die Bibel wird allein mit den Mit­teln der Ver­nun­ft und des Zweifels inter­pretiert, so als gäbe es keinen Gott und kön­nte dieser auch nicht in das Welt­geschehen ein­greifen. In diesem Zusam­men­hang redet man von einem «imma­nen­ten Weltbild».

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft arbeit­et immer noch nach den von Troeltsch benan­nten Prinzip­i­en und wen­det sie mehr oder weniger kon­se­quent an. Die The­olo­gen, die kon­se­quent nach diesen Prinzip­i­en die Bibel ausle­gen, sprechen der Bibel ihre his­torische Ver­lässlichkeit rundweg ab. Eine «bib­lis­che Wahrheit» kann es unter diesen Denkvo­raus­set­zun­gen nicht mehr geben. Es gibt nur noch eine Fülle sich wider­sprechen­der Aus­sagen. Die radikale Anwen­dung von Troeltschs Methodik bringt ein athe­is­tis­ches Welt­bild her­vor und führt zum blanken Unglauben.

Das bedeutet nicht, dass die Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft grund­sät­zlich abzulehnen sind. Damit würde man Ergeb­nisse und Meth­ode einan­der gle­ich­set­zen. Es wäre das Gle­iche, wie wenn man das Kochen ablehnen würde, nur weil einem das Menü nicht schmeckt. Das sollte man nun wirk­lich nicht tun!

Wir haben noch einige Denkar­beit vor uns, um Klarheit in das Ver­hält­nis von evan­ge­likalem Schriftver­ständ­nis und mod­ern­er Bibel­wis­senschaft zu brin­gen. Dieser Denkar­beit stelle ich mich in den näch­sten drei Teilen. Ich werde im 4. Teil beschreiben, nach welchen Grund­sätzen evan­ge­likale The­olo­gen die Bibel ausle­gen. Im 5. Teil werde ich zeigen, welche Meth­o­d­en Vertreter der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft anwen­den, um bib­lis­che Texte zu inter­pretieren. Im 6. Teil wer­den wir die Ergeb­nisse auswerten und fra­gen: Kön­nen wir, wenn wir die Bibel als Gottes Wort ver­ste­hen, die Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft anwen­den? Oder führt das unweiger­lich zum Unglauben? Wo gehen die Bruch­lin­ien zwis­chen einem ver­trauensvollen Lesen der Bibel und dem Ein­satz der Ver­nun­ft in der Ausle­gung durch?

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[1] Lauster, Die Verza­uberung der Welt, 307.
[2] Arnold­shain­er Kon­ferenz, Das Buch Gottes, 173–174.
[3] Zitiert nach Brandt, Basiswis­sen Kirchengeschichte, 265.
[4] Küng, Das Chris­ten­tum, 766.
[5] Gop­pelt, The­olo­gie des Neuen Tes­ta­ments, 24.
[6] Troeltsch, Über his­torische und dog­ma­tis­che Meth­ode in der The­olo­gie, 731.
[7] Ebd., 732.
[8] Ebd., 733.

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Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

1 Comment

  1. André Ay

    Hal­lo!
    Danke für diese nette Zusam­men­fas­sung von demTroeltsch.
    Was der da bringt, sind ja nur Behaup­tun­gen, die man bezweifeln kann, vornehm gesagt meta­ph­ysis­che Voraussetzungen.
    Hobbes ver­trat hinge­gen die These von einem Knacks in der Geschichte:
    Früher habe Gott oft in die Geschichte einge­grif­f­en; heute (also zur Zeit von Hobbes) tut er das nicht mehr. Kann man auch behaupten und nicht widerlegen.
    Viele Grüße!

    Reply

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