Während die Anzahl Artikel über die Dekonstruktion des Glaubens exponentiell wächst, frage ich mich, ob ich meinen ‘Senf’ dazu geben soll oder nicht. Ich habe bisher nur wenige Beiträge gesehen, die Beispiele von Dekonstruktion beschreiben, die in der Bibel zu finden sind. Deshalb möchte ich die Glaubenskrise des Apostels Thomas als eine Art von De- und Rekonstruktion beschreiben. Dies soll alle Leser ermutigen, die aufgrund von Ereignissen in ihrem Leben oder ihrer Kirchgemeinde angefangen haben, den Glauben an Jesus Christus in Frage zu stellen.
Der Apostel Thomas wird manchmal ‘der ungläubige Thomas’ oder der ‘Zweifler Thomas’ genannt. Trägt er diesen Namen zu Recht? Ist Thomas wirklich so etwas wie ein Spielverderber, mitten im Jubel der anderen Jünger über die Auferstehung von Jesus Christus? Ich behaupte Thomas trägt diese Namen zu Unrecht. Thomas wird uns in Joh 20:19–29 als ein Vorbild vor Augen geführt. Er wird uns vorgestellt als gesunder Gläubiger, der durch die Ereignisse in seinem Leben (Tod von Jesus Christus mit den daraus resultierenden theologischen Fragen) richtigerweise das bisher Geglaubte in Frage stellt.
Hier einige Konturen dieser turbulenten Tage im Leben von Thomas. Sie sind inspiriert von meiner eigenen Reflexion zur Thomas-Geschichte und von einer Predigt, die ich vor Jahren hörte, welche mir half, meine eigene Zeit der Zweifel zu reflektieren.
Verzweiflung
Die Verzweiflung von Thomas muss tief gewesen sein, als er mitansieht, wie sein Lehrer und Meister festgenommen wird, einen Schauprozess durchläuft, gegeisselt und gekreuzigt wird. Die Stimme des Mannes, der so tiefgründig und überzeugend über Gott reden konnte, ist nun verstummt! Der Mann, der scheinbar den Naturkräften befehlen und sogar Tote wieder zum Leben erwecken konnte, ist nun selbst Opfer des Todes geworden! Der Hoffnungsträger hat selbst keine Hoffnung mehr! Wer war Jesus Christus? Offensichtlich nicht derjenige, den er selbst vorgab zu sein. Ich kenne diese Art tiefer Verzweiflung aus eigener Erfahrung aus meiner Jugend. Damals habe ich den Glauben komplett verloren.
Leichtgläubigkeit
Inmitten dieser Verzweiflung hört Thomas, wie die anderen Jünger plötzlich anfangen zu behaupten, dass Jesus von den Toten auferstanden sei. Thomas weigert sich, aufgrund des Zeugnisses seiner Freunde an die Auferstehung Jesu zu glauben. Er will es selbst überprüfen:
Erst muss ich seine von den Nägeln durchbohrten Hände sehen; ich muss meinen Finger auf die durchbohrten Stellen und meine Hand in seine durchbohrte Seite legen. Vorher glaube ich es nicht. (Joh 21:25)
Thomas kann uns hier ein Vorbild sein. Er ist nicht leichtgläubig, wie manche Christen, die 50-Euro-Antworten akzeptieren für die Millionen-Euro-Frage. Manche Christen akzeptieren nahezu alles, was ihnen von einem Pfarrer, Prediger oder Influencer in den sozialen Medien auf einem Tablett serviert wird.
So ist Thomas nicht! Er will die Dinge selbst durchdenken, die Behauptungen überprüfen. Er will nicht aus zweiter Hand leben, denn er will sich später nicht vorwerfen müssen, er sei leichtgläubig gewesen. Er will später nicht plötzlich erneut die Verzweiflung tiefgreifender Zweifel erleben, wie er sie jetzt durchlebt. Er will sich diesmal ganz sicher sein. Hierin tut Thomas nur das, wozu Gott uns in der Bibel immer wieder auffordert: Lernt bereit zu sein, Gründe für eure Hoffnung formulieren zu können (1Pe 3:15)! Übernehmt nicht blind irgendein dummes Geschwätz, sondern lernt die Geister zu prüfen!
Ehrlicher Zweifler mit grosser Glaubensbereitschaft
Thomas ist ehrlich. Er tut nicht so, als verstehe er, wenn er in Wirklichkeit zweifelt. Er plappert nicht einfach ein Bekenntnis nach, ohne seinen Inhalt zu begreifen. Thomas braucht Einsicht und Gewißheit. Wenn Jesus irgendwas nicht leiden mochte, dann war es Heuchelei. So einer ist Thomas nicht!
