Teil 8: Gender
In meinem Buch „Glaube, der trägt, wenn alles im Fluss ist. Evangelikale zwischen fundamentalistisch und postevangelikal“ befasse ich mich mit der religiösen Landschaft und der evangelikalen Binnenpluralisierung seit der Jahrtausendwende. Das Buch zeigt einen dritten Weg zwischen einem biblizistischen Fundamentalismus und dem Post-Evangelikalismus auf.
In diesem Beitrag führe ich in Kapitel 8 „Wovon Progressive ständig reden: Gender“ ein (Seiten 174–209).
In einem Buch über den gegenwärtigen Zustand der Christenheit kommt man nicht umhin, sich zum Thema „Gender“ zu äussern.
Gespaltene Christenheit
Die Einstellung der Kirchen zur Sexualität stösst in der postmodernen Gesellschaft weitgehend auf Unverständnis. Insbesondere Genderfragen bewegen die Gemüter.
Die Christenheit ist in Genderfragen tief gespalten. Während Progressive sich der Mehrheitskultur anpassen, haben Fundamentalisten den Weg in die Verweigerung angetreten.
Die Forderung nach Akzeptanz von homosexuellen und transsexuellen Lebensformen reisst tiefe Gräben in der evangelikalen Landschaft auf. Die Mitte verliert wegen Verwerfungen in diesen Fragen gegenwärtig viel Substanz an die religiösen Pole: Die einen ziehen sich auf fundamentalistische Positionen zurück, weil sie glauben, hier würden Genderfragen biblisch noch ernst genommen. Die anderen schliessen sich der progressiven Kolonne an, weil sie die evangelikale Sexualethik als veraltet empfinden.
Genderfragen sind hochemotional und komplex. Die Frage, welche die Evangelikalen in vergangenen Jahrzehnten mehr beschäftigt hat als manche andere, ist die Frage nach der Rolle der Frau in der Kirche. Die Frage, welche die Bewegung in den kommenden Jahren umtreiben wird, ist die Frage nach der kirchlichen Akzeptanz homosexueller Praxis.
Unter Berücksichtigung des antiken Kontexts gehe ich im Kapitel „Gender“ der Frage nach, ob für die Evangelikalen die Forderung nach Akzeptanz homosexueller Praxis in der Kirche biblisch nachvollziehbar ist. Wie mit dem biblischen Befund im kirchlichen Leben umzugehen ist, ist dann Teil des letzten und umfangreichsten Kapitel des Buches. Ich biete also erst Mal Grundlagen, die Praxis kommt im Schlusskapitel.
Ein wichtiger Unterschied
Im progressiven Christentum gilt die Bibel in ethischen Fragen nur sehr eingeschränkt als moralischer Kompass. Zu unterschiedlich seien die Welt der Bibel und unsere Zeit. Die antike Welt sei mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht vergleichbar. Aus der Bibel eine biblische Ethik für heute abzuleiten, sei deshalb nur sehr beschränkt möglich.
Das bedeutet nicht, dass auf progressiver Seite stets leichtfertig mit ethischen Fragen umgegangen wird. Ein Beispiel ist das Orientierungspapier „Mit Spannungen leben“ des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands. In dem Papier gibt es eine eingehende Beschäftigung mit Texten der Bibel zur Frage der Homosexualität. Nach gründlicher Analyse wird festgehalten, „dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen“. Der biblische Befund ist nach den Verfassern des Papiers eindeutig: Man müsse, wenn man sich mit den einschlägigen Texten befasse, „konstatieren, dass nach diesen Aussagen homosexuelle Praxis dem Willen Gottes widerspricht.“ Die entsprechenden Quellenangaben findest du im Buch.
