Dies ist die Plattform Daniel Option, aber ich muss anfangen mit etwas, das gar keine Option ist: nämlich, dass Christen ihren Intellekt kultivieren.
Zunächst ein paar Worte zu mir und meinem Kanal. Wer meinen Nachnamen mit dem fast gleichlautenden Vogel in Verbindung gebracht hat, liegt goldrichtig: cuc (cucu ist die definite Form) bedeutet “Kuckuck” auf rumänisch, womit auch meine ethnische Abstammung geklärt ist. Ich bin allerdings in Bayern aufgewachsen und lebe seit gut sieben Jahren in der Schweiz. Von Beruf und Berufung her bin ich Philosoph – ich verstehe mich als dezidiert christlichen Philosophen, beauftragt mit der Verteidigung und Ergründung des Glaubens. C.S. Lewis sagte einmal sinngemäss, dass gute Philosophie existieren muss, um schlechte Philosophie zu neutralisieren. Das ist in etwa mein Programm hier. Mein Interesse bezieht sich dabei nicht nur auf säkulare Ideologien, sondern auch auf als biblisch oder christlich daherkommende.
Eine solche pseudo-christliche Idee ist die, dass es fromm sei, den Verstand auszuschalten und “nur zu glauben”; oder, anders ausgedrückt, den Intellekt links liegen zu lassen und “nur im Geiste” zu leben. Es folgen fünf Gründe, warum das absoluter Nonsens ist.
Grund 1: Es ist ein göttliches Gebot
»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.« Dies ist das große und erste Gebot. (Matthäus 22,37–38, ELB, meine Hervorhebung)
Eigentlich ist damit schon alles gesagt. Göttliche Gebote, hier das “grosse und erste” noch dazu, sind keine Optionen für Christen.
Lass uns dennoch genau ansehen, was Jesus hier sagt. Vielleicht ist der zugrundeliegende griechische Begriff mit “Verstand” falsch übersetzt? Im Griechischen steht hier das Wort dianoia, welches Strong’s Lexikon mit “understanding, intellect, mind, insight” wiedergibt. Dianoia ist ein Komposit aus dia (durch, hindurch) und noûs (Intellekt, Verstand). Es geht also um die Aktivität des Begreifens durch den Verstand, des “Durchdringens” zu Wahrheiten mittels unseres Intellekts. Selbst die Elberfelder Bibel gibt den Begriff als “Verstand” wieder (exakter wäre vermutlich “Verstehen” oder “Begreifen” gewesen) – und die ELB zeichnet sich sonst nicht durch sehr intellekt-freundliche Übersetzungen aus (z.B. wird noûs in Römer 12,2 mit “Gesinnung” wiedergegeben).
Das Gebot ist also klar: Wir sollen Gott lieben nicht nur mit unserem ganzen Herzen und unserer ganzen Seele, sondern auch mit unserem ganzen Verstand.
Aber was ist mit den Bibelstellen, die vor dem Verstand warnen?
Es ist unmöglich, hier alle diese Bibelstellen zu behandeln. Deshalb nur zwei besonders häufig zitierte:
Seht zu, dass niemand euch einfängt durch die Philosophie und leeren Betrug nach der Überlieferung der Menschen, nach den Elementen der Welt und nicht Christus gemäß! (Kolosser 2,8)
Tatsächlich übersetzt ELB hier korrekt, auch wenn dies im Deutschen nicht so richtig rüberkommen will: Paulus schreibt von der Philosophie (tes philosophias, definiter Artikel), also von einer bestimmten Philosophie oder wahrscheinlicher von einem Kult der sich Die Philosophie nannte (ESV Study Bible Kommentar[1] zu Kolosser 2,8). Das passt auch zum Kontext (Engelskult, besondere Rituale). Nirgendwo gibt es einen Hinweis, dass Paulus Philosophie als Kunst des Denkens, wie sie z.B. von Platon oder Aristoteles betrieben wurde, unbesehen verurteilt.
