Fundiert unfundamentalistisch

Lesezeit: 4 Minuten
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by Roland Hardmeier | 01. Okt. 2024 | 0 comments

Die evan­ge­lis­che Weite zwis­chen fun­da­men­tal­is­tis­ch­er Engführung und pro­gres­siv­er Auflö­sung des Glaubens­be­stands erkunden

The­olo­gie ist immer auch Biografie. Damit du meine Art, mit der Bibel zu arbeit­en nachvol­lziehen kannst, ist hier meine Geschichte:

Ich bin in einem fun­da­men­tal­is­tis­chen Milieu im Glauben erzo­gen wor­den. Meine Welt war angenehm ein­deutig: Ich wurde gelehrt, dass die Bibel Gottes Wort ist, das nicht irren kann. Wer diesen Glauben nicht teilte, kon­nte nicht richtig Christ sein.

Später bekam mein Fun­da­ment Risse. Während mein­er the­ol­o­gis­chen Aus­bil­dung begann ich die Bibel mit neuen Augen zu lesen. Ich ent­deck­te, dass meine Ansicht nur eine von vie­len war. Langsam tat sich vor mir ein Weg aus der Enge in die Weite auf. Auf diesem Weg habe ich gel­ernt, dass es eine Dif­ferenz gibt zwis­chen der bib­lis­chen Wahrheit und mein­er Erken­nt­nis. Heute habe ich keine Angst mehr davor, die Kon­trolle zu ver­lieren, wenn ich mit unbeant­worteten Fra­gen leben muss.

Ich möchte nicht mehr zurück zum behüteten Glauben mein­er Kind­heit. Er ver­mit­telte mir zwar ein tragfähiges Fun­da­ment, das für mich immer noch Gültigkeit hat. Er ver­mit­telte mir aber auch viel Been­gen­des und Rechthaberisches. Noch weniger aber möchte ich in ein­er säku­lar­isierten Welt leben, in der das Evan­geli­um nur noch in homöopathis­ch­er Verdün­nung verabre­icht wird. Die eine Welt ist mir zu pes­simistisch und zu eng, die andere zu pro­gres­siv und zu haltlos.

Seit eini­gen Jahren erlebe ich, wie sich bei evan­ge­likalen Fre­un­den der Glaube verän­dert oder das Fun­da­ment des Glaubens weg­bricht. Sie find­en es eine Zumu­tung, an ein blutiges Opfer am Kreuz zu glauben, ver­mö­gen die Bibel nicht mehr im Ver­trauen zu lesen und dis­tanzieren sich vom Konzept von Him­mel und Hölle. Manche ver­lassen ihre Gemein­schaften und ziehen sich auf einen pri­vat­en Glauben zurück.

Das macht mir Sor­gen. Es ver­an­lasste mich, mich wis­senschaftlich mit dem Phänomen des Post-Evan­ge­likalis­mus, mit pro­gres­siv­en For­men des Glaubens und dem Plu­ral­is­mus der Post­mod­erne zu befassen.

Nach­dem der Wiener Psy­cho­an­a­lytik­er Sig­mund Freud im 19. Jahrhun­dert die Reli­gion wie eine Krankheit unter­suchte und Karl Marx sie als Opi­um des Volkes beze­ich­nete, ist Reli­gion im 21. Jahrhun­dert nur noch ein hil­flos­er Ver­such, die Wahrheit zu fassen. Sie ist wie ein zap­peliger Fisch, der uns ent­gleit­et. Jeglich­er Wahrheit­sanspruch muss in eine Krise ger­at­en, weil es absolute Wahrheit nicht geben kann.

In dieser Krise müssen wir als Men­schen des Glaubens Klarheit darüber haben, welche bib­lis­chen Wahrheit­en unver­han­del­bar sind, welche religiösen Kon­struk­te wir get­rost abbauen kön­nen und in welchen Bere­ichen wir eine Neukon­struk­tion wagen soll­ten, ohne das Fun­da­ment einzureis­sen. Die Kar­di­nal­frage, die sich uns dabei stellt, lautet:

Was bedeutet es in der radikalen Plu­ral­ität der Post­mod­erne, Christ zu sein und was gehört ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben?

