Die evangelische Weite zwischen fundamentalistischer Engführung und progressiver Auflösung des Glaubensbestands erkunden
Theologie ist immer auch Biografie. Damit du meine Art, mit der Bibel zu arbeiten nachvollziehen kannst, ist hier meine Geschichte:
Ich bin in einem fundamentalistischen Milieu im Glauben erzogen worden. Meine Welt war angenehm eindeutig: Ich wurde gelehrt, dass die Bibel Gottes Wort ist, das nicht irren kann. Wer diesen Glauben nicht teilte, konnte nicht richtig Christ sein.
Später bekam mein Fundament Risse. Während meiner theologischen Ausbildung begann ich die Bibel mit neuen Augen zu lesen. Ich entdeckte, dass meine Ansicht nur eine von vielen war. Langsam tat sich vor mir ein Weg aus der Enge in die Weite auf. Auf diesem Weg habe ich gelernt, dass es eine Differenz gibt zwischen der biblischen Wahrheit und meiner Erkenntnis. Heute habe ich keine Angst mehr davor, die Kontrolle zu verlieren, wenn ich mit unbeantworteten Fragen leben muss.
Ich möchte nicht mehr zurück zum behüteten Glauben meiner Kindheit. Er vermittelte mir zwar ein tragfähiges Fundament, das für mich immer noch Gültigkeit hat. Er vermittelte mir aber auch viel Beengendes und Rechthaberisches. Noch weniger aber möchte ich in einer säkularisierten Welt leben, in der das Evangelium nur noch in homöopathischer Verdünnung verabreicht wird. Die eine Welt ist mir zu pessimistisch und zu eng, die andere zu progressiv und zu haltlos.
Seit einigen Jahren erlebe ich, wie sich bei evangelikalen Freunden der Glaube verändert oder das Fundament des Glaubens wegbricht. Sie finden es eine Zumutung, an ein blutiges Opfer am Kreuz zu glauben, vermögen die Bibel nicht mehr im Vertrauen zu lesen und distanzieren sich vom Konzept von Himmel und Hölle. Manche verlassen ihre Gemeinschaften und ziehen sich auf einen privaten Glauben zurück.
Das macht mir Sorgen. Es veranlasste mich, mich wissenschaftlich mit dem Phänomen des Post-Evangelikalismus, mit progressiven Formen des Glaubens und dem Pluralismus der Postmoderne zu befassen.
Nachdem der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud im 19. Jahrhundert die Religion wie eine Krankheit untersuchte und Karl Marx sie als Opium des Volkes bezeichnete, ist Religion im 21. Jahrhundert nur noch ein hilfloser Versuch, die Wahrheit zu fassen. Sie ist wie ein zappeliger Fisch, der uns entgleitet. Jeglicher Wahrheitsanspruch muss in eine Krise geraten, weil es absolute Wahrheit nicht geben kann.
In dieser Krise müssen wir als Menschen des Glaubens Klarheit darüber haben, welche biblischen Wahrheiten unverhandelbar sind, welche religiösen Konstrukte wir getrost abbauen können und in welchen Bereichen wir eine Neukonstruktion wagen sollten, ohne das Fundament einzureissen. Die Kardinalfrage, die sich uns dabei stellt, lautet:
Was bedeutet es in der radikalen Pluralität der Postmoderne, Christ zu sein und was gehört ohne Wenn und Aber zum christlichen Glauben?
Es geht bei diesen Fragen um viel: Wenn uns nicht völlig klar ist, was wir glauben und wie sich unser Glaube aus der Heiligen Schrift herleitet, ist die evangelikale Bewegung in zwei oder drei Generationen ein unbedeutend kleines Binnengewässer, das im Meer der postmodernen Möglichkeit an Bedeutung verliert und schliesslich austrocknet. Dieser Umstand motiviert mich für meine tägliche Arbeit als Dozent, Referent und Autor.
Die religiöse Landschaft ist als Folge der Pluralisierung von Polen geprägt. Pole sind attraktiv. Sie versprechen Sicherheit und verleihen Identität. Das Problem ist, dass sie reduzierte Versionen des Evangeliums schaffen:
Der Fundamentalismus bietet Sicherheit vor einer gefährlichen und bösen Welt. Fundamentalisten drücken sich vor der Weltverantwortung und ziehen sich auf eine private Glückseligkeit zurück. Sie bewirtschaften Probleme, aber helfen selten, sie zu lösen.
Das progressive Christentum mit seiner Tendenz zu liberalen Positionen bietet Sicherheit vor dem Zeitgeist. Liberale Ansichten sind politisch korrekt, weil sie mit dem Gedanken der Toleranz kongruent sind, entfremden sich aber von zentralen christlichen Glaubensbeständen.
In der Spannung zwischen diesen Polen versuche ich eine evangelische Theologie der Mitte zu schmieden. Evangelisch bedeutet nichts anderes als «am Evangelium orientiert». Der Begriff deutet eine gewisse Weite an, will sich also von unfruchtbaren Engführungen fernhalten. Gleichzeitig ist er auf das Evangelium bezogen, wie es die biblischen Schriften vermitteln und deshalb nicht für alles offen.
Eine recht evangelische Antwort auf Postmoderne, Pluralisierung und Polarisierung führt zu einem Evangelium der Mitte. Das wahre Evangelium ist das Evangelium von Jesus Christus, das in der Mitte zwischen zwei Polen stattfindet. Die Antwort auf die Postmoderne kann weder der fundamentalistische Rückzug von der Welt noch die progressive Anpassung an die Gesellschaft sein.
Das Evangelium ist meinem Verständnis nach bemerkenswert weit: Es schliesst Fragen der Moral ebenso ein wie Fragen der Mitmenschlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit und der Versöhnung. Gelernt habe ich das von den «radikalen Evangelikalen», einer Gruppe evangelikaler Theologen vornehmlich aus der Zwei-Drittel-Welt der 1970er Jahre, über die ich meine Dissertation geschrieben habe und die mich zur missionalen Theologie gebracht haben. Von ihnen habe ich auch gelernt: Ein Evangelium, das nicht eine umfassende Antwort auf die umfassenden Fragen der Zeit bietet, ist ein amputiertes Evangelium. Es ist vor allem eines nicht: das Evangelium von Jesus Christus.
Der Streit an den religiösen Polen verdeckt es beinahe: Es gibt die evangelische Mitte noch. Ich verstehe mich als eine dieser Stimmen. Auf meinem Blogkanal teile ich Texte, Aufsätze, Gedanken und Auszüge aus meinen Büchern, die sich auf dieses Evangelium der Mitte beziehen und einem fundierten und lebenstauglichen Glauben dienen. Alles, was du auf diesem Kanal findest, hat im engeren oder weiteren Sinn mit der Überzeugung zu tun: Unsere Zeit braucht Christen, die fundiert unfundamentalistisch glauben, denken und handeln.
Bilder: iStock
0 Comments