Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 9/10

Lesezeit: 6 Minuten
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by Roland Hardmeier | 12. Jan. 2025 | 1 comment

Teil 9: Himmel und Hölle

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 9 „Wenn Bäume in die Hände klatschen: Him­mel und Hölle“ ein (Seit­en 210–231).

Die meis­ten Men­schen kön­nen sich vorstellen, an einen Gott zu glauben, der Liebe ist, aber nicht an einen Gott, der Men­schen in die Hölle wirft. „Wenn Gott Liebe ist, würde er doch niemals Men­schen in die Hölle werfen!“

Him­mel und Hölle spie­len in pro­gres­siv­en Debat­ten eine wichtige Rolle. Das lib­erale Chris­ten­tum hat die Vorstel­lung ein­er buch­stäblichen Hölle schon im let­zten Jahrhun­dert aufgegeben. Seit der Jahrtausendwende dis­tanzieren sich auch Poste­van­ge­likale davon.

Dass Him­mel und Hölle unter Diskus­sion ste­hen ist nicht erstaunlich. Das Konzept verträgt sich mit dem mod­er­nen Gerechtigkeit­sempfind­en und dem post­mod­er­nen Tol­er­anzgedanken nicht. Der Haupt­grund aber dürfte sein, dass die Rede von Him­mel und Hölle eine belastete Ver­gan­gen­heit hat, die voller Missver­ständ­nisse ist. Im Kapi­tel „Him­mel und Hölle“ gehe ich diesem The­ma nach und unter­suche belastete Begriffe wie Sünde, Hölle und Gericht. Muss man als Christ heute noch an diesen Kon­struk­ten fes­thal­ten? Wäre es nicht zumin­d­est ein­fach­er, in diesem Bere­ich lib­eraler zu sein?

Das Narrativ neu schreiben

Die Kirche hat lange Zeit den Men­schen buch­stäblich die Hölle heiss gemacht. Es ent­stand das Bild eines blind­wütig strafend­en Gottes. Bis in jüng­ste Zeit haben Evan­ge­likale und Fun­da­men­tal­is­ten sich zum Teil an diesem Nar­ra­tiv beteiligt.

Es ist an der Zeit, dass wir das Nar­ra­tiv über Him­mel und Hölle neu schreiben.

Für den Evan­ge­likalis­mus ist dieses The­ma schon immer zen­tral gewe­sen. Es hat direkt die Mis­sions­be­mühun­gen befeuert, die für den Evan­ge­likalis­mus typ­isch sind und wirk­te Iden­tität stiftend.

Neuerd­ings haben wir Evan­ge­likale mit dem The­ma ein echt­es Prob­lem. Die Plau­si­bil­ität des Nar­ra­tivs von Him­mel und Hölle ent­gleit­et uns zuse­hends. Wenn der Evan­ge­likalis­mus aus sein­er Krise her­aus­find­en will, muss er sich über seine Escha­tolo­gie (Lehre von den let­zten Din­gen) im Klaren wer­den. Es geht nicht nur darum, vor ein­er säku­laren Welt, die im besten Fall geneigt ist, an einen Gott der Liebe zu glauben, die Rede von Him­mel und Hölle ver­ständlich zu machen. Es geht auch darum, im wach­senden evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­is­mus Klarheit in escha­tol­o­gis­ch­er Hin­sicht zu schaffen.

Was ist zu tun?

Wir brauchen jen­seits von Speku­la­tion eine feste Hoff­nung. Dass Chris­tus erscheint, zu richt­en die Leben­den und die Toten, wie es das Apos­tolis­che Glaubens­beken­nt­nis sagt, muss mit der heuti­gen Leben­sre­al­ität ver­bun­den wer­den. Es muss ins­beson­dere nachvol­lziehbar wer­den, wie sich Him­mel und Hölle zu Gottes Liebe und dem Gedanken der Gerechtigkeit ver­hal­ten. Gerechtigkeit ist ein zen­traler Wert im west­lichen Kul­turkreis. Eine Weltan­schau­ung oder Gottesvorstel­lung, die dem Gedanken der Gerechtigkeit wider­spricht, ist für die meis­ten Zeitgenossen nicht annehm­bar. Und abge­se­hen davon auch nicht biblisch.

Zum Begriff „Hölle“

Der Begriff „Hölle“ kommt in unseren deutschen Bibelüber­set­zun­gen zwölf­mal vor (Matthäus 5,22.29.30; 10,28; 18,9; 23,15.33; Markus 9,43.45.47; Lukas 12,5; Jakobus 3,6).

Für manche möglicher­weise erstaunlich: Mit ein­er einzi­gen Aus­nahme ist es Jesus, der den Begriff führt. Jesus sprach häu­figer und ein­dringlich­er von der Hölle als jed­er andere. Wer unmoralisch lebt (Matthäus 5,30), seinen Näch­sten ver­achtet (Matthäus 5,22), ihm Schaden zufügt (Markus 9,43ff) oder in from­mer Selb­st­gerechtigkeit lebt (Matthäus 23,33) ist nach Jesus ein Kan­di­dat für die Hölle. Im Blick von Jesus sind Men­schen, die bewusst gegen Gottes Willen han­deln und das Gebot der Näch­sten­liebe missachten.

