5 Gründe, warum Christen den Verstand nicht vernachlässigen dürfen

Lesezeit: 7 Minuten
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by Alin Cucu | 02. Okt. 2024 | 2 comments

Dies ist die Plat­tform Daniel Option, aber ich muss anfan­gen mit etwas, das gar keine Option ist: näm­lich, dass Chris­ten ihren Intellekt kultivieren.

Zunächst ein paar Worte zu mir und meinem Kanal. Wer meinen Nach­na­men mit dem fast gle­ich­lau­t­en­den Vogel in Verbindung gebracht hat, liegt goldrichtig: cuc (cucu ist die def­i­nite Form) bedeutet “Kuck­uck” auf rumänisch, wom­it auch meine eth­nis­che Abstam­mung gek­lärt ist. Ich bin allerd­ings in Bay­ern aufgewach­sen und lebe seit gut sieben Jahren in der Schweiz. Von Beruf und Beru­fung her bin ich Philosoph – ich ver­ste­he mich als dezi­diert christlichen Philosophen, beauf­tragt mit der Vertei­di­gung und Ergrün­dung des Glaubens. C.S. Lewis sagte ein­mal sin­ngemäss, dass gute Philoso­phie existieren muss, um schlechte Philoso­phie zu neu­tral­isieren. Das ist in etwa mein Pro­gramm hier. Mein Inter­esse bezieht sich dabei nicht nur auf säku­lare Ide­olo­gien, son­dern auch auf als bib­lisch oder christlich daherkommende.

Eine solche pseu­do-christliche Idee ist die, dass es fromm sei, den Ver­stand auszuschal­ten und “nur zu glauben”; oder, anders aus­ge­drückt, den Intellekt links liegen zu lassen und “nur im Geiste” zu leben. Es fol­gen fünf Gründe, warum das absoluter Non­sens ist.

Grund 1: Es ist ein göttliches Gebot

»Du sollst den Her­rn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit dein­er ganzen Seele und mit deinem ganzen Ver­stand.« Dies ist das große und erste Gebot. (Matthäus 22,37–38, ELB, meine Hervorhebung)

Eigentlich ist damit schon alles gesagt. Göt­tliche Gebote, hier das “grosse und erste” noch dazu, sind keine Optio­nen für Christen.

Lass uns den­noch genau anse­hen, was Jesus hier sagt. Vielle­icht ist der zugrun­deliegende griechis­che Begriff mit “Ver­stand” falsch über­set­zt? Im Griechis­chen ste­ht hier das Wort dianoia, welch­es Strong’s Lexikon mit “under­stand­ing, intel­lect, mind, insight” wiedergibt. Dianoia ist ein Kom­posit aus dia (durch, hin­durch) und noûs (Intellekt, Ver­stand). Es geht also um die Aktiv­ität des Begreifens durch den Ver­stand, des “Durch­drin­gens” zu Wahrheit­en mit­tels unseres Intellek­ts. Selb­st die Elber­felder Bibel gibt den Begriff als “Ver­stand” wieder (exak­ter wäre ver­mut­lich “Ver­ste­hen” oder “Begreifen” gewe­sen) – und die ELB zeich­net sich son­st nicht durch sehr intellekt-fre­undliche Über­set­zun­gen aus (z.B. wird noûs in Römer 12,2 mit “Gesin­nung” wiedergegeben).

Das Gebot ist also klar: Wir sollen Gott lieben nicht nur mit unserem ganzen Herzen und unser­er ganzen Seele, son­dern auch mit unserem ganzen Verstand.

Aber was ist mit den Bibelstellen, die vor dem Verstand warnen?

Es ist unmöglich, hier alle diese Bibel­stellen zu behan­deln. Deshalb nur zwei beson­ders häu­fig zitierte:

Seht zu, dass nie­mand euch ein­fängt durch die Philoso­phie und leeren Betrug nach der Über­liefer­ung der Men­schen, nach den Ele­menten der Welt und nicht Chris­tus gemäß! (Koloss­er 2,8)

Tat­säch­lich über­set­zt ELB hier kor­rekt, auch wenn dies im Deutschen nicht so richtig rüberkom­men will: Paulus schreibt von der Philoso­phie (tes philosophias, def­i­niter Artikel), also von ein­er bes­timmten Philoso­phie oder wahrschein­lich­er von einem Kult der sich Die Philoso­phie nan­nte (ESV Study Bible Kom­men­tar[1] zu Koloss­er 2,8). Das passt auch zum Kon­text (Engel­skult, beson­dere Rit­uale). Nir­gend­wo gibt es einen Hin­weis, dass Paulus Philoso­phie als Kun­st des Denkens, wie sie z.B. von Pla­ton oder Aris­tote­les betrieben wurde, unbe­se­hen verurteilt.

