Teil 9: Himmel und Hölle
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 9 „Wenn Bäume in die Hände klatschen: Himmel und Hölle“ ein (Seiten 210–231).
Die meisten Menschen können sich vorstellen, an einen Gott zu glauben, der Liebe ist, aber nicht an einen Gott, der Menschen in die Hölle wirft. „Wenn Gott Liebe ist, würde er doch niemals Menschen in die Hölle werfen!“
Himmel und Hölle spielen in progressiven Debatten eine wichtige Rolle. Das liberale Christentum hat die Vorstellung einer buchstäblichen Hölle schon im letzten Jahrhundert aufgegeben. Seit der Jahrtausendwende distanzieren sich auch Postevangelikale davon.
Dass Himmel und Hölle unter Diskussion stehen ist nicht erstaunlich. Das Konzept verträgt sich mit dem modernen Gerechtigkeitsempfinden und dem postmodernen Toleranzgedanken nicht. Der Hauptgrund aber dürfte sein, dass die Rede von Himmel und Hölle eine belastete Vergangenheit hat, die voller Missverständnisse ist. Im Kapitel „Himmel und Hölle“ gehe ich diesem Thema nach und untersuche belastete Begriffe wie Sünde, Hölle und Gericht. Muss man als Christ heute noch an diesen Konstrukten festhalten? Wäre es nicht zumindest einfacher, in diesem Bereich liberaler zu sein?
Das Narrativ neu schreiben
Die Kirche hat lange Zeit den Menschen buchstäblich die Hölle heiss gemacht. Es entstand das Bild eines blindwütig strafenden Gottes. Bis in jüngste Zeit haben Evangelikale und Fundamentalisten sich zum Teil an diesem Narrativ beteiligt.
Es ist an der Zeit, dass wir das Narrativ über Himmel und Hölle neu schreiben.
Für den Evangelikalismus ist dieses Thema schon immer zentral gewesen. Es hat direkt die Missionsbemühungen befeuert, die für den Evangelikalismus typisch sind und wirkte Identität stiftend.
Neuerdings haben wir Evangelikale mit dem Thema ein echtes Problem. Die Plausibilität des Narrativs von Himmel und Hölle entgleitet uns zusehends. Wenn der Evangelikalismus aus seiner Krise herausfinden will, muss er sich über seine Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) im Klaren werden. Es geht nicht nur darum, vor einer säkularen Welt, die im besten Fall geneigt ist, an einen Gott der Liebe zu glauben, die Rede von Himmel und Hölle verständlich zu machen. Es geht auch darum, im wachsenden evangelikalen Binnenpluralismus Klarheit in eschatologischer Hinsicht zu schaffen.
Was ist zu tun?
Wir brauchen jenseits von Spekulation eine feste Hoffnung. Dass Christus erscheint, zu richten die Lebenden und die Toten, wie es das Apostolische Glaubensbekenntnis sagt, muss mit der heutigen Lebensrealität verbunden werden. Es muss insbesondere nachvollziehbar werden, wie sich Himmel und Hölle zu Gottes Liebe und dem Gedanken der Gerechtigkeit verhalten. Gerechtigkeit ist ein zentraler Wert im westlichen Kulturkreis. Eine Weltanschauung oder Gottesvorstellung, die dem Gedanken der Gerechtigkeit widerspricht, ist für die meisten Zeitgenossen nicht annehmbar. Und abgesehen davon auch nicht biblisch.
Zum Begriff „Hölle“
Der Begriff „Hölle“ kommt in unseren deutschen Bibelübersetzungen zwölfmal vor (Matthäus 5,22.29.30; 10,28; 18,9; 23,15.33; Markus 9,43.45.47; Lukas 12,5; Jakobus 3,6).
Für manche möglicherweise erstaunlich: Mit einer einzigen Ausnahme ist es Jesus, der den Begriff führt. Jesus sprach häufiger und eindringlicher von der Hölle als jeder andere. Wer unmoralisch lebt (Matthäus 5,30), seinen Nächsten verachtet (Matthäus 5,22), ihm Schaden zufügt (Markus 9,43ff) oder in frommer Selbstgerechtigkeit lebt (Matthäus 23,33) ist nach Jesus ein Kandidat für die Hölle. Im Blick von Jesus sind Menschen, die bewusst gegen Gottes Willen handeln und das Gebot der Nächstenliebe missachten.