Unser deutsches Wort „Hölle“ wird vom alt­nordis­chen Begriff „hel“ abgleit­et, mit dem das Toten­re­ich beze­ich­net wurde. Mar­tin Luther wählte den Begriff „Hölle“, um das griechis­che Wort „Gehen­na“ zu über­set­zten, das haupt­säch­lich im Matthäu­se­van­geli­um vorkommt. Dort spricht Jesus von der „Gehen­na“ als dem Ort der Strafe für Übeltäter (Matthäus 5,22ff; 10,28; 18,9; 23,15ff).

„Gehen­na“ ist eine griechis­che Wieder­gabe des hebräis­chen „Gehin­nom“. Der Begriff bedeutet „Tal von Hin­nom“. Es beze­ich­nete ursprünglich ein im Süden von Jerusalem gele­genes Tal. Dort beg­in­gen zu alttes­ta­mentlich­er Zeit die Könige Israels die schändlich­ste aller Sün­den: Sie bracht­en den Götzen der Hei­den rit­uelle Kinderopfer dar, bei denen Kinder ver­bran­nt wur­den (Jesa­ja 32,35). Der Prophet Jere­mia kündigte an, dass dieses Tal zum Tal des Gerichts über alle For­men der Got­t­losigkeit wird (Jere­mia 7,31–33). In diesem Wort des Jere­mia und in der schändlichen Prax­is auf das es Bezug nimmt, hat das Konzept der Hölle ihren Ursprung.

Das Neue Tes­ta­ment beschreibt die Hölle als einen Ort des Zäh­neknirschens und der Fin­ster­n­is. Es han­delt sich um einen Ort der Abwe­sen­heit Gottes. Die entsprechen­den Mah­nun­gen von Jesus sind ein­dringlich und haben fast durch­wegs eine ethis­che Zuspitzung.

Im Buch stelle ich zwei Möglichkeit­en vor, die Hölle zu inter­pretieren, die jüngst auch Evan­ge­likale ern­sthaft beschäftigt:

Ein­er­seits das Konzept der ewigen Pein, wonach die Hölle unendlich­es Lei­den und Got­tferne bedeutet.

Ander­seits das Konzept der Aus­löschung, wonach die Hölle Aus­löschung der Exis­tenz bedeutet und damit ger­ade nicht ewiges Leiden.

Vor allem aber gehe ich auf ein weit­ers The­ma ein, das die Diskus­sion um die Hölle aus mein­er Sicht in die richtige Rich­tung lenkt:

Sehnsucht nach Gerechtigkeit

Der Jüng­ste Tag als Gottes gross­er Tag des Gerichts ist ein kon­sti­tu­tiv­er Teil des Evan­geli­ums. Es ist buch­stäblich „Evan­geli­um“, weil es darum geht, dass Gott durch Gericht Gerechtigkeit schafft. Dieser Gedanke hat das Poten­zial, die Diskus­sion um die Hölle in eine neue Rich­tung zu lenken. Der unfrucht­bare Gedanke blind­wüti­gen Strafens, der den Diskurs über die Hölle vergiftet hat, kön­nte so bib­lisch über­wun­den werden.

Im Mit­te­lal­ter hat die Kirche die Men­schen mit der Lehre von der Hölle in Angst und Schreck­en ver­set­zt. Im kollek­tiv­en Gedächt­nis hat sich das Bild eines zorni­gen Gottes fest­ge­set­zt. Nur schon die Erwäh­nung des Begriffs „Hölleruft Abscheu her­vor. Wenn es irgen­deine Lehre gibt, die man aus der Bibel stre­ichen kön­nte, wür­den sich viele Leute für die Hölle entscheiden.

Der Fokus der Bibel ist ein ander­er: Wenn vom Tag des Gerichts und vom Ver­loren sein die Rede ist, geht es nicht um blind­wütiges Strafen eines zorni­gen Gottes, son­dern um Gerechtigkeit in ihrer rein­sten Form. Gott erscheint in der Geschichte, um das Böse zu über­winden und Gerechtigkeit aufzurichten.

Gott wird am Ende der Geschichte aus sein­er Ver­bor­gen­heit her­aus­treten und am Jüng­sten Tag die Welt in Gerechtigkeit richt­en. Diese grosse Erwartung gehörte von Anfang an zum Grundbe­stand des christlichen Glaubens.