Gerade die radikale Weigerung, den anderen Glauben zu schenken, ist ein Ausdruck dafür, wie sehr sich Thomas danach sehnt, daß sie recht haben. Thomas ist nicht ungläubig im eigentlichen Sinn. Ungläubig würde bedeuten:
- Ich will von Jesus nichts mehr wissen
- Ich will mit den anderen Jüngern nichts mehr zu tun haben
- Für mich ist dieses Kapitel abgeschlossen
Aber Thomas hat weiter Kontakt mit den anderen Jüngern. Er trifft sich mit ihnen. Thomas ist nicht ungläubig, sondern er ist skeptisch. Das ist in diesem Fall ein positiver Charakterzug. Der Skeptiker schluckt nicht gleich jede Kröte, die man ihm serviert. Aus aufrichtigen Zweifeln, wie wir sie bei Thomas sehen, spricht manchmal eine größere Glaubensbereitschaft als aus dem gedankenlosen Mitmachen und Nachahmen frommer Bräuche.
Jesus sieht die Zweifel des Zweiflers
Und plötzlich steht Jesus wieder mitten unter den versammelten Jüngern! Er hat scheinbar die Fragen und das dringende Bedürfnis von Thomas gehört, ihm persönlich zu begegnen. Gut eine Woche nach der ersten Begegnung des Auferstandenen mit seinen Jüngern kommt es – man könnte meinen – zur 1:1 Wiederholung des letzten Treffens. Warum kommt Jesus wieder? Jesus kommt extra für den Zweifler Thomas!
Jesus sieht in Thomas viel mehr als nur ein Zweifler oder Berufskritiker. Jesus weiss: Dieser skeptische und hinterfragende Thomas wird in Kürze der Lehrer der anderen Jünger sein. Jesus liebt Thomas und will die Frage des ehrlichen Zweiflers beantworten. Wir sehen, dass Jesus nicht über Leichen geht. Er hat das grosse Ziel des weltumspannenden Reiches Gottes vor Augen, übersieht dabei aber nie den Einzelnen. Wenn du in einer Zeit der Zweifel steckst: Jesus übersieht auch dich nicht!
Der Beweis gegen Jesus entpuppt sich als Beweis für Jesus
Die Liebe Jesu für diesen Zweifler zeigt sich weiter darin, dass er Thomas auffordert das zu tun, was Thomas 8 Tage zuvor eingefordert hat:
“Leg deinen Finger auf diese Stelle hier und sieh dir meine Hände an! Reich deine Hand her und leg sie in meine Seite!” (Joh 20:27)
Wir haben hier eine der intimsten und schönsten Aufforderungen von Jesus. Er hätte Thomas von oben herab behandeln können: «Meine Anwesenheit hier in diesem Raum muss dir genügen für den Glauben!». Eine solche Reaktion hätte vielleicht etwas in Thomas zerbrochen. Darum lädt Jesus ihn ein, seinen geschundenen Auferstehungsleib zu berühren! Er fordert Thomas auf zu tun, was Thomas für nötig empfand, damit er wieder glauben kann.
Damit lädt Jesus Thomas ein, ihn ausgerechnet an dem Punkt zu berühren, wo eigentlich der grösste Beweis gegen Jesus ist: sein eigener Tod. Es war der Tod von Jesus, der die Zweifel in Thomas geweckt hat. Der Tod von Jesus war der grösste und beste Beweis, dass Jesus nicht derjenige ist, den er selbst behauptet hatte. Thomas hatte Jesus geglaubt – und war bitter enttäuscht worden. Thomas soll nun also Jesus ausgerechnet an dem Punkt berühren, wo die grösste Quelle seiner Zweifel zu finden sind.
Ganz ehrlich: Dies ist für mich eine der bedeutungsvollsten Stellen in der Bibel. Der grösste Beweis gegen Jesus entpuppt sich hier als bester Beweis für Jesus! Und genau deshalb muss Thomas Jesus an diesem Punkt berühren. Zweifler sollten die Beweise, die ihrer Meinung nach am stärksten gegen Jesus sprechen, frontal angehen. Nur wenn es an diesen Punkten für sie offensichtlich wird, dass es Beweise für Jesus gibt, werden sie wieder mit Gewissheit glauben können. Darum sind keine Fragen tabu für Christen. Keine Argumente gegen den Glauben sind ein Problem. Das Problem ist nur, wenn man ihnen aus dem Weg geht.
Dieser wunderbare Moment zwischen Jesus und Thomas ermutigt alle Zweifelnden, sich vor keiner Frage zu scheuen und warnt alle Christen davor, Fragen zu tabuisieren.