Unser deutsches Wort „Hölle“ wird vom altnordischen Begriff „hel“ abgleitet, mit dem das Totenreich bezeichnet wurde. Martin Luther wählte den Begriff „Hölle“, um das griechische Wort „Gehenna“ zu übersetzten, das hauptsächlich im Matthäusevangelium vorkommt. Dort spricht Jesus von der „Gehenna“ als dem Ort der Strafe für Übeltäter (Matthäus 5,22ff; 10,28; 18,9; 23,15ff).
„Gehenna“ ist eine griechische Wiedergabe des hebräischen „Gehinnom“. Der Begriff bedeutet „Tal von Hinnom“. Es bezeichnete ursprünglich ein im Süden von Jerusalem gelegenes Tal. Dort begingen zu alttestamentlicher Zeit die Könige Israels die schändlichste aller Sünden: Sie brachten den Götzen der Heiden rituelle Kinderopfer dar, bei denen Kinder verbrannt wurden (Jesaja 32,35). Der Prophet Jeremia kündigte an, dass dieses Tal zum Tal des Gerichts über alle Formen der Gottlosigkeit wird (Jeremia 7,31–33). In diesem Wort des Jeremia und in der schändlichen Praxis auf das es Bezug nimmt, hat das Konzept der Hölle ihren Ursprung.
Das Neue Testament beschreibt die Hölle als einen Ort des Zähneknirschens und der Finsternis. Es handelt sich um einen Ort der Abwesenheit Gottes. Die entsprechenden Mahnungen von Jesus sind eindringlich und haben fast durchwegs eine ethische Zuspitzung.
Im Buch stelle ich zwei Möglichkeiten vor, die Hölle zu interpretieren, die jüngst auch Evangelikale ernsthaft beschäftigt:
Einerseits das Konzept der ewigen Pein, wonach die Hölle unendliches Leiden und Gottferne bedeutet.
Anderseits das Konzept der Auslöschung, wonach die Hölle Auslöschung der Existenz bedeutet und damit gerade nicht ewiges Leiden.
Vor allem aber gehe ich auf ein weiters Thema ein, das die Diskussion um die Hölle aus meiner Sicht in die richtige Richtung lenkt:
Sehnsucht nach Gerechtigkeit
Der Jüngste Tag als Gottes grosser Tag des Gerichts ist ein konstitutiver Teil des Evangeliums. Es ist buchstäblich „Evangelium“, weil es darum geht, dass Gott durch Gericht Gerechtigkeit schafft. Dieser Gedanke hat das Potenzial, die Diskussion um die Hölle in eine neue Richtung zu lenken. Der unfruchtbare Gedanke blindwütigen Strafens, der den Diskurs über die Hölle vergiftet hat, könnte so biblisch überwunden werden.
Im Mittelalter hat die Kirche die Menschen mit der Lehre von der Hölle in Angst und Schrecken versetzt. Im kollektiven Gedächtnis hat sich das Bild eines zornigen Gottes festgesetzt. Nur schon die Erwähnung des Begriffs „Hölle“ ruft Abscheu hervor. Wenn es irgendeine Lehre gibt, die man aus der Bibel streichen könnte, würden sich viele Leute für die Hölle entscheiden.
Der Fokus der Bibel ist ein anderer: Wenn vom Tag des Gerichts und vom Verloren sein die Rede ist, geht es nicht um blindwütiges Strafen eines zornigen Gottes, sondern um Gerechtigkeit in ihrer reinsten Form. Gott erscheint in der Geschichte, um das Böse zu überwinden und Gerechtigkeit aufzurichten.
Gott wird am Ende der Geschichte aus seiner Verborgenheit heraustreten und am Jüngsten Tag die Welt in Gerechtigkeit richten. Diese grosse Erwartung gehörte von Anfang an zum Grundbestand des christlichen Glaubens.