Denn ich nahm mir vor, nichts anderes unter euch zu wis­sen als nur Jesus Chris­tus, und ihn als gekreuzigt. Und ich war bei euch in Schwach­heit und mit Furcht und in vielem Zit­tern; und meine Rede und meine Predigt ⟨bestand⟩ nicht in überre­den­den Worten der Weisheit, son­dern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht auf Men­schen­weisheit, son­dern auf Gottes Kraft beruht. (1. Korinther 2,2–5, ELB)

Hat Paulus in Korinth wirk­lich nur über den Kreuzestod Jesu gesprochen, wie es der erste Satz zu sug­gerieren scheint? Nein. Der erste Korinther­brief selb­st ist voll von Lehren ganz ander­er Art, z.B. über Exkom­mu­nika­tion (Kap. 5), Ehe/Scheidung/Wiederheirat (Kap. 7) oder die Aufer­ste­hung (Kap. 15). Ausser­dem sagt Paulus an ander­er Stelle, er habe “den ganzen Ratschluss Gottes” verkündigt (Apos­telgeschichte 20,27, meine Her­vorhe­bung). Aber vielle­icht hat er zumin­d­est in der Art und Weise sein­er Predigt auf jegliche Gelehrsamkeit verzichtet? Das ist nicht, was er meint. “Weisheit” muss hier ver­standen wer­den als “Weisheit der Welt”, welche Torheit in Gottes Augen ist (siehe 1. Korinther 1); “überre­dende Worte” sind die Tricks der Rhetorik­er, denen z.B. die Philosophen Sokrates und Pla­to unnachgiebig die Stirn boten, weil sie nicht an Wahrheit, son­dern nur an Überre­dung inter­essiert waren. Und natür­lich soll unser Glaube nicht auf Men­schen­weisheit beruhen, son­dern auf Gottes Wort und Kraft. Aber nir­gend­wo gibt es einen Hin­weis, dass der Intellekt dem im Weg steht.

Grund 2: Wir sind als rationale Wesen erschaffen worden

Wir sind im Eben­bild Gottes erschaf­fen wor­den, das ist eine bib­lis­che Kern­lehre. Das bedeutet, dass wir bes­timmte Wesen­szüge mit Gott teilen. Ein­er davon ist die Rationalität.

In der Reli­gion­sphiloso­phie hat man schon immer Gottes per­fek­te Ratio­nal­ität als eine Sein­er essen­ziellen Eigen­schaften gese­hen – Gott kann so wenig etwas Unvernün­ftiges tun oder denken wie Er sündi­gen kann. Die Bibel spricht eher von Gottes Weisheit, mit der Er die Welt erschaf­fen hat (siehe z.B. Sprüche 8). Man sollte sich aber bewusst sein, dass Weisheit zwar über Ratio­nal­ität hin­aus­ge­ht, sie aber genau deswe­gen inkludiert.

Ausser­dem ist es schlicht ein Fak­tum der Erfahrung, dass Men­schen ratio­nale Wesen sind. Viele grosse Denker waren und sind Chris­ten (Augusti­nus, Boethius, Thomas von Aquin, Blaise Pas­cal, C.S. Lewis…); und sie waren grosse Denker weil sie Chris­ten waren: denn gemäss der Bibel sind wir im Eben­bild Gottes geschaf­fen, und Gott ist per­fekt ratio­nal, der­jenige der „mit Weisheit die Erde gegrün­det“ hat (Sprüche 3,19). Indem wir den Ver­stand ver­nach­läs­si­gen, ver­nach­läs­si­gen wir also einen Teil unser­er Gotte­seben­bildlichkeit. Das kann nicht richtig sein.