Trotz dieses Befundes lehnen die Verfasser des Orientierungspapiers homosexuelle Praxis nicht ab. Bei den Empfehlungen im Umgang mit homosexuell empfindenden Menschen wird geraten, Homosexuelle zum Pfarramt zuzulassen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen. Evangelikale kommen beim gleichen Befund zu anderen Schlüssen und lehnen die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in der Regel ab. Das Beispiel zeigt, dass der Umgang mit biblischen Texten anspruchsvoller ist, als manche denken. Ein Befund kann offensichtlich ganz unterschiedlich gedeutet werden.
Wenn wir in ethischen Fragen sowohl der biblischen Welt als auch der heutigen Situation gerecht werden wollen, müssen wir zwischen dem biblischen Befund und seiner Deutung unterscheiden.
Wenn man biblische Texte auslegt, ergibt sich ein biblischer Befund. Der biblische Befund hält fest, wie die biblischen Verfasser das Thema behandelten, auf welche Situation sie reagierten, so dass sie überhaupt zur Feder griffen, und welche Lösungen sie zum Thema bieten. Bei der Auslegung der Texte und ihrem Befund befinden wir uns ganz in der damaligen Welt.
Mit dem Befund ist nicht in jedem Fall Verbindliches über die Gültigkeit der Texte für heute gesagt. Das hat nichts mit Bibelkritik zu tun, sondern mit der Achtung vor dem geschriebenen Wort und mit Common Sense. Die Schreiber damals haben ihre Schriften ja in ganz bestimmten Kontexten verfasst, um auf bestimmte Probleme einzugehen. Der Bibeltext muss deshalb zunächst als Antwort auf die ursprüngliche Situation ausgelegt werden. Was wollte beispielsweise Paulus den Christen in Rom sagen, wenn er sich im Römerbrief gegen homosexuelle Praxis ausspricht? Die Bedeutung des Bibeltexts für den ursprünglichen Kontext muss erarbeitet sein. Erst danach können wir fragen, ob die Texte über den ursprünglichen Kontext hinaus Gültigkeit haben und uns mit Verbindlichkeiten konfrontieren.
Weder Progressive noch Konservative sind der Ansicht, sämtliche biblische Weisungen hätten ungebrochene Gültigkeit für heute. Niemand ist der Ansicht, dass der Ehepartner von den Eltern ausgesucht werden muss, obwohl das in biblischen Zeiten der Normalfall war. In dieser Hinsicht gehen wir mit der modernen Selbstbestimmung einig. Niemand fordert die Todesstrafe für Ehebrecher oder will ein Paar zur Ehe zwingen, das miteinander geschlafen hat. Obwohl es beides im Alten Testament gab, folgen wir hier moderner Logik. Die Aufgabe ist also gar nicht so einfach. Sowohl für Progressive als auch für Konservative gibt es Fallgruben:
Progressive haben die Tendenz, die Unterschiede zwischen der biblischen und der heutigen Welt zu überzeichnen. So wird in der Regel argumentiert, einvernehmliche homosexuelle Partnerschaften seien in biblischen Zeiten undenkbar gewesen. Die Bibel sage über heutige Formen homosexueller Lebenspartnerschaften deshalb eigentlich nichts aus. Gleichgeschlechtliche Liebe könne aus christlicher Sicht also nicht kritisiert werden. Das Argument ist historisch falsch. Die entsprechenden Quellen lege ich im Buch offen. Manche progressive Positionen ergeben sich aus einem unsorgfältigen Umgang mit historischen Fakten, um freizügige Ansichten zu rechtfertigen.
Nun, Probleme gibt es wie so oft hüben und drüben.
Konservative haben die Tendenz, alle biblischen Aussagen auf eine Ebene zu stellen. „Für mich gilt die ganze Bibel“, heisst es. Es wird nicht daran gedacht, dass die Bibel nicht nur Ehebruch untersagt, sondern beispielsweise erlaubt, Kriegsgefangene zu Nebenfrauen zu nehmen (4 Mose 31,14ff). Das will wohl niemand als biblisches Gebot auf heute übertragen. Hinter manchen fundamentalistischen Positionen kommt ein naiver Bibelglaube zum Vorschein, mit dem man in Erklärungsnot gerät, sobald ernsthaft mit biblischen Texten gerungen wird.
