Archäologie der Ideologie

Lesezeit: 6 Minuten
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by Peter Bruderer | 01. Okt. 2024 | 0 comments

«Die Alter­na­tive ist, dass es einen Gott gibt — einen Gott, der zu sein­er Zeit wieder große Män­ner her­vor­brin­gen wird, um seinen Willen zu tun, große Män­ner, die der Tyran­nei der Experten wider­ste­hen und die Men­schheit wieder in die Reiche des Lichts und der Frei­heit führen, große Män­ner, die, über allem, Boten sein­er Gnade sein wer­den.»
J. Gre­sham Machen, 1933

„Du musst Primärquellen lesen.“, hat mein Brud­er mir ger­at­en. Vor rund 3 Jahren habe ich mir diesen Rat zu Herzen genom­men und wieder ange­fan­gen, Büch­er zu kaufen –auch alte verstaubte.

Erwarten kon­nte man diese Entwick­lung nicht. Meine the­ol­o­gis­che Aus­bil­dung hat­te ich 2003 abgeschlossen und abge­se­hen vom einen oder anderen Tom Clan­cy Roman war meine Lese-Kar­riere damit besiegelt. Es gab wichtigeres zu tun: Fam­i­lie grün­den, eine Exis­tenz auf­bauen, Erfahrun­gen sam­meln. Meine Bib­lio­thek schrumpfte im Gle­ich­schritt mit der Zunahme von Kinder­spielzeu­gen in der Woh­nung. So gin­gen viele Jahre ins Land.

Mein erster Artikel auf dem Blog Daniel Option wurde vor fünf Jahren pub­liziert. Es war eine Analyse von biografis­chen Entwick­lun­gen in der mir so lieben christlichen Musik­welt. Da kommst du gut ohne Büch­er zurecht. Da reicht die eigene ‚Cred­i­bil­i­ty‘ als Konzertveranstalter.

Über­lasst das den Experten!

Der Aus­lös­er dafür, mir wieder das eine oder andere Buch zu leis­ten, kam wohl aus ein­er Online-Diskus­sion irgend­wo im Covid-Lock­down. Es ging um das The­men­feld der Sex­u­al­ität und die These war, christliche Leit­er (Pas­toren!) soll­ten doch dieses The­men­feld den Fach­leuten über­lassen. Stein des Anstoss­es war ein Buch über Sex­u­al­ität, ver­fasst von… christlichen Leitern.

Für mich ist klar, dass christliche Leit­er sich selb­stver­ständlich auch zu Fra­gen der Sex­u­al­ität Gedanken machen soll­ten. Ihr Buch – die Bibel – tut das bekan­ntlich auch. Aber was war mit der Fach­welt, mit den gerühmten Experten? Dem wollte ich nachge­hen. Ich kaufte ein Buch. Es dauerte nicht lange, und ich fand mich in der Welt von Alfred Kin­sey, Wil­helm Reich oder Mas­ters & John­son wieder.

Die Ein­blicke haben meine leise Vorah­nung bestätigt: die Weisheit­en der Experten, auf die wir hören sollen, haben halt auch ihre ide­ol­o­gis­chen und per­sön­lichen Hin­ter­gründe. Diese Ide­olo­gien sind aber für den Nor­mal­bürg­er oft unken­ntlich, weil sie sich im ‚weis­sen Kit­tel‘ präsen­tieren, im Man­tel ein­er nicht immer gegebe­nen Wissenschaftlichkeit.

Das berühmte Sex­olo­gen-Team ‘Mas­ters & John­son‘, hat das wörtlich umge­set­zt. Im Time-Mag­a­zine vom 25. Mai 1970 präsen­tieren sich William H. Mas­ters und Vir­ginia E. John­son in weis­sen Arztkit­teln. Die Botschaft ist klar: Du kannst uns ver­trauen! Hier kom­men Fak­ten! Hier kommt Wis­sen und Kom­pe­tenz! Unter dem schon fast seel­sorg­er­lich klin­gen­den Titel «Repair­ing the Con­ju­gal Bed» (Deutsch: «Das Ehe­bett repari­eren») wurde die Arbeit der bei­den Pio­niere der Sex­u­alther­a­pie der bre­it­en Öffentlichkeit vorgestellt. Die amerikanis­chen Ehen soll­ten gerettet wer­den, indem der Sex bess­er wurde.