Aber es kann doch nicht jeder ein Gelehrter sein!

Stimmt. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um das Trainieren unseres Intellek­ts. Als Analo­gie: Auch wenn nur wenige Sport­stars wer­den, ist es doch für alle wichtig ihren Kör­p­er in Schuss zu halten.

Grund 3: Glaube basiert auf Verstehen

Glaube sim­pliciter[2] gibt es nicht. Es gibt nur Glauben an etwas oder jeman­den. In allen Fällen muss der Glaube einen Inhalt haben, den wir sprach­lich aus­drück­en kön­nen. Damit ist Glaube immer an den Ver­stand gebun­den. Die Bibel lehrt genau das:

Also ist der Glaube aus der Verkündi­gung, die Verkündi­gung aber durch das Wort Christi. (Römer 10,17, ELB)

Ein anderes Beispiel: Philip­pus fragte den äthiopis­chen Käm­mer­er, ob er denn ver­ste­he, was er las (Apos­telgeschichte 8,30). Offen­bar war es wichtig, dass sein Ver­stand mit an Bord war, bevor er den ret­ten­den Glauben haben und getauft wer­den konnte.

Grund 4: Ein kultivierter Intellekt ist ein Booster für geistliches Wachstum

Stell dir zwei Leute vor, die vor einem Gemälde ste­hen. Ein­er davon ist ein Kun­sthis­torik­er, der andere nur ein inter­essiert­er Laie. Wer von den bei­den wird mehr Details und Bedeu­tun­gen im Bild erken­nen können?

Die Antwort liegt auf der Hand.

Ein entwick­el­ter Intellekt kann uns helfen, Dinge zu sehen (im wörtlichen wie über­tra­ge­nen Sinn), die wir zuvor nicht bemerkt haben. Das liegt daran, wie unsere Wahrnehmung struk­turi­ert ist. Wir sehen fast nie nur rohe Sin­nes­dat­en, son­dern inter­pretieren das Erfahrene mit einem Fil­ter von Konzepten. Das bedeutet: Je fein­er der Fil­ter ist (je mehr Konzepte man hat), desto “hochau­flösender” nimmt man wahr. In seinem Buch Love Your God With All Your Mind[3] verdeut­licht J.P. More­land dies anhand der Aus­sage ein­er Kon­gress­ab­ge­ord­neten, die ein Kinder­recht auf staatlich geförderte Tagesstät­ten forderte, basierend auf dem Recht von Kindern, kör­per­lich und seel­isch unversehrt zu bleiben. Wer die Konzepte von pos­i­tiv­en und neg­a­tiv­en Recht­en nicht ken­nt, sieht hier nur Rechte, und ist geneigt, zuzus­tim­men – tat­säch­lich aber ist das Recht auf kör­per­liche Unversehrtheit ein neg­a­tives Recht (dass einem etwas nicht getan wird), während das Recht auf eine Kita ein pos­i­tives Recht ist. Man kann das eine nicht aus dem anderen ableiten.

Das “Auflö­sungs-Upgrade” eines trainierten Ver­stands macht sich übri­gens auch beim Bibelle­sen bemerk­bar! Das kann ich selb­st bezeugen.

Grund 5: Ein starker Intellekt macht die Kirche wieder relevant

Was ver­suchen protes­tantis­che Kirchen nicht alles heutzu­tage, um rel­e­vant zu sein! Rock­musik, Diskolichter, Shows, Assim­i­la­tion von weltlichen Buzzwords…was die Kirche jedoch wirk­lich rel­e­vant macht, ist Gottes Wort zu hören und zu tun. Alles andere ist (besten­falls) Deko­ra­tion. Und wenn wir Gottes Wort wirk­lich in allen Details begreifen und tun wollen, brauchen wir unseren Intellekt.