Als evangelische Christen gehen wir mit Luther einig, dass Gott nirgends kräftiger redet als in der Heiligen Schrift. Wie aber tut er das? Wie können wir Fallgruben umgehen?
Sowohl für Progressive als auch für Konservative muss es darum gehen, dass die biblischen Texte sagen dürfen, was sie von sich aus sagen wollen. Dazu müssen Fragen an die Texte gestellt werden: Was hatten die biblischen Texte den ursprünglichen Lesern zu sagen? Wollen die biblischen Texte nur zur ursprünglichen Leserschaft sprechen oder gelten sie auch uns? Gibt es Hinweise, die darauf schliessen lassen, dass die Ansichten der biblischen Verfasser Zeiten und Kulturen übergreifende Gültigkeit haben?
Was dich im Kapitel über Gender erwartet
Ich verzichte in diesem Beitrag darauf, das Ergebnis des recht langen Kapitels im Buch zusammenzudampfen. Ich fürchte, dass ich missverstanden würde, wenn ich es tun würde. Das Thema ist zu sensibel, um auf ein paar Sätze reduziert zu werden. Im Kapitel versuche ich, ausführlich zu recherchieren. In über 40 Literaturverweisen kannst du nachprüfen, ob meine Aussagen einfach so dahingeredet sind, oder ob sie Rückhalt haben. Das sind wir allen schuldig, die sich mit dem Thema befassen und persönlich davon betroffen sind.
Inhaltlich gehe ich im Kapitel näher auf folgende Themen ein: Sex in der altorientalischen Welt, den biblischen Schöpfungsbericht, die Frage, warum Jesus zu Homosexualität schwieg und die Haltung des Paulus zum Eros. Danach deute ich den biblischen Befund auf möglichst faire Weise. Grundsätzlich nehme ich mich dem Thema mit folgender Einstellung an:
Das Christentum ist eine Religion des Wortes. Was christlicher Glaube ausmacht, zu was er sich bekennt, und wo er Grenzen setzt, ist auch in der Frage der sexuellen Orientierung an den biblischen Texten zu prüfen und ihnen gegenüber zu rechtfertigen.
Ich hoffe, mit dem Kapitel einen konstruktiven Beitrag zum Thema zu leisten und dabei klar, gründlich und respektvoll zu sein.
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Lieber Roland,
vielen Dank für deine Rückmeldung und die wertschätzenden Worte zu meinem Kommentar. Es freut mich, dass du die Diskussion als wichtig erachtest und Offenheit in den Austausch bringst. Ich verstehe deine Sichtweise und die Argumentation, die du bezüglich der alttestamentlichen Ethik und der Haltung Jesu zur Ehe anführst. Es ist in der Tat eine zentrale Frage, wie wir die Lehren der Bibel im modernen Kontext interpretieren, und ich schätze die Tiefe und Ernsthaftigkeit, mit der du das Thema angehst.
Ich stimme dir zu, dass Jesus die alttestamentliche Ethik als verbindlich betrachtete und sich auf den Schöpfungsbericht stützte, um seine Lehren zu untermauern. Dies entspricht der allgemeinen Haltung des Judentums zu sexualethischen Fragen seiner Zeit. Jesus betonte, dass der Schöpfer Mann und Frau geschaffen hat, um die Schöpfungsordnung als Grundlage für seine Lehren zur Ehe zu verwenden.