Time-Mag­a­zine vom 25. Mai 1970

Nun war William H. Mas­ters tat­säch­lich ein Arzt. Aber Vir­ginia E. John­son war es nicht, sie war lediglich Assis­tentin. Aber der weisse Arztkit­tel stand auch ihr gut. Sie war zufäl­liger­weise auch Mas­ters Geliebte. Die Gurus der Ehether­a­pie nah­men es eben nicht so genau, wenn es um das eigene Ehe­bett ging.[1]

Die Forschung der Bei­den hat­te auch einen inter­es­san­ten Finanzge­ber: es war das Medi­en­im­peri­um des Porno-Königs und «Play­boy» Besitzers Hugh Heffn­er. Es war eine per­fek­te Sym­biose. Den ‘Experten’ brachte die Zusam­me­nar­beit mit Big Porno Geld und Zugang zu Frei­willi­gen für ihre Forschung­spro­jek­te. Dem Pornoim­peri­um bot es die Möglichkeit, sich einen Anstrich von Wis­senschaftlichkeit und Phil­an­thropie zu geben.[2]

Es würde nicht lange gehen, bis das Ther­a­peuten­paar Mas­ters & John­son auf­grund von Pros­ti­tu­tionsvor­wür­fen auch mit dem Gesetz in Kon­flikt kom­men wür­den. Denn ihre Ther­a­piemeth­ode mit Sur­ro­gat­en[3] unter­schied sich im End­ef­fekt nicht wesentlich von dem, was sich im Milieu so abspielt. Es ging auch hier darum, dass sex­uelle Dien­stleis­tun­gen mit Geld abge­golten wer­den – dies­mal ein­fach im Namen der Gesund­heit und des Eheglücks.[4]

Die Zeit­en haben sich sei­ther wohl etwas geän­dert. Den­noch: Die Geschichte von Mas­ters & John­son ist kein Einzelfall. Sie ste­ht beispiel­haft für die Irrun­gen und Ver­wirrun­gen, welche diverse ‘Fach­wel­ten’ immer wieder mal heimsuchen.

Im Falle von Mas­ters & John­son ist es abso­lut legit­im zu sagen, dass sie als ‘Experten’ aktiv mit­ge­holfen haben, die Prob­leme zu kreieren, deren Lösung sie sich gle­ichzeit­ig auf die Fahne geschrieben hat­ten.[5] Im Hin­blick auf den Beruf­s­stand der Sex­u­alther­a­peuten waren sie aber nur die Spitze des Eis­berges. Die Entwick­lun­gen der 70er Jahre waren so, dass sich William Mas­ters bald selb­st dazu gedrängt sah, den Beruf­s­tand, dessen Kul­tur er so mass­ge­blich geprägt hat­te, gle­ich selb­st als wis­senschafts­fern zu diagnostizieren:

„Das derzeit­ige Feld der Sex­u­alther­a­pie wird von ein­er erstaunlichen Auswahl an Inkom­pe­ten­ten, Kult-Anhängern, Mys­tik­ern, gut meinen­den Dilet­tan­ten und regel­recht­en Schar­la­ta­nen beherrscht.“[6]

ArcheI­de­olo­gie

Es scheint eine Real­ität zu sein, dass Ide­olo­gien ihre Macht, ihre Tyran­nei gerne unbe­merkt ausüben – zum Beispiel indem sie sich ein wis­senschaftlich­es Gewand geben. Es gibt natür­lich auch andere Möglichkeit­en der Tar­nung. Ist je ein Tyrann mit der Ansage ange­treten, er wolle das Volk unter­drück­en und aus­nehmen? Nein. Sie haben ihre Herrschaft immer mit dem Ver­sprechen von Frei­heit, Gerechtigkeit und Wohl­stand angetreten.

Grosse und erfol­gre­iche Rev­o­lu­tio­nen zeich­nen sich zudem dadurch aus, dass sie ihre Ursachen zum Ver­schwinden brin­gen und so auf­grund ihres eige­nen Erfolges nicht mehr nachvol­lziehbar sind. Akzep­tanz ver­wis­cht die Spuren und macht diese Unsicht­bar.[7]

Ähn­lich bringt es George Orwell in sein­er bekan­nten Dystopie ‘1984’ auf den Punkt:

«Alles ver­schwand im Nebel. Die Ver­gan­gen­heit wurde aus­gelöscht, die Aus­löschung wurde vergessen, die Lüge wurde zur Wahrheit.»[8]

Was ich auf diesem Kanal betreiben möchte, ist deshalb so etwas wie eine ‘Arche­olo­gie der Ide­olo­gien’. Ich möchte den Ideen nach­spüren, welche – oft unsicht­bar – unsere Zeit prä­gen und beeinflussen.

Ich möchte mir dabei von Beginn weg keinen weis­sen Kit­tel ver­passen. Ich bin wed­er His­torik­er noch in beson­der­er Weise in Philoso­phie und Geis­tes­geschichte geschult. Ich erhebe nicht den Anspruch, der Weisheit let­zter Schluss zu besitzen. Ich bin ein bre­it inter­essiert­er Zeitgenosse, der ver­sucht, die Welt um sich herum zu ver­ste­hen. Die Suche führt mich auch in die Ver­gan­gen­heit. Was ich dabei ent­decke, das werde ich hier auf dem Kanal sicht­bar machen und zur Diskus­sion stellen. Es darf kon­struk­tiv kri­tisiert und debat­tiert werden.

Die grosse Alternative

Ein zweit­er Grund, warum ich auf den weis­sen Kit­tel verzichte, liegt darin, dass ich als ein­er schreibe, der ein geistlich­es Zuhause hat. Das möchte ich von vorn­here­in nicht verheimlichen.

