Teil 10: Christsein nach der Zeitenwende
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 10 „Verspielen die Evangelikalen ihre Zukunft? Christsein nach der Zeitenwende“ ein (Seiten 232–290).
Man kann es nicht schönreden: Das Christentum befindet sich in einer tiefen Krise. Zumindest gilt das für die westliche Welt. Noch nie in unserer Geschichte waren wir intellektuell so zerrissen, ethisch so orientierungslos und gesellschaftlich so irrelevant wie heute.
Die Postmoderne ist eine weltanschauliche und religiöse Zeitenwende. Eine Rückkehr zum konstantinischen Zeitalter, als die Kirche ein mächtiger gesellschaftlicher Faktor war, wird es nicht geben. Trotzdem wird die entchristlichte Gesellschaft auch in Zukunft Religion brauchen, wie der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Demokratie braucht Religion“ argumentiert. Im abschliessenden Kapitel meines Buches frage ich mit Blick auf die evangelikale Bewegung: Welche Art von Religion hat Zukunft?
Eine schicksalshafte Frage
Der Druck der Mehrheitskultur auf die Religion hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Ich habe in den 9 Beiträgen gezeigt, dass die Reaktionen darauf unterschiedlich sind:
Fundamentalisten verabschieden sich ins gesellschaftliche Niemandsland. So können sie Spannungen verringern, welche die Auseinandersetzung mit der postmodernen Kultur mit sich bringt. Der fundamentalistische Rückzug ist für viele attraktiv, weil er Sicherheit vor einer gefährlichen und bösen Welt bietet.
Progressive bevorzugen liberale Positionen. Sie suchen den bruchlosen Anschluss an die Postmoderne lassen traditionelle Vorstellungen hinter sich. Dadurch lässt sich Frieden mit der Mehrheitskultur schliessen. Wer sich dieser Kolonne anschliesst, ist sicher vor dem Zeitgeist.
Die Evangelikalen spüren Polarisierungen besonders stark. Sie realisieren, dass ihre Weltanschauung und die postmoderne Lebenswelt immer mehr auseinanderdriften. Sie möchten in ihrem Glauben anschlussfähig an die Mehrheitskultur sein, aber nicht um jeden Preis. Das progressive Christentum ist ihnen zu liberal, mit der fundamentalistischen Weltverneinung können sie sich nicht identifizieren. Für diese Mitte skizziere ich im Kapitel einen Weg in die Zukunft. Wohin unser Weg als Evangelikale führt, entscheidet sich an unserem Verhältnis zur Kultur:
Als Evangelikale stehen wir vor der schicksalshaften Frage, welches Verhältnis wir zur postmodernen Kultur einnehmen. Wie kann unser Glaube anschlussfähig an die Postmoderne werden, ohne dass wir den Grundbestand des Glaubens und unsere ethischen Wertsetzungen preisgeben?
Glaube, der nicht anschlussfähig an die Lebensrealität ist, bleibt wirkungslos. Der christliche Glaube ist stets dort lebendig gewesen, wo er fest in der Bibel verwurzelt war und wo sich Christen offen auf die Umgebungskultur eingestellt haben. Dieses Mindset müssen wir in der gegenwärtigen Krise verinnerlichen.
Polarisierungen sind attraktiv, aber toxisch. Ich bin überzeugt, dass das Christentum in Zukunft weder in progressiven noch in fundamentalistischen Formen eine nennenswerte Rolle spielen wird. Das progressive Christentum hat wenig spezifisch Christliches zu sagen und wird zum Salz, das nicht mehr salzt. Fundamentalistische Formen des Glaubens verlieren den Anschluss an die heutige Lebenswelt vollends und werden sprachlos.
Wir brauchen ein Evangelium der Mitte!
Der Evangelikalismus ist prädestiniert, eine Mitte zwischen progressiver Weltumarmung und fundamentalistischer Weltverneinung zu bilden. Wir brauchen Fundament, aber keinen Fundamentalismus. Wir brauchen Perspektiven, aber keine progressive Auflösung des Glaubensbestands. Wir brauchen Christen, die fundiert unfundamentalistisch glauben, denken und handeln. Mein Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite ein Plädoyer für diese Einstellung.
4 grosse Aufgaben
Das Christsein nach der Zeitenwende muss anders sein als das Christsein zuvor: Mutig und zugleich demütig, eigenständig und zugleich anschlussfähig. Ich sehe vier grosse Aufgaben vor uns, die wir als evangelikale Christen, Theologen und Pastoren mit Entschlossenheit angehen müssen, wenn wir unsere Zukunft nicht verspielen wollen:
- Wir müssen uns daran erinnern, welche überragende Bedeutung das vertrauensvolle Lesen der Heiligen Schrift für einen lebendigen Glauben hat und dieses Lesen mit einem festen Fundament versehen.
- Wir müssen einen Grundbestand des Glaubens sichern, ohne einem unfruchtbaren Dogmatismus zu verfallen.
- Wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass das Evangelium ein Ruf ist, einer Gegenkultur beizutreten und in diesem Zusammenhang unser Verständnis von Kirche überdenken.
- Wir müssen eine Ethik entwickeln, die uns über theologische Richtigkeiten hinaus hilft, entscheidungsfähig zu sein und verantwortlich zu handeln.
Ich nehme mir im Buch fast 50 Seiten Zeit, um diese 4 grossen Aufgaben zu beschreiben. Nachdem ich 9 Kapitel lang Analysen geliefert und persönliche Beobachtungen geteilt habe, ist es mir ein Anliegen, in die Zukunft zu blicken. Der christliche Glaube erschöpft sich nicht in Richtigkeiten. Es genügt nicht, sich im Klaren zu sein, was man ablehnt. Denn dadurch bewirtschaftet man Probleme, anstatt sie zu lösen. Wir müssen das Evangelium in unsere entchristlichte Gesellschaft hineinvermitteln und seine Relevanz und Schönheit zeigen.
Ich glaube, dass es gegenwärtig um viel geht. Wir müssen aufzeigen, dass wir eine Theologie haben, die uns hilft, verantwortlich zu handeln. Gegenwärtig wird der konservative Protestantismus, zu dem die Evangelikalen gehören, als Problem wahrgenommen und nicht als Teil der Lösung. Das müssen wir ändern. Und dazu müssen wir unsere Hausaufgaben machen.
Bei allem fragen, wie Glaube in der Postmoderne gelebt werden soll, sollten wir im Auge behalten, dass letztlich alle unsere Auffassungen auf das Schriftverständnis zurückfallen. Bei den Recherchen zu meinem Buch ist mir deutlich geworden:
Wenn uns nicht völlig klar ist, was wir glauben und wie sich unser Glaube aus der Heiligen Schrift herleitet, ist die evangelikale Bewegung in zwei oder drei Generationen ein unbedeutend kleines Binnengewässer, das im Meer der postmodernen Möglichkeiten an Bedeutung verliert und schliesslich austrocknet.
Ich hoffe, mit meinem Buch einen Beitrag zu leisten, dass wir als Christen den Mut und die Weitsicht haben, in der Welt der Postmoderne fundiert unfundamentalistisch zu glauben, zu denken und zu handeln.
Bild: iStock
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