Es ist jedoch wichtig, den spezifischen historischen und kulturellen Kontext, in dem Jesus lebte, zu berücksichtigen. Zu Jesu Zeiten war das Verständnis von Sexualität, Identität und Geschlechtsorientierung stark anders als heute. Die sozialen Normen und die Wahrnehmung von Geschlechterrollen waren stark von der jeweiligen Kultur geprägt. Heterosexuelle Ehen waren oft hierarchisch strukturiert, und patriarchale Systeme prägten die meisten antiken Gesellschaften. In vielen Kulturen war der Mann der Hauptverdiener und das Oberhaupt der Familie, während Frauen häufig in einer untergeordneten Rolle blieben, die sich auf Haushaltsführung und Kindererziehung konzentrierte. Diese sozialen Normen und Erwartungen waren tief in den jeweiligen Kulturen verwurzelt und wurden durch religiöse und gesellschaftliche Praktiken verstärkt.
Zusätzlich war auch in der jüdischen Kultur ein strenges Ideal von Männlichkeit vorherrschend. Männer, die lange Haare trugen oder sich in einer Weise präsentierten, die als feminin wahrgenommen wurde, konnten auf Ablehnung stoßen. Die Akzeptanz von Homosexualität war in der Antike nicht vergleichbar mit den heutigen Vorstellungen von Gleichheit und Respekt für alle Formen von Liebe und Partnerschaft. Die alten Konzepte von Sexualität und Geschlechterrollen sind daher nicht direkt mit modernen Vorstellungen von sexueller Orientierung und Gleichberechtigung vergleichbar, da sie stark von den jeweiligen kulturellen und sozialen Normen geprägt waren, die oft ausschließend und diskriminierend waren.
Die Ansichten von Jesus und Paulus sind in diesem Kontext besonders aufschlussreich. Obwohl Jesus sich nicht explizit zu Homosexualität äußerte, betonte er die Prinzipien von Liebe, Mitgefühl und Gerechtigkeit. In Johannes 13,34–35 sagt Jesus: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieben sollt; wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ Diese Werte könnten darauf hindeuten, dass er eine inklusivere Sicht auf Beziehungen hatte, die über die strengen sozialen Normen seiner Zeit hinausgeht.
Paulus hingegen äußerte sich in seinen Briefen explizit zu Fragen der Sexualität und verurteilte gleichgeschlechtliche Beziehungen. In Römer 1,26–27 schreibt er: „Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüster; denn ihre Frauen haben den natürlichen Gebrauch in den unnatürlichen verwandelt; ebenso auch die Männer, die den natürlichen Gebrauch der Frau verlassen und sich zueinander entbrannt haben in ihrer Lust, Männer mit Männern Schande treiben und den Lohn ihrer Verirrung, der ihnen gebührte, an sich selbst empfangen.“ Seine Sichtweise war stark von der griechisch-römischen Kultur geprägt, in der Männlichkeit und der soziale Status eine zentrale Rolle spielten. Es könnte sein, dass Paulus Homosexualität im Sinne einer Identität und als Lebensentwurf für verbindliche Partnerschaften nicht kannte. In seinem kulturellen Kontext war die Vorstellung von sexueller Orientierung als Teil der menschlichen Identität nicht vorhanden. Paulus könnte eine Abneigung gegen Männer gehabt haben, die feminin wirkten, da dies dem Idealbild von Männlichkeit widersprach, das in seiner Zeit vorherrschte. Diese Abneigung könnte auch dazu beigetragen haben, dass er gleichgeschlechtliche Beziehungen ablehnte, da sie nicht in das traditionelle Bild von Männlichkeit passten, das in der griechisch-römischen Kultur stark verankert war. Paulus könnte Homosexualität abgelehnt haben, weil sie oft im Kontext von Machtmissbrauch und ungleichen Beziehungen wahrgenommen wurde. In vielen antiken Gesellschaften, einschließlich der römischen, gab es Formen von Missbrauch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, insbesondere in Bezug auf Sklaven oder soziale Untergeordnete. Dies könnte auch erklären, warum sowohl Jesus als auch Paulus eine ablehnende Haltung gegenüber Homosexualität einnahmen, da sie in einem kulturellen Kontext lebten, der Gleichheit und gegenseitigen Respekt in Beziehungen nicht kannte. Auch wenn nicht alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen im Kontext von Missbrauch stattfanden, war dies in vielen Fällen die Realität, die die Wahrnehmung solcher Beziehungen beeinflusste.