Es geht bei diesen Fra­gen um viel: Wenn uns nicht völ­lig klar ist, was wir glauben und wie sich unser Glaube aus der Heili­gen Schrift her­leit­et, ist die evan­ge­likale Bewe­gung in zwei oder drei Gen­er­a­tio­nen ein unbe­deu­tend kleines Bin­nengewäss­er, das im Meer der post­mod­er­nen Möglichkeit an Bedeu­tung ver­liert und schliesslich aus­trock­net. Dieser Umstand motiviert mich für meine tägliche Arbeit als Dozent, Ref­er­ent und Autor.

Die religiöse Land­schaft ist als Folge der Plu­ral­isierung von Polen geprägt. Pole sind attrak­tiv. Sie ver­sprechen Sicher­heit und ver­lei­hen Iden­tität. Das Prob­lem ist, dass sie reduzierte Ver­sio­nen des Evan­geli­ums schaffen:

Der Fun­da­men­tal­is­mus bietet Sicher­heit vor ein­er gefährlichen und bösen Welt. Fun­da­men­tal­is­ten drück­en sich vor der Weltver­ant­wor­tung und ziehen sich auf eine pri­vate Glück­seligkeit zurück. Sie bewirtschaften Prob­leme, aber helfen sel­ten, sie zu lösen.

Das pro­gres­sive Chris­ten­tum mit sein­er Ten­denz zu lib­eralen Posi­tio­nen bietet Sicher­heit vor dem Zeit­geist. Lib­erale Ansicht­en sind poli­tisch kor­rekt, weil sie mit dem Gedanken der Tol­er­anz kon­gru­ent sind, ent­frem­den sich aber von zen­tralen christlichen Glaubensbeständen.

In der Span­nung zwis­chen diesen Polen ver­suche ich eine evan­ge­lis­che The­olo­gie der Mitte zu schmieden. Evan­ge­lisch bedeutet nichts anderes als «am Evan­geli­um ori­en­tiert». Der Begriff deutet eine gewisse Weite an, will sich also von unfrucht­baren Engführun­gen fern­hal­ten. Gle­ichzeit­ig ist er auf das Evan­geli­um bezo­gen, wie es die bib­lis­chen Schriften ver­mit­teln und deshalb nicht für alles offen.

Eine recht evan­ge­lis­che Antwort auf Post­mod­erne, Plu­ral­isierung und Polar­isierung führt zu einem Evan­geli­um der Mitte. Das wahre Evan­geli­um ist das Evan­geli­um von Jesus Chris­tus, das in der Mitte zwis­chen zwei Polen stat­tfind­et. Die Antwort auf die Post­mod­erne kann wed­er der fun­da­men­tal­is­tis­che Rück­zug von der Welt noch die pro­gres­sive Anpas­sung an die Gesellschaft sein.

Das Evan­geli­um ist meinem Ver­ständ­nis nach bemerkenswert weit: Es schliesst Fra­gen der Moral eben­so ein wie Fra­gen der Mit­men­schlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit und der Ver­söh­nung. Gel­ernt habe ich das von den «radikalen Evan­ge­likalen», ein­er Gruppe evan­ge­likaler The­olo­gen vornehm­lich aus der Zwei-Drit­tel-Welt der 1970er Jahre, über die ich meine Dis­ser­ta­tion geschrieben habe und die mich zur mis­sion­alen The­olo­gie gebracht haben. Von ihnen habe ich auch gel­ernt: Ein Evan­geli­um, das nicht eine umfassende Antwort auf die umfassenden Fra­gen der Zeit bietet, ist ein amputiertes Evan­geli­um. Es ist vor allem eines nicht: das Evan­geli­um von Jesus Christus.

Der Stre­it an den religiösen Polen verdeckt es beina­he: Es gibt die evan­ge­lis­che Mitte noch. Ich ver­ste­he mich als eine dieser Stim­men. Auf meinem Blogkanal teile ich Texte, Auf­sätze, Gedanken und Auszüge aus meinen Büch­ern, die sich auf dieses Evan­geli­um der Mitte beziehen und einem fundierten und leben­stauglichen Glauben dienen. Alles, was du auf diesem Kanal find­est, hat im engeren oder weit­eren Sinn mit der Überzeu­gung zu tun: Unsere Zeit braucht Chris­ten, die fundiert unfun­da­men­tal­is­tisch glauben, denken und handeln.


Bilder: iStock

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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