Eine K‑Bombe auf das prüde Amerika

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by Peter Bruderer | 24. Nov. 2023 | 0 comments

Vor 75 Jahren erschien mit Sex­u­al Behav­ior in the Human Male die erste der berühmt-berüchtigten Kin­sey-Stu­di­en. Die ‚Mut­ter aller Sexs­tu­di­en’ hat eine moralis­che Rev­o­lu­tion los­ge­treten. Mit ihrem Anspruch auf Wis­senschaftlichkeit und einem Overkill an erhobe­nen Dat­en wurde sie als der let­zte schla­gende Beweis dafür gehan­delt, dass die gängige Sex­ual­moral der amerikanis­chen Gesellschaft lebens­fern, repres­siv und hoff­nungs­los überkom­men war. Doch ein näher­er Blick auf die Stu­di­en – auf ihren Auf­bau, auf Frage­bö­gen und Proban­den, auf Ver­fahren zur Daten­er­he­bung und nicht zulet­zt auf die wis­senschaftlichen und ethis­chen Prämis­sen von Kin­sey und seinem Team – offen­bart nicht nur die Ide­olo­giean­fäl­ligkeit solch­er Konzepte, son­dern auch, wie Sta­tis­tiken selb­st zu Agen­ten der Real­itäts­bil­dung wer­den und sich als Instru­ment der Macht gebrauchen lassen.

Empirische Stu­di­en dienen der Erken­nt­nis­gewin­nung. Es ist unbe­strit­ten, dass es immer eine Her­aus­forderung ist, sie möglichst neu­tral zu gestal­ten, damit die Aus­sagekraft ihrer Resul­tate ver­lässlich und all­ge­me­ingültig ist. Das ist es schon bei tech­nis­chen The­men, umso mehr bei sozi­ol­o­gis­chen oder gar ver­hal­tenspsy­chol­o­gis­chen Fragestel­lun­gen, erst recht in einem so sen­si­blen Bere­ich wie der Sex­u­al­ität. Ver­such­sauf­bau, Frage­bo­gen und Ver­fahren der Eval­u­a­tion sind schon immer Teil des Ergeb­niss­es – was in der Studie redlicher­weise mitre­flek­tiert gehört. Eine solche Redlichkeit sucht man in den Kin­sey-Reporten vergeblich.

Wenn ich in diesem Artikel in die Geschehnisse rund um die ‘Mut­ter aller Sexs­tu­di­en’ vor 75 Jahren ein­tauche und sie dar­lege, dann in der Hoff­nung, dass dieses Stück ‘Archäolo­gie von Ide­olo­gie’ auch für unsere Zeit sen­si­bil­isieren kann. Dazu fasse ich nach dem his­torischen Teil zusam­men, welche Lehren ich daraus für mich per­sön­lich und für unsere Zeit ziehe.

Die Stu­di­en über männliche Sex­u­al­ität (1948) und weib­liche Sex­u­al­ität (1953). Pho­to: Peter Bruderer

Die Kin­sey-Stu­di­en und ihre weitre­ichende Wirkung sind ein Beispiel dafür, wie die Erken­nt­nisse ein­er wis­senschaftlich frag­würdi­gen und weltan­schaulich motivierten Forschung die Deu­tung­shoheit in Gesellschaft und Bil­dung erobern kon­nten. Und das weltweit. Bedeu­tend war dabei die Rolle ein­er finanziell poten­ten und draufgän­gerischen Ver­mark­tungsstrate­gie und ein­er unkri­tis­chen Medienmaschinerie.

Die Durch­set­zungskraft der Kin­sey-Stu­di­en lässt sich nur ver­ste­hen in Zusam­men­hang mit dem ein­flussre­ichen Ver­bün­de­ten im Hin­ter­grund. Denn das «Insti­tute for Sex Research» an der Indi­ana-Uni­ver­sität unter der Leitung des Zoolo­gen Alfred Kin­sey (1894–1956) hat­te die mächtige Rock­e­feller Foun­da­tion als Geldge­berin und Vermarktungspartnerin.

Die Mutter aller Sex Studien

«Der durch­schnit­tliche Amerikan­er betätigt sich in Bett, Küche und Stall sex­uell auf so ziem­lich jede vorstell­bare Weise – gle­ich­sam unabläs­sig und meist ohne jegliche Gewis­sens­bisse» – unge­fähr so lässt sich die Haupterken­nt­nis der Stu­di­en über männliche Sex­u­al­ität (1948) und weib­liche Sex­u­al­ität (1953) zusam­men­fassen. Die „Kin­sey Reports“ explodierten um die Mitte des zwanzig­sten Jahrhun­derts wie zwei Atom­bomben in der prü­den Ödnis der amerikanis­chen Gesellschaft. Angetrieben von ein­er umfan­gre­ichen Pressekam­pagne mit reißerischen Head­lines wur­den die Stu­di­en augen­blick­lich zu Bestsellern.

