Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist 10/10

Lesezeit: 4 Minuten
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by Roland Hardmeier | 17. Jan. 2025 | 0 comments

Teil 10: Christsein nach der Zeitenwende

In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evan­ge­likale zwis­chen fun­da­men­tal­is­tisch und poste­van­ge­likal“ befasse ich mich mit der religiösen Land­schaft und der evan­ge­likalen Bin­nen­plu­ral­isierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen drit­ten Weg zwis­chen einem bib­lizis­tis­chen Fun­da­men­tal­is­mus und dem Post-Evan­ge­likalis­mus auf.

In diesem Beitrag führe ich in Kapi­tel 10 „Ver­spie­len die Evan­ge­likalen ihre Zukun­ft? Christ­sein nach der Zeit­en­wende“ ein (Seit­en 232–290).

Man kann es nicht schönre­den: Das Chris­ten­tum befind­et sich in ein­er tiefen Krise. Zumin­d­est gilt das für die west­liche Welt. Noch nie in unser­er Geschichte waren wir intellek­tuell so zer­ris­sen, ethisch so ori­en­tierungs­los und gesellschaftlich so irrel­e­vant wie heute.

Die Post­mod­erne ist eine weltan­schauliche und religiöse Zeit­en­wende. Eine Rück­kehr zum kon­stan­ti­nis­chen Zeital­ter, als die Kirche ein mächtiger gesellschaftlich­er Fak­tor war, wird es nicht geben. Trotz­dem wird die entchristlichte Gesellschaft auch in Zukun­ft Reli­gion brauchen, wie der Sozi­ologe Hart­mut Rosa in seinem Buch „Demokratie braucht Reli­gion“ argu­men­tiert. Im abschliessenden Kapi­tel meines Buch­es frage ich mit Blick auf die evan­ge­likale Bewe­gung: Welche Art von Reli­gion hat Zukunft?

Eine schicksalshafte Frage

Der Druck der Mehrheit­skul­tur auf die Reli­gion hat in den let­zten Jahren stark zugenom­men. Ich habe in den 9 Beiträ­gen gezeigt, dass die Reak­tio­nen darauf unter­schiedlich sind:

Fun­da­men­tal­is­ten ver­ab­schieden sich ins gesellschaftliche Nie­mand­s­land. So kön­nen sie Span­nun­gen ver­ringern, welche die Auseinan­der­set­zung mit der post­mod­er­nen Kul­tur mit sich bringt. Der fun­da­men­tal­is­tis­che Rück­zug ist für viele attrak­tiv, weil er Sicher­heit vor ein­er gefährlichen und bösen Welt bietet.

Pro­gres­sive bevorzu­gen lib­erale Posi­tio­nen. Sie suchen den bruchlosen Anschluss an die Post­mod­erne lassen tra­di­tionelle Vorstel­lun­gen hin­ter sich. Dadurch lässt sich Frieden mit der Mehrheit­skul­tur schliessen. Wer sich dieser Kolonne anschliesst, ist sich­er vor dem Zeitgeist.

Die Evan­ge­likalen spüren Polar­isierun­gen beson­ders stark. Sie real­isieren, dass ihre Weltan­schau­ung und die post­mod­erne Lebenswelt immer mehr auseinan­der­driften. Sie möcht­en in ihrem Glauben anschlussfähig an die Mehrheit­skul­tur sein, aber nicht um jeden Preis. Das pro­gres­sive Chris­ten­tum ist ihnen zu lib­er­al, mit der fun­da­men­tal­is­tis­chen Weltvernei­n­ung kön­nen sie sich nicht iden­ti­fizieren. Für diese Mitte skizziere ich im Kapi­tel einen Weg in die Zukun­ft. Wohin unser Weg als Evan­ge­likale führt, entschei­det sich an unserem Ver­hält­nis zur Kultur:

Als Evan­ge­likale ste­hen wir vor der schick­sal­shaften Frage, welch­es Ver­hält­nis wir zur post­mod­er­nen Kul­tur ein­nehmen. Wie kann unser Glaube anschlussfähig an die Post­mod­erne wer­den, ohne dass wir den Grundbe­stand des Glaubens und unsere ethis­chen Wert­set­zun­gen preisgeben?

Glaube, der nicht anschlussfähig an die Leben­sre­al­ität ist, bleibt wirkungs­los. Der christliche Glaube ist stets dort lebendig gewe­sen, wo er fest in der Bibel ver­wurzelt war und wo sich Chris­ten offen auf die Umge­bungskul­tur eingestellt haben. Dieses Mind­set müssen wir in der gegen­wär­ti­gen Krise verinnerlichen.