Im ersten Teil des erwäh­n­ten Buchs gibt More­land eine kurze his­torische Analyse des Anti-Intellek­tu­al­is­mus in christlichen Kirchen. Seit gut 200 Jahren hat die evan­ge­likale Chris­ten­heit den Gebrauch und die Kul­tivierung des Ver­stands immer weit­er zurück­ge­fahren. Dies ist, so More­land, ein­er der Haupt­gründe für den schwinden­den gesellschaftlichen Ein­fluss der Kirche. Die Prob­lematik hat ihre Wurzeln bere­its Mitte des 18. Jahrhun­derts. Die grossen Erweck­ung­spredi­ger, ange­fan­gen mit George White­field, über­be­ton­ten die unmit­tel­bare per­sön­liche Bekehrung zu Chris­tus zuun­gun­sten gründlichen Nach­denkens über die christlichen Wahrheit­sansprüche: „…emo­tionale, ein­fache, volk­stüm­liche Ansprachen anstelle von intellek­tuell wohlbe­dacht­en lehrmäs­sig präzisen Predigten“ (16). Dazu kam wenig später die soge­nan­nte „Aufk­lärung“ mit ihrem Skep­tizis­mus (Hume) und ihrer Vernei­n­ung der Ver­nun­ft in religiösen Fra­gen (Kant), die Bibelkri­tik und die Dar­win­sche Evo­lu­tion­s­the­o­rie. Plöt­zlich waren wesentliche Fun­da­mente des christlichen Glaubens in Frage gestellt: dass man über Gott wirk­lich etwas wis­sen kann; dass die Bibel das Wort Gottes ist; oder dass Gott der Schöpfer aller Lebe­we­sen ist.

Bibel­gläu­bige Chris­ten zogen sich immer mehr aus der öffentlichen Debat­te zurück, statt die säku­lare Philoso­phie mit guten Argu­menten zurück­zuweisen. Die Fol­gen waren man­nig­faltig: ein falsches Ver­ständ­nis des Ver­hält­niss­es zwis­chen Glauben und Denken, die falsche Dichotomie zwis­chen dem „Pro­fa­nen“ und dem „Heili­gen“, ein irrel­e­vantes Evan­geli­um, und sog­ar eine Schwächung der Welt­mis­sion. Der Rück­zug der Chris­ten ermöglichte aber auch die Entste­hung der radikal säku­laren Kul­tur, in der wir leben, und in der christliche Wahrheit­sansprüche wie dschi­hadis­tis­che Drohsprüche aufge­fasst werden.

Der “Mark­t­platz der Ideen” da draussen find­et so oder so statt – bess­er ist es, wenn Chris­ten sich ein­schal­ten, und dazu müssen sie ihre intellek­tuellen Hausauf­gaben gemacht haben.

Ich schlussfol­gere, dass die Kul­tivierung des christlichen Intellek­ts ein Gebot der Stunde ist. Sie ist ein göt­tlich­es Gebot, entspricht unser­er Natur, ist unab­d­ing­bar für unseren Glauben und macht die Kirche wieder wirk­lich rel­e­vant. Möge dieser Kanal ein klein­er Beitrag in diese Rich­tung sein.


[1] ESV Study Bible, Cross­way 2021

[2] Sim­pliciter bedeutet in diesem Kon­text: ohne weit­ere Spez­i­fika­tion, „ein­fach so“.

[3] J.P. More­land: Love Your God With All Your Mind – The Role of Rea­son in the Life of the Soul. Updat­ed and revised ver­sion. Nav­Press 2012

Über den Kanal

Alin Cucu

Alin Cucu, Jahrgang 1981, als Kind rumänischer Eltern in Bayern aufgewachsen. Lebt seit 2017 in Arbon, kam in die Schweiz um seiner eigentlichen Berufung – Philosoph zu sein – zu folgen, zuvor arbeitete er als Gymnasiallehrer für Biologie und Chemie. 2017 bis 2020 Forschungstätigkeit an der IAP in Liechtenstein, seit 2020 an der Uni Lausanne, 2022 Promotion ebenfalls in Lausanne. Alin ist geschieden und hat zwei Söhne.

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Kommentare zu diesen Beitrag

2 Comments

  1. Mirco

    Span­nen­der Beitrag, vie­len Dank für den Input!

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  2. Wolfgang Ackerknecht

    Stimme den Argu­menten zu, wobei der Bogen wohl weit­er ges­pan­nt wer­den kann oder sollte. Wie wird der Ver­stand ‚genährt‘? Damit Erken­nt­nisse und Weisheit zunehmen hat sich der Ver­stand Gottes Geist ‚unterord­nen‘. … was zu anderen Fra­gen führt 🙂

    Reply

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