Denn ich nahm mir vor, nichts anderes unter euch zu wissen als nur Jesus Christus, und ihn als gekreuzigt. Und ich war bei euch in Schwachheit und mit Furcht und in vielem Zittern; und meine Rede und meine Predigt ⟨bestand⟩ nicht in überredenden Worten der Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft beruht. (1. Korinther 2,2–5, ELB)
Hat Paulus in Korinth wirklich nur über den Kreuzestod Jesu gesprochen, wie es der erste Satz zu suggerieren scheint? Nein. Der erste Korintherbrief selbst ist voll von Lehren ganz anderer Art, z.B. über Exkommunikation (Kap. 5), Ehe/Scheidung/Wiederheirat (Kap. 7) oder die Auferstehung (Kap. 15). Ausserdem sagt Paulus an anderer Stelle, er habe “den ganzen Ratschluss Gottes” verkündigt (Apostelgeschichte 20,27, meine Hervorhebung). Aber vielleicht hat er zumindest in der Art und Weise seiner Predigt auf jegliche Gelehrsamkeit verzichtet? Das ist nicht, was er meint. “Weisheit” muss hier verstanden werden als “Weisheit der Welt”, welche Torheit in Gottes Augen ist (siehe 1. Korinther 1); “überredende Worte” sind die Tricks der Rhetoriker, denen z.B. die Philosophen Sokrates und Plato unnachgiebig die Stirn boten, weil sie nicht an Wahrheit, sondern nur an Überredung interessiert waren. Und natürlich soll unser Glaube nicht auf Menschenweisheit beruhen, sondern auf Gottes Wort und Kraft. Aber nirgendwo gibt es einen Hinweis, dass der Intellekt dem im Weg steht.
Grund 2: Wir sind als rationale Wesen erschaffen worden
Wir sind im Ebenbild Gottes erschaffen worden, das ist eine biblische Kernlehre. Das bedeutet, dass wir bestimmte Wesenszüge mit Gott teilen. Einer davon ist die Rationalität.
In der Religionsphilosophie hat man schon immer Gottes perfekte Rationalität als eine Seiner essenziellen Eigenschaften gesehen – Gott kann so wenig etwas Unvernünftiges tun oder denken wie Er sündigen kann. Die Bibel spricht eher von Gottes Weisheit, mit der Er die Welt erschaffen hat (siehe z.B. Sprüche 8). Man sollte sich aber bewusst sein, dass Weisheit zwar über Rationalität hinausgeht, sie aber genau deswegen inkludiert.
Ausserdem ist es schlicht ein Faktum der Erfahrung, dass Menschen rationale Wesen sind. Viele grosse Denker waren und sind Christen (Augustinus, Boethius, Thomas von Aquin, Blaise Pascal, C.S. Lewis…); und sie waren grosse Denker weil sie Christen waren: denn gemäss der Bibel sind wir im Ebenbild Gottes geschaffen, und Gott ist perfekt rational, derjenige der „mit Weisheit die Erde gegründet“ hat (Sprüche 3,19). Indem wir den Verstand vernachlässigen, vernachlässigen wir also einen Teil unserer Gottesebenbildlichkeit. Das kann nicht richtig sein.
Aber es kann doch nicht jeder ein Gelehrter sein!
Stimmt. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um das Trainieren unseres Intellekts. Als Analogie: Auch wenn nur wenige Sportstars werden, ist es doch für alle wichtig ihren Körper in Schuss zu halten.
Grund 3: Glaube basiert auf Verstehen
Glaube simpliciter[2] gibt es nicht. Es gibt nur Glauben an etwas oder jemanden. In allen Fällen muss der Glaube einen Inhalt haben, den wir sprachlich ausdrücken können. Damit ist Glaube immer an den Verstand gebunden. Die Bibel lehrt genau das:
Also ist der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch das Wort Christi. (Römer 10,17, ELB)
Ein anderes Beispiel: Philippus fragte den äthiopischen Kämmerer, ob er denn verstehe, was er las (Apostelgeschichte 8,30). Offenbar war es wichtig, dass sein Verstand mit an Bord war, bevor er den rettenden Glauben haben und getauft werden konnte.
Grund 4: Ein kultivierter Intellekt ist ein Booster für geistliches Wachstum
Stell dir zwei Leute vor, die vor einem Gemälde stehen. Einer davon ist ein Kunsthistoriker, der andere nur ein interessierter Laie. Wer von den beiden wird mehr Details und Bedeutungen im Bild erkennen können?
Die Antwort liegt auf der Hand.
Ein entwickelter Intellekt kann uns helfen, Dinge zu sehen (im wörtlichen wie übertragenen Sinn), die wir zuvor nicht bemerkt haben. Das liegt daran, wie unsere Wahrnehmung strukturiert ist. Wir sehen fast nie nur rohe Sinnesdaten, sondern interpretieren das Erfahrene mit einem Filter von Konzepten. Das bedeutet: Je feiner der Filter ist (je mehr Konzepte man hat), desto “hochauflösender” nimmt man wahr. In seinem Buch Love Your God With All Your Mind[3] verdeutlicht J.P. Moreland dies anhand der Aussage einer Kongressabgeordneten, die ein Kinderrecht auf staatlich geförderte Tagesstätten forderte, basierend auf dem Recht von Kindern, körperlich und seelisch unversehrt zu bleiben. Wer die Konzepte von positiven und negativen Rechten nicht kennt, sieht hier nur Rechte, und ist geneigt, zuzustimmen – tatsächlich aber ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein negatives Recht (dass einem etwas nicht getan wird), während das Recht auf eine Kita ein positives Recht ist. Man kann das eine nicht aus dem anderen ableiten.