Polar­isierun­gen sind attrak­tiv, aber tox­isch. Ich bin überzeugt, dass das Chris­ten­tum in Zukun­ft wed­er in pro­gres­siv­en noch in fun­da­men­tal­is­tis­chen For­men eine nen­nenswerte Rolle spie­len wird. Das pro­gres­sive Chris­ten­tum hat wenig spez­i­fisch Christlich­es zu sagen und wird zum Salz, das nicht mehr salzt. Fun­da­men­tal­is­tis­che For­men des Glaubens ver­lieren den Anschluss an die heutige Lebenswelt vol­lends und wer­den sprachlos.

Wir brauchen ein Evangelium der Mitte!

Der Evan­ge­likalis­mus ist prädes­tiniert, eine Mitte zwis­chen pro­gres­siv­er Wel­tumar­mung und fun­da­men­tal­is­tis­ch­er Weltvernei­n­ung zu bilden. Wir brauchen Fun­da­ment, aber keinen Fun­da­men­tal­is­mus. Wir brauchen Per­spek­tiv­en, aber keine pro­gres­sive Auflö­sung des Glaubens­be­stands. Wir brauchen Chris­ten, die fundiert unfun­da­men­tal­is­tisch glauben, denken und han­deln. Mein Buch ist von der ersten bis zur let­zten Seite ein Plä­doy­er für diese Einstellung.

4 grosse Aufgaben

Das Christ­sein nach der Zeit­en­wende muss anders sein als das Christ­sein zuvor: Mutig und zugle­ich demütig, eigen­ständig und zugle­ich anschlussfähig. Ich sehe vier grosse Auf­gaben vor uns, die wir als evan­ge­likale Chris­ten, The­olo­gen und Pas­toren mit Entschlossen­heit ange­hen müssen, wenn wir unsere Zukun­ft nicht ver­spie­len wollen:

  1. Wir müssen uns daran erin­nern, welche über­ra­gende Bedeu­tung das ver­trauensvolle Lesen der Heili­gen Schrift für einen lebendi­gen Glauben hat und dieses Lesen mit einem fes­ten Fun­da­ment versehen.
  2. Wir müssen einen Grundbe­stand des Glaubens sich­ern, ohne einem unfrucht­baren Dog­ma­tismus zu verfallen.
  3. Wir müssen ein Ver­ständ­nis dafür entwick­eln, dass das Evan­geli­um ein Ruf ist, ein­er Gegenkul­tur beizutreten und in diesem Zusam­men­hang unser Ver­ständ­nis von Kirche überdenken.
  4. Wir müssen eine Ethik entwick­eln, die uns über the­ol­o­gis­che Richtigkeit­en hin­aus hil­ft, entschei­dungs­fähig zu sein und ver­ant­wortlich zu handeln.

Ich nehme mir im Buch fast 50 Seit­en Zeit, um diese 4 grossen Auf­gaben zu beschreiben. Nach­dem ich 9 Kapi­tel lang Analy­sen geliefert und per­sön­liche Beobach­tun­gen geteilt habe, ist es mir ein Anliegen, in die Zukun­ft zu blick­en. Der christliche Glaube erschöpft sich nicht in Richtigkeit­en. Es genügt nicht, sich im Klaren zu sein, was man ablehnt. Denn dadurch bewirtschaftet man Prob­leme, anstatt sie zu lösen. Wir müssen das Evan­geli­um in unsere entchristlichte Gesellschaft hinein­ver­mit­teln und seine Rel­e­vanz und Schön­heit zeigen.

Ich glaube, dass es gegen­wär­tig um viel geht. Wir müssen aufzeigen, dass wir eine The­olo­gie haben, die uns hil­ft, ver­ant­wortlich zu han­deln. Gegen­wär­tig wird der kon­ser­v­a­tive Protes­tantismus, zu dem die Evan­ge­likalen gehören, als Prob­lem wahrgenom­men und nicht als Teil der Lösung. Das müssen wir ändern. Und dazu müssen wir unsere Hausauf­gaben machen.

Bei allem fra­gen, wie Glaube in der Post­mod­erne gelebt wer­den soll, soll­ten wir im Auge behal­ten, dass let­ztlich alle unsere Auf­fas­sun­gen auf das Schriftver­ständ­nis zurück­fall­en. Bei den Recherchen zu meinem Buch ist mir deut­lich geworden:

Wenn uns nicht völ­lig klar ist, was wir glauben und wie sich unser Glaube aus der Heili­gen Schrift her­leit­et, ist die evan­ge­likale Bewe­gung in zwei oder drei Gen­er­a­tio­nen ein unbe­deu­tend kleines Bin­nengewäss­er, das im Meer der post­mod­er­nen Möglichkeit­en an Bedeu­tung ver­liert und schliesslich austrocknet.

Ich hoffe, mit meinem Buch einen Beitrag zu leis­ten, dass wir als Chris­ten den Mut und die Weit­sicht haben, in der Welt der Post­mod­erne fundiert unfun­da­men­tal­is­tisch zu glauben, zu denken und zu handeln.


Bild: iStock


Unser Gespräch zum Buch:

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

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