Insgesamt zeigt sich, dass die kulturellen Kontexte, in denen Jesus und Paulus lebten, entscheidend für ihr Verständnis von Sexualität und Beziehungen waren.
Sowohl in der Antike als auch heute gibt es gesellschaftliche Normen, die Heterosexualität als die “normale” sexuelle Orientierung darstellen. Diese Normen führen dazu, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen oft als abweichend angesehen werden, was zu Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung führt.In beiden Kontexten wird Männlichkeit oft mit Eigenschaften wie Dominanz, Stärke und Kontrolle assoziiert. Männer, die als feminin oder “weich” wahrgenommen werden, erfahren häufig Ablehnung. In der Antike wurden passive Partner in gleichgeschlechtlichen Beziehungen als minderwertig angesehen, während moderne Männer, die nicht den traditionellen Männlichkeitsnormen entsprechen, ebenfalls auf Ablehnung stoßen.
In beiden Epochen gibt es stereotype Vorstellungen darüber, wie sich Männer und Frauen verhalten sollten. Männer, die gegen diese Normen verstoßen, erleben häufig soziale Ablehnung. Diese Stereotypen sind tief in der Kultur verwurzelt und werden durch Medien, Bildung und soziale Interaktionen verstärkt.
Menschen, die sich nicht in die traditionellen Rollen einfügen, sehen sich häufig mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert.
Darüber hinaus können wir als Christen den Heiligen Geist als Führer und Helfer in unserem Verständnis und unserer Praxis annehmen. Der Heilige Geist kann uns helfen, die Lehren Jesu und die Bibel in einem neuen Licht zu sehen, insbesondere in Bezug auf Themen, die in der Vergangenheit möglicherweise nicht ausreichend behandelt wurden. In Johannes 14,26 sagt Jesus: „Der Beistand, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ Vielleicht dürfen wir mehr Mut haben, die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen und uns weiterzuentwickeln. Indem wir die Prinzipien von Liebe, Akzeptanz und Mitgefühl in den Mittelpunkt stellen, können wir als Gemeinschaft einen Schritt weitergehen und eine offenere Haltung gegenüber Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Beziehungen entwickeln.
Liebe Grüsse Benjamin
Ich möchte zum Thema Homosexualität Stellung nehmen, das in der Christenheit viele Meinungen hervorruft. Für mich steht das Liebesgebot aus den Evangelien im Mittelpunkt.
In meiner Auseinandersetzung mit der Bibel ist mir aufgefallen, dass es eine deutliche Gewichtung in den zentralen Botschaften gibt. Ja, es gibt viele Aussagen über Gericht, Verurteilung und die Hölle, aber ich bin der Überzeugung, dass die Botschaften über Liebe, Vergebung, Nächstenliebe und Barmherzigkeit weitaus zahlreicher und zentraler sind.
Barmherzigkeit ist für mich eine wesentliche Eigenschaft, die Jesus in der Bergpredigt hervorhebt, als er sagt: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Matthäus 5,7). Diese Botschaft erinnert mich daran, dass Barmherzigkeit nicht nur eine Tugend ist, sondern auch eine Erwartung Gottes an uns.
Besonders berührt mich, dass Jesus oft gesellschaftliche Normen in Frage stellte und sich für Ausgegrenzte und Unterdrückte einsetzte. Er lehrte uns, dass wahre Liebe und Mitgefühl keine Grenzen kennen. Indem ich homosexuelle Ehen anerkenne und unterstütze, folge ich dem Beispiel Jesu, der die Liebe in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte und uns dazu aufrief, einander in unserer Vielfalt zu akzeptieren und zu unterstützen.