Der Zweifler wird zum Lehrer der Gemeinde
Thomas muss Jesus nicht berühren, sondern ihm ist sonnenklar, dass es Jesus ist, der hier vor ihm steht. Er glaubt wieder an ihn, ganz und gar. Die Freude flutet zurück in seine Seele: Das mit Jesus stimmt doch! Und der christologische Höhepunkt im ganzen Johannes Evangelium platzt aus dem Mund des ‘Zweiflers’ Thomas:
Mein Herr und mein Gott (Joh 20:28)
Nachdem Jesus am Anfang des Johannes Evangelium als der inkarnierte Gott vorstellt wird, braucht es lange, bis einer den Mut hat, dies über die Lippen zu bringen. Erst hier im Kapitel 20 schliesst sich der Kreis. Zum ersten Mal spricht ein Jünger es unmißverständlich aus: Jesus, du bist Gott, Gott in Person. “Meister” hatten die Jünger Jesus genannt, als sie ihn näher kennenlernten, “Messias”, “Sohn Gottes”. Aber ihn unmittelbar und vorbehaltlos mit Gott gleichzusetzen — das wagt erst Thomas. Ausgerechnet der Zweifler wagt es als Erster.
Ist das nicht herrlich? Der Zweifler wird zum Lehrer. Der Zweifler erkennt tiefer als die anderen, wer hier vor ihnen steht: Niemand anders als Gott selbst steht hier vor uns! Dem Zweifler wird zugestanden, den eigentlichen Höhepunkt des Johannes Evangeliums der Menschheit und den Christen aller Zeiten zu bringen. Der Zweifler klärt die anderen auf: Hier steht Gott! Was für ein Moment! Mein Herz bricht in Jubel aus, wenn ich das sehe!
Thomas: Ein Modell für De- und Rekonstruktion?
Ist der Apostel Thomas ein Modell für die De- und Rekonstruktion des Glaubens? Es kommt darauf an, wie die Begriffe verstanden werden. Dekonstruktion im Sinne eines völligen Verlassens des Glaubens an den Gott der Bibel haben wir bei Thomas nicht. Einige Elemente des Erlebens von Thomas passen jedoch gut zu vielen Dekonstruktionserfahrungen.
Thomas ist nicht kritisch um der Kritik willen, sondern er möchte glauben. Hierin ist er ein Vorbild für alle, die durch eine Dekonstruktion gehen.
Wenn du aktuell in einer Dekonstruktion stehst, überlege dir: Möchte ich eigentlich glauben? Suche ich den Weg zurück zu Jesus oder bin ich kritisch um der Kritik willen? Suche ich Jesus oder bin ich nur noch wütend?
Thomas lässt es zu, dass seine aktuellen Erfahrungen seinen bisherigen Glauben hinterfragen. Es ist nichts falsch daran, dies zuzulassen. Falsch wäre, unehrlich zu sein und zu tun, als würde ein erschütterndes Erlebnis deinen Glauben unberührt lassen.
Wenn du an Jesus glaubst: glaubst du ehrlich? Verstehst du, was du bekennst? Verdrängst du tiefe Fragen, denen du eigentlich auf den Grund gehen solltest?
Thomas kann unterscheiden zwischen primären und nicht-primären theologischen Wahrheiten. Während der Zeit der Zweifel glaubt Thomas, dass eine Berührung von Jesus das zentral Wichtige ist, das er tun muss, um wieder zu glauben. In der Begegnung mit dem Auferstandenen merkt Thomas, wie diese Berührung zweitrangig wird. Darum berührt Thomas ihn nicht und geht zum Bekenntnis über. Der verstorbene Tim Keller hat einmal gesagt, dass einer der Gründe, weshalb so viele Christen im Moment dekonstruieren, ist, weil sie von ihren Gemeinden nie gelehrt wurden, diese Unterscheidungen zu treffen.
Hast du gelernt zwischen primären und nicht-primären theologischen Wahrheiten zu unterscheiden? Hier ein Artikel, der dich diesbezüglich weiterbringen könnte.
Thomas verabschiedet sich nicht grundsätzlich von seinem Glauben, sondern re-konstruiert ihn auf derselben Grundlage des Judentums. Thomas re-organisiert seinen Glauben auf der bestehenden Grundlage des Judentums neu mit dem auferstandenen Jesus Christus im Zentrum („mein Herr, mein Gott“… den ich vom AT her kenne). Er merkt: „Hier steht tatsächlich der Gott, den ich bisher kannte, vor mir!“ Ich persönlich habe es ähnlich erlebt: Ich kam zurück zum Glauben. Manche rekonstruieren ihren Glauben auf der Grundlage einer völlig anderen Weltanschauung, zum Beispiel einer Variante des östlichen Pantheismus oder westlichen Atheismus. Thomas bleibt eigentlich dort, wo er vorher war, aber erhält tiefe, neue Offenbarung über das Wesen Gottes: Der transzendente Gott, an den ich bis jetzt geglaubt habe, ist Mensch geworden!
Wenn du in einer Dekonstruktion stehst: Welche Weltanschauung wählst du für deine Rekonstruktion?
Titelbild: Hendrick ter Brugghen — The Incredulity of Saint Thomas, ca. 1620
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