Das “Auflösungs-Upgrade” eines trainierten Verstands macht sich übrigens auch beim Bibellesen bemerkbar! Das kann ich selbst bezeugen.
Grund 5: Ein starker Intellekt macht die Kirche wieder relevant
Was versuchen protestantische Kirchen nicht alles heutzutage, um relevant zu sein! Rockmusik, Diskolichter, Shows, Assimilation von weltlichen Buzzwords…was die Kirche jedoch wirklich relevant macht, ist Gottes Wort zu hören und zu tun. Alles andere ist (bestenfalls) Dekoration. Und wenn wir Gottes Wort wirklich in allen Details begreifen und tun wollen, brauchen wir unseren Intellekt.
Im ersten Teil des erwähnten Buchs gibt Moreland eine kurze historische Analyse des Anti-Intellektualismus in christlichen Kirchen. Seit gut 200 Jahren hat die evangelikale Christenheit den Gebrauch und die Kultivierung des Verstands immer weiter zurückgefahren. Dies ist, so Moreland, einer der Hauptgründe für den schwindenden gesellschaftlichen Einfluss der Kirche. Die Problematik hat ihre Wurzeln bereits Mitte des 18. Jahrhunderts. Die grossen Erweckungsprediger, angefangen mit George Whitefield, überbetonten die unmittelbare persönliche Bekehrung zu Christus zuungunsten gründlichen Nachdenkens über die christlichen Wahrheitsansprüche: „…emotionale, einfache, volkstümliche Ansprachen anstelle von intellektuell wohlbedachten lehrmässig präzisen Predigten“ (16). Dazu kam wenig später die sogenannte „Aufklärung“ mit ihrem Skeptizismus (Hume) und ihrer Verneinung der Vernunft in religiösen Fragen (Kant), die Bibelkritik und die Darwinsche Evolutionstheorie. Plötzlich waren wesentliche Fundamente des christlichen Glaubens in Frage gestellt: dass man über Gott wirklich etwas wissen kann; dass die Bibel das Wort Gottes ist; oder dass Gott der Schöpfer aller Lebewesen ist.
Bibelgläubige Christen zogen sich immer mehr aus der öffentlichen Debatte zurück, statt die säkulare Philosophie mit guten Argumenten zurückzuweisen. Die Folgen waren mannigfaltig: ein falsches Verständnis des Verhältnisses zwischen Glauben und Denken, die falsche Dichotomie zwischen dem „Profanen“ und dem „Heiligen“, ein irrelevantes Evangelium, und sogar eine Schwächung der Weltmission. Der Rückzug der Christen ermöglichte aber auch die Entstehung der radikal säkularen Kultur, in der wir leben, und in der christliche Wahrheitsansprüche wie dschihadistische Drohsprüche aufgefasst werden.
Der “Marktplatz der Ideen” da draussen findet so oder so statt – besser ist es, wenn Christen sich einschalten, und dazu müssen sie ihre intellektuellen Hausaufgaben gemacht haben.
Ich schlussfolgere, dass die Kultivierung des christlichen Intellekts ein Gebot der Stunde ist. Sie ist ein göttliches Gebot, entspricht unserer Natur, ist unabdingbar für unseren Glauben und macht die Kirche wieder wirklich relevant. Möge dieser Kanal ein kleiner Beitrag in diese Richtung sein.
[1] ESV Study Bible, Crossway 2021
[2] Simpliciter bedeutet in diesem Kontext: ohne weitere Spezifikation, „einfach so“.
[3] J.P. Moreland: Love Your God With All Your Mind – The Role of Reason in the Life of the Soul. Updated and revised version. NavPress 2012
Spannender Beitrag, vielen Dank für den Input!
Stimme den Argumenten zu, wobei der Bogen wohl weiter gespannt werden kann oder sollte. Wie wird der Verstand ‚genährt‘? Damit Erkenntnisse und Weisheit zunehmen hat sich der Verstand Gottes Geist ‚unterordnen‘. … was zu anderen Fragen führt 🙂