Das Ein­tauchen in die oft tox­is­chen Ideen, welche unsere Zeit mit bee­in­flussen, kann einen schon zum Kul­turpes­simis­ten machen. Doch ich glaube an das, was der ein­gangs zitierte J. Gre­sham Machen die «eine grosse Alter­na­tive» nen­nt. Es ist die Alter­na­tive, dass es einen Gott gibt. Auf dieser Alter­na­tive beruht meine Hoff­nung. Von dieser Alter­na­tive aus möchte ich denken, leben und auch schreiben.

Es ist mir deshalb ein Anliegen, auf diesem Kanal auch über Men­schen und Begeben­heit­en zu schreiben, welche das Licht und die Hoff­nung haben aufleucht­en lassen, von der J. Gre­sham Machen spricht. Deshalb stelle ich auch sein State­ment an den Start Anfang dieses Kanals  — eine wertvolle Trou­vaille, ein Hoff­nungswort und zugle­ich eine Mah­nung an mich selb­st, diese eine grosse Alter­na­tive nie aus dem Blick zu verlieren.

J. Gre­sham Machen, 1927

Wie kaum ein ander­er sein­er Zeit war J. Gre­sham Machen (1881–1937) in den the­ol­o­gis­chen Schlacht­en involviert, welche damals die kirch­liche Land­schaft in den USA erschüt­tert haben. Sein Buch ‘Chris­tian­i­ty and Lib­er­al­ism’ (1923) ist ein lesenswert­er Klas­sik­er, welch­er messer­scharf die grundle­gen­den Dif­feren­zen zwis­chen lib­eraler und his­torisch-christlich­er The­olo­gie herausschält.

1932 ver­bringt J. Gre­sham Machen den Som­mer in der Schweiz und ste­ht zulet­zt auf dem Gipfel des Mat­ter­horns – eine ziem­liche Leis­tung für den damals bere­its über 50-jähri­gen The­olo­gen. Der Bericht von sein­er Zeit in Zer­matt macht klar, dass er auf dem Gipfel des Mat­ter­horns so etwas wie eine Gotte­ser­fahrung hat­te. Er wird ergrif­f­en von der Dra­matik der Entwick­lun­gen in Europa. Im Süden regiert bere­its Mus­soli­ni, im Nor­den ste­ht Hitler kurz vor der Machter­grei­fung. In seinem per­sön­lichen Leben ste­ht er vor schwieri­gen Weichen­stel­lun­gen. Sein Gipfel­er­leb­nis endet mit diesen Worten: 

«Ich kann in den Zeichen der Zeit kein Entkom­men von dieser Schlussfol­gerung sehen; zu unaufhalt­sam scheint mir der Lauf der Dinge zu sein. Nein, ich kann nur eine Alter­na­tive sehen. Die Alter­na­tive ist, dass es einen Gott gibt — einen Gott, der zu sein­er Zeit wieder große Män­ner her­vor­brin­gen wird, um seinen Willen zu tun, große Män­ner, die der Tyran­nei der Experten wider­ste­hen und die Men­schheit wieder in die Reiche des Lichts und der Frei­heit führen wer­den, große Män­ner vor allem, die Boten sein­er Gnade sein wer­den. Es gibt, weit über jeden irdis­chen Gipfel der Vision, einen hohen und erhabenen Gott, der, obwohl er unendlich erhaben ist, sich doch um seine Kinder unter den Men­schen küm­mert.»[9]

Möge der Herr schenken, dass auch wir in unser­er Zeit die echt­en Her­aus­forderun­gen sehen, den Mut haben aufzuste­hen, auch wenn es mal unbe­quem ist, und in unser­er Welt ‘grosse’ und ‘kleine’ Boten sein­er Gnade sowie Träger seines Licht­es werden.


[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Virginia_E._Johnson

[2] Jan­ice M. Irvine, Dis­or­ders of Desire – Sex and Gen­der in Mod­ern Amer­i­can Sex­ol­o­gy, 1990, S80, S82

[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Surrogate_partner

[4] Jan­ice M. Irvine, Dis­or­ders of Desire – Sex and Gen­der in Mod­ern Amer­i­can Sex­ol­o­gy, 1990, S123

[5] Jan­ice M. Irvine, Dis­or­ders of Desire – Sex and Gen­der in Mod­ern Amer­i­can Sex­ol­o­gy, 1990, S98

[6] Jan­ice M. Irvine, Dis­or­ders of Desire – Sex and Gen­der in Mod­ern Amer­i­can Sex­ol­o­gy, 1990, S101

[7] Gemäss Roger Kim­ball geht diese These auch Alex­is de Toc­queville (1805–1859) zurück, welch­er über die französiche Rev­o­lu­tion geschrieben hat. Ver­gle­iche: Roger Kim­ball, The Long March, How the Cul­tur­al rev­o­lu­tion of the 1960’s Changed Amer­i­ca, S5

[8] George Orwell, 1984, Kin­dle Edi­tion, S56 meine Übersetzung

[9] Aus: J. Gre­sham Machen, Moun­tains and why we love them, meine Übersetzung


Titel­bild: iStock

Über den Kanal

Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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