Die Ketten des Todes

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Südi­tal­ien, 06. Jh. v. Chr.
Da ste­ht der starke Mann. Die Hand eingek­lemmt in einem Baum­strunk, den er mit der Kraft sein­er Hände spal­ten wollte. Unfähig, sich aus der misslichen Lage zu lösen, ist er wehr­los dem Löwen aus­geliefert, der sich über ihn her­ma­cht. Milo von Kro­ton, dem leg­endären Olym­pi­oniken, dem Super­star sein­er Zeit, dem erfol­gre­ichen Heer­führer, wird die eigene Selb­stüber­schätzung zum tödlichen Verhängnis.

Milo von Cro­ton, Pierre Puget, Lou­vres. Bild: Peter Bruderer

Paris, Dezem­ber 2019.
Da ste­he ich vor dieser imposan­ten Stat­ue aus Car­rara-Mar­mor. Elf Jahre lang – 1671 bis 1682 — hat Pierre Puget an der Skulp­tur von Milo gear­beit­et. Heute dominiert das imposante Werk die gigan­tis­che Skulp­turen­halle im Riche­lieu-Flügel des Louvre.

Als Fam­i­lie sind wir auf Städtereise. Der Lou­vre fasziniert — eigentlich. Denn meine Aufmerk­samkeit ist meist darauf gerichtet, drei Kinder zwis­chen acht und zwölf Jahren zurück­zupfeifen oder in den weitläu­fi­gen Hallen des französichen Staatsmu­se­ums zu suchen. Doch bei dieser Skulp­tur schaffe ich es, stil­lzuste­hen. Was ist sie doch für eine tre­f­fende Darstel­lung, nicht nur eines Men­schen, son­dern des Men­schen ganz grundsätzlich.

«Lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Him­mel reicht!», sprachen die Bewohn­er von Babel. Ziegel statt Steine! Asphalt statt Mör­tel! Inno­va­tion! Fortschritt! Gren­zen­lose Möglichkeit­en! Doch nein. Die einende Sprache geht ver­loren. Ver­wirrung. Baustopp. Zer­fall und Zer­streu­ung. (Gen 11:1–9)

«Lasst uns so richtig feiern!», sprach Bel­sazar, König von Baby­lonien. Wein. Viel Wein. Statt dem üblichen Fest­geschirr das gold­ene und sil­berne Geschirr aus dem eroberten Jerusale­mer Tem­pel. Doch nein, meint eine Hand an der Wand: «Gott hat die Tage deines König­tums gezählt und ihm ein Ende bere­it­et!» In der gle­ichen Nacht stirbt der mächtige Mann. Die Zeit der Baby­lonier ist vor­bei. Das Zeital­ter der Pers­er ist gekom­men. (Dan 5:1–30)

Stolz kommt vor dem Zusam­men­bruch. Hochmut kommt vor dem Fall. Auch bei Milo. Sechs­fach­er Sieger der olymp­is­chen Spiele ist er. Eine beispiel­lose Kar­riere. Ein “Ronal­do” der Antike. Leg­endär seine Train­ingsmeth­ode, aus­gewach­sene Rinder auf den Schul­tern zu tra­gen. Geschicht­en und Mythen sein­er uner­messlichen Kräfte machen die Runde. Natür­lich ist Milo nicht nur stark. Er ist intel­li­gent, gut situ­iert, ein grossar­tiger Anführer. Hat er nicht die Tochter von Pythago­ras geheiratet? Hat er nicht die Armee von Cro­ton siegre­ich im Kampf gegen Sybaris ange­führt? Doch nein. Ein kurz­er Moment der Selb­stüber­schätzung macht ihn zum Hil­flos­es­ten unter allen. Da ist er nun, unfrei­willig ans Holz eines Stammes gebun­den. Seine Zeit nimmt ein uner­wartetes und grausames Ende.

Skulp­turen­halle mit Milo im Zen­trum. Bild: Peter Bruderer

Frauen­feld, April 2020.
Ich sitze in mein­er Woh­nung. Home­of­fice. Kinder hüten, während meine Ehe­frau der “sys­tem­rel­e­van­ten Arbeit” an der Kasse eines Lebens­mit­telgeschäftes nachge­ht. Ein klein­er aber tödlich­er Virus hat sich in die Welt­ge­mein­schaft hineinge­fressen. Lock­down. Alles ste­ht still. Der inter­na­tionale Flugverkehr ist lah­mgelegt. Die Ferien im Tessin sind gestrichen. Kurzarbeit. Beispiel­lose Geld­ver­nich­tung. Angst. Hilflosigkeit.

Am Son­ntagabend ist Boris John­son, ein­er der mächtig­sten Men­schen der Welt, ins Spi­tal ein­geliefert wor­den. Dem Virus ist es egal, wen er da grad befall­en hat. Nun ist John­son auf die Inten­sivs­ta­tion ver­legt wor­den – wie unsere Welt auch.

Nein, wir haben es nicht im Griff. Wir ahnen es: Auch unsere Zeit wird verge­hen. Und vielle­icht sind wir ger­ade Zeu­gen davon.

Milo von Cro­ton, Ausschnitt

Jerusalem, 33 n. Chr.
Da ste­hen sie, die Gaffer und Schaulusti­gen. Wieder ein­mal geht ein­er an der eige­nen Selb­stüber­schätzung zugrunde. «Jesus von Nazaret, König der Juden» ste­ht auf einem Schild, welch­es über ihn ans Kreuz genagelt wird.

Er hat­te schon ein paar coole Tricks drauf. Mit Brot und Fis­chen zum Beispiel. Auf den Mund gefall­en war er auch nicht. Aber man sollte wis­sen, mit wem man sich bess­er nicht anlegt. Zum Beispiel mit der religiösen Elite und den lau­nis­chen Machthabern im Land.

Nun ist auch dieser Jesus ans Holz eines Stammes genagelt, während der Tod an ihm frisst. Seine Zeit nimmt ein langsames und grausames Ende. Der Lohn der eige­nen Selbstüberschätzung?

Nein, sagt der verurteilte Ver­brech­er, der neben Jesus hängt: «Herr, gedenke an mich, wenn du in deine Königsh­errschaft kommst!» (Lk 23:42)
Nein, sagt auch der römis­che Haupt­mann, der erst ger­ade die Hin­rich­tung überwacht hat: «Wahrlich, dieser Men­sch war gerecht!» (Lk 23:47)
Nein, sagt auch Jesus: «Ich bin nicht gekom­men, um mir dienen zu lassen, son­dern um zu dienen und mein Leben zu geben als Lösegeld für viele.» (Mk 10:45)

Der Tod von Jesus war nicht das unver­mei­d­bare Pro­dukt der eige­nen Selb­stüber­schätzung. Es war das geplante Ergeb­nis göt­tlich­er Selb­sthingabe und Aufopferung.

Wir alle müssen ster­ben. Doch bei Jesus gilt: mit seinem Ster­ben hat er den Tod selb­st in Ket­ten gelegt. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Jesus spricht: «Ich bin die Aufer­ste­hung, und ich bin das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, selb­st wenn er stirbt.» (Joh 11:25).

Eine neue Zeit ist angebrochen.

Titel­bild: Peter Bruderer

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2 Comments
  1. Andreas Bänziger 4 Jahren ago
    Reply

    Danke Peti für die ein­drück­lichen Kar­fre­itags­gedanken und den tollen Song dazu!

    • Peter Bruderer 4 Jahren ago
      Reply

      Danke Andreas!

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