Die Alte Kirche erkannte im Weltgericht nicht ein Zusatz zum Evangelium, sondern zählte es zum Glaubensbestand, an dem bekenntnisartig festzuhalten ist. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis gehört das Gericht über die Lebenden und die Toten zur christlichen Hoffnung:
„Ich glaube an Jesus Christus … Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters. Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube … an die Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“
Luther hat ausgehend von den entscheidenden biblischen Texten den Begriff „Jüngster Tag“ geschmiedet. Er bedeutet „allerletzter Tag“ und bringt zum Ausdruck, dass am Ende der Geschichte Gott steht. Zwischen der alten Welt, wie wir sie kennen, und der neuen Welt, die wir erwarten, steht der Jüngste Tag. Es geht beim Jüngsten Tag um einen finalen Akt, durch den Gott die Verhältnisse ein für alle Mal zurechtrückt:
Der Jüngste Tag funktioniert wie ein grosses Völkertribunal, an dem alles ans Licht kommt. In diesem grossen Finale wird nichts Gutes unbelohnt und nichts Schlechtes ungestraft bleiben. Der Jüngste Tag ist der grosse Tag der Wahrheit, an dem alles ins Lot gebracht wird, was aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Im Grunde genommen ist es genau das, worauf wir Menschen hoffen. Wir wünschen uns eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit. Wir starren entsetzt auf die Bilder von Krieg und Zerstörung. Irgendetwas in uns sagt, dass die Verhältnisse eines Tages zurechtgerückt werden müssen. Ob Christ oder Moslem, Agnostiker oder Atheist – diese Sehnsucht lebt in jedem Menschen.
Der Fokus der biblischen Eschatologie ist ganz auf den Gedanken der Gerechtigkeit gerichtet. Wenn Gott am Jüngsten Tag die Menschheit richtet, wird zum ersten Mal auf dieser Welt Gerechtigkeit herrschen. Gott wird den Menschen nicht mehr und nicht weniger geben als ihre Taten wert sind (Römer 2,14). Wenn es diesen Tag nicht gibt, hat der Mörder weder recht noch unrecht und die Welt würde nie ins Lot kommen.
Der Gedanke der Gerechtigkeit lenkt meines Erachtens die Debatten um die Hölle in die richtige Richtung. Er richtet unsere Aufmerksamkeit auf Gottes Gerechtigkeit, Liebe und Heiligkeit. Er korrespondiert mit dem Bild Gottes, das mit Jesus sichtbar wird. Jesus ist die letztgültige Offenbarung Gottes und sein unverfälschtes Abbild. Wenn Gott ist, wie in Jesus sichtbar wird, muss der Gedanke der Hölle und des Zornes eingebettet sein in die sich schenkende und aufopfernde Liebe Gottes.
Der Jüngste Tag als Tribunal, an dem Gerechtigkeit geschaffen wird, entspricht diesem Bild. Vielleicht sollten wir, um dieses Bild klarer zu sehen, auf die Verwendung des Begriffs „Hölle“ verzichten. Der Begriff hat eine belastete Vergangenheit und weckt falsche Vorstellungen. Die Rede von Leben und Tod, Licht und Finsternis oder Gottesnähe und Gottesferne reichen aus, um zu umschreiben, was auf dem Spiel steht.
Am Schluss des Kapitels bringe ich ein Argument vor, über das viele stolpern und die Ergebnisse des Kapitels auf den Punkt bringt:
Die Hölle ist nicht das Gegenteil von Liebe, sondern das Gegenteil von Ungerechtigkeit!
Als ich diesen Gedanken in einem anderen Buch verarbeitete, markierte mir der Lektor den Satz mit der Bemerkung, ich hätte mich wohl verschrieben. Hatte ich aber nicht. Es ist genau das, worum es in der Eschatologie geht. Im Kapitel über Himmel und Hölle erkläre ich es genauer.
Titelbild: iStock
Unser Gespräch zum Buch:
Vielen Dank für Ihre Ausführungen zu diesem brisanten Thema!
In letzter Zeit bin ich mehrfach gefragt worden: “Glaubst du wirklich an die Hölle?!” Nein — ich “glaube” an das Gericht am Jüngsten Tag im Sinne des Ausübens von Gerechtigkeit! Gerade OHNE diese Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Endgericht käme m.E. das Vertrauen in einen gerechten Gott gewaltig ins Wanken. — Ich bin gespannt auf Ihre weiteren Ausführungen.