Die Alte Kirche erkan­nte im Welt­gericht nicht ein Zusatz zum Evan­geli­um, son­dern zählte es zum Glaubens­be­stand, an dem beken­nt­nis­ar­tig festzuhal­ten ist. Im Apos­tolis­chen Glaubens­beken­nt­nis gehört das Gericht über die Leben­den und die Toten zur christlichen Hoffnung:

„Ich glaube an Jesus Chris­tus … Er sitzt zur Recht­en Gottes, des allmächti­gen Vaters. Von dort wird er kom­men, zu richt­en die Leben­den und die Toten. Ich glaube … an die Verge­bung der Sün­den, Aufer­ste­hung der Toten und das ewige Leben.“

Luther hat aus­ge­hend von den entschei­den­den bib­lis­chen Tex­ten den Begriff „Jüng­ster Tag“ geschmiedet. Er bedeutet „aller­let­zter Tag“ und bringt zum Aus­druck, dass am Ende der Geschichte Gott ste­ht. Zwis­chen der alten Welt, wie wir sie ken­nen, und der neuen Welt, die wir erwarten, ste­ht der Jüng­ste Tag. Es geht beim Jüng­sten Tag um einen finalen Akt, durch den Gott die Ver­hält­nisse ein für alle Mal zurechtrückt:

Der Jüng­ste Tag funk­tion­iert wie ein gross­es Völk­er­tri­bunal, an dem alles ans Licht kommt. In diesem grossen Finale wird nichts Gutes unbe­lohnt und nichts Schlecht­es unges­traft bleiben. Der Jüng­ste Tag ist der grosse Tag der Wahrheit, an dem alles ins Lot gebracht wird, was aus dem Gle­ichgewicht ger­at­en ist.

Im Grunde genom­men ist es genau das, worauf wir Men­schen hof­fen. Wir wün­schen uns eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit. Wir star­ren entset­zt auf die Bilder von Krieg und Zer­störung. Irgen­det­was in uns sagt, dass die Ver­hält­nisse eines Tages zurecht­gerückt wer­den müssen. Ob Christ oder Moslem, Agnos­tik­er oder Athe­ist – diese Sehn­sucht lebt in jedem Menschen.

Der Fokus der bib­lis­chen Escha­tolo­gie ist ganz auf den Gedanken der Gerechtigkeit gerichtet. Wenn Gott am Jüng­sten Tag die Men­schheit richtet, wird zum ersten Mal auf dieser Welt Gerechtigkeit herrschen. Gott wird den Men­schen nicht mehr und nicht weniger geben als ihre Tat­en wert sind (Römer 2,14). Wenn es diesen Tag nicht gibt, hat der Mörder wed­er recht noch unrecht und die Welt würde nie ins Lot kommen.

Der Gedanke der Gerechtigkeit lenkt meines Eracht­ens die Debat­ten um die Hölle in die richtige Rich­tung. Er richtet unsere Aufmerk­samkeit auf Gottes Gerechtigkeit, Liebe und Heiligkeit. Er kor­re­spondiert mit dem Bild Gottes, das mit Jesus sicht­bar wird. Jesus ist die let­zt­gültige Offen­barung Gottes und sein unver­fälscht­es Abbild. Wenn Gott ist, wie in Jesus sicht­bar wird, muss der Gedanke der Hölle und des Zornes einge­bet­tet sein in die sich schenk­ende und aufopfer­nde Liebe Gottes.

Der Jüng­ste Tag als Tri­bunal, an dem Gerechtigkeit geschaf­fen wird, entspricht diesem Bild. Vielle­icht soll­ten wir, um dieses Bild klar­er zu sehen, auf die Ver­wen­dung des Begriffs „Hölle“ verzicht­en. Der Begriff hat eine belastete Ver­gan­gen­heit und weckt falsche Vorstel­lun­gen. Die Rede von Leben und Tod, Licht und Fin­ster­n­is oder Gottes­nähe und Gottes­ferne reichen aus, um zu umschreiben, was auf dem Spiel steht.

Am Schluss des Kapi­tels bringe ich ein Argu­ment vor, über das viele stolpern und die Ergeb­nisse des Kapi­tels auf den Punkt bringt:

Die Hölle ist nicht das Gegen­teil von Liebe, son­dern das Gegen­teil von Ungerechtigkeit!

Als ich diesen Gedanken in einem anderen Buch ver­ar­beit­ete, markierte mir der Lek­tor den Satz mit der Bemerkung, ich hätte mich wohl ver­schrieben. Hat­te ich aber nicht. Es ist genau das, worum es in der Escha­tolo­gie geht. Im Kapi­tel über Him­mel und Hölle erk­läre ich es genauer.


Titel­bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch:

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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Kommentare zu diesen Beitrag

1 Comment

  1. Vreni Wirth

    Vie­len Dank für Ihre Aus­führun­gen zu diesem brisan­ten Thema!
    In let­zter Zeit bin ich mehrfach gefragt wor­den: “Glaub­st du wirk­lich an die Hölle?!” Nein — ich “glaube” an das Gericht am Jüng­sten Tag im Sinne des Ausübens von Gerechtigkeit! Ger­ade OHNE diese Vorstel­lung ein­er aus­gle­ichen­den Gerechtigkeit im Endgericht käme m.E. das Ver­trauen in einen gerecht­en Gott gewaltig ins Wanken. — Ich bin ges­pan­nt auf Ihre weit­eren Ausführungen.

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