In Matthäus 22,30 spricht Jesus über das Leben im Himmel und sagt: „Denn in der Auferstehung heiraten sie nicht und werden nicht verheiratet, sondern sie sind wie die Engel im Himmel.“ Diese Aussage legt nahe, dass im himmlischen Reich irdische Beziehungen und Geschlechterrollen nicht mehr von Bedeutung sind. Die Tatsache, dass Jesus erklärt, im Himmel werde nicht geheiratet, impliziert, dass die irdischen Vorstellungen von Ehe und Geschlecht nicht die höchste Form der Beziehung darstellen. Vielmehr wird die Liebe, die in all ihren Formen existiert, in den Vordergrund gerückt. Es ist die Qualität der Beziehungen, die auf Liebe, Respekt und Mitgefühl basieren, die zählen. Diese Sichtweise fördert die Idee, dass die tiefere Verbindung zwischen Menschen – unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung – die wahre Essenz von Beziehungen im Licht Gottes ist.
Die Vorstellung, dass im Himmel keine Ehe existiert, unterstützt die Idee, dass Beziehungen auf einer tieferen Ebene der Liebe und spirituellen Verbundenheit basieren, statt auf traditionellen Geschlechterrollen oder gesellschaftlichen Erwartungen. Dies impliziert, dass die Art und Weise, wie wir Beziehungen definieren, nicht absolut ist, sondern sich weiterentwickeln kann.
Wenn Geschlechterrollen im himmlischen Kontext relativiert werden, ist das auch eine Einladung, die Vielfalt menschlicher Erfahrungen und Beziehungen auf Erden zu akzeptieren. Diese Sichtweise fördert die Idee, das gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – wertvoll und bedeutend sind.
Jesus spricht in Matthäus 15,18–19 darüber, was einen Menschen unrein macht: „Was aber aus dem Mund herausgeht, das kommt vom Herzen, und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Morde, Ehebrüche, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerungen.“ Diese Aussage deutet darauf hin, dass nicht äußere Umstände oder die sexuelle Orientierung eines Menschen entscheidend sind, sondern vielmehr die Absichten und Gedanken, die aus dem Herzen kommen.
Mit anderen Worten, es sind die inneren Haltungen und Motive, die das Wesen eines Menschen prägen und ihn unrein machen können, nicht seine sexuelle Orientierung oder die Art seiner Beziehungen. Diese Perspektive fordert uns auf, die Qualität der Beziehungen zu betrachten, die auf Liebe, Respekt und Mitgefühl basieren, anstatt uns auf oberflächliche Kriterien zu konzentrieren. Somit kann man sagen, dass homosexuelle Beziehungen, die diese Werte verkörpern, nicht als sündhaft angesehen werden sollten.
Lieber Benjamin
Herzlichen Dank für deine ausführliche Rückmeldung zum Thema Homosexualität einschliesslich der interessanten Gedanken zum Thema Neuschöpfung. Inhaltlich gehe ich mit dir nicht einig, was Jesus betrifft. Es trifft nach meinem Verständnis nicht zu, dass man dem Beispiel der Liebe Jesu folgt, wenn man homosexuelle Partnerschaften anerkennt. Jesus hat, wie ich im entsprechenden Kapitel meines Buches ausführe, die alttestamentliche Ethik ja als verbindlich betrachtet und explizit mit dem Schöpfungsbericht argumentiert, wenn es um die Ehe geht. Jesus ist da ganz kongruent mit der allgemeinen Haltung des Judentums zu sexualethischen Fragen.
Obwohl wir uns inhaltlich nicht treffen, hat mich dein Artikel bewegt. Es ist genau diese Art von Diskurs, die wir brauchen. Du bringst substanzielle Gedanken ein und du schreibst in einem offenen und wertschätzenden Mindset. Es wäre für die ganze Diskussion viel gewonnen, wenn alle wie du in dieser Haltung an das Thema herangehen würden.