Tat­säch­lich: die Kin­sey-Stu­di­en erhiel­ten auf­grund ihrer Wirkung den Spitz­na­men «K‑Bomb». [1] Dies auch, weil der Bericht über weib­liche Sex­u­al­ität just an jen­em Tag pub­liziert wurde, an dem die Nachricht über den Test ein­er sow­jetis­chen H‑Bombe in den USA die Runde machte.[2]

Dabei waren die Büch­er beileibe keine entspan­nende Gute-Nacht Lek­türe. Auf den rund je 850 Seit­en waren jew­eils Hun­derte sta­tis­tis­ch­er Tabellen und Kur­ven­grafiken mit trock­e­nen sach­lichen Erläuterun­gen verteilt. Kin­sey hat­te über den Zeitraum von eini­gen Jahren mit einem kleinen Team tausende Sex­u­al-Biografien gesam­melt. Zusam­menge­tra­gen in minu­tiös vor­bere­it­eten Inter­views, die ein einziges Ziel hat­ten: bis in die intim­sten Geheimnisse der Kan­di­datin­nen und Kan­di­dat­en vorzu­drin­gen und ihre Sex­u­al­prak­tiken im Detail auszuleuchten.

Tabellen und Grafiken ohne Ende: die Kin­sey Stu­di­en. Pho­to: Peter Bruderer

Die Ergeb­nisse dieser Inter­views, fest­ge­hal­ten in codiert­er Sprache, sind bis heute der Öffentlichkeit nicht zugänglich.[3] Es wurde alles unter­sucht, was man sich nur vorstellen kann im Bere­ich der sex­uellen Lust­gewin­nung: Von Mas­tur­ba­tion­s­ge­wohn­heit­en über außere­he­liche Affären, Pet­ting und Sex vor der Ehe, Analverkehr, gle­ichgeschlechtliche Sex­u­alkon­tak­te, Gebrauch von Fetis­chen aller Art, sado­masochis­tis­che Phan­tasien und Erfahrun­gen bis hin zum Sex mit Tieren und der Mes­sung frühkindlich­er Orgas­mus­fähigkeit – ich ers­pare dem Leser die Details.

Im Endergeb­nis offen­barten die Stu­di­en das Porträt ein­er ver­lo­ge­nen Gesellschaft, die zwar vorgibt, sich an die moralis­chen Codes sein­er kon­ser­v­a­tiv­en Grün­derzeit zu hal­ten, in Wahrheit aber in großer sex­ueller Freizügigkeit lebt. Die Stu­di­en ergaben hor­rende Quoten von vore­he­lichem Sex und alltäglichem Ehe­bruch. Kin­sey zeich­nete das Bild ein­er mehrheitlich bisex­uellen Bevölkerung[4] und schrieb ihr eine erstaunlich hohe Zahl an homo­sex­uellen Erfahrun­gen zu. Kinder waren aus sein­er Sicht von Geburt an gen­i­tal erreg­bar, wofür er mit der Stop­puhr aufgeze­ich­nete Ver­suche an Kindern und Säuglin­gen präsen­tierte.[5]

Dinge wie Selb­st­be­herrschung, Enthalt­samkeit oder Treue standen bei Kin­sey nicht hoch im Kurs, nur dem per­sön­lichen Vergnü­gen im Weg. Ein spezielles Anliegen von Kin­sey und seinen Mit­stre­it­ern war das Aufzeigen ein­er Kor­re­la­tion zwis­chen vore­he­lichen sex­uellen Erfahrun­gen und ehe­lichem Sex-Glück.[6] Oder wie es sein Wegge­fährte Wardell B. Pomeroy in seinem Aufk­lärungsrat­ge­ber für Jungs formulierte:

«Es ist, wie wenn man mit einem Auto eine Test­fahrt macht, bevor man es kauft.»[7]

Kin­sey machte klar, dass nach seinen Stu­di­energeb­nis­sen eigentlich ein Großteil der Bevölkerung wegen Verge­hen gegen das Sit­tenge­setz hin­ter Git­ter sitzen müsste. Die Forderung, die er aus seinen Stu­di­en ableit­ete, liegt auf der Hand: Die Nor­men müssen an die Real­ität angepasst wer­den, die von der Studie ans Licht gebracht und genau ver­messen wor­den ist. [8]

Die Pub­lic­i­ty rund um die Stu­di­en machte Kin­sey zu einem Star. Er soll zwis­chen­zeitlich nach dem amerikanis­chen Präsi­den­ten gar der bekan­nteste Amerikan­er gewe­sen sein.[9] Sein Por­trait zierte im August 1953 das Cov­er des Time Mag­a­zin, kurz darauf wurde er in Europa emp­fan­gen wie ein Rock­star.[10]

Auf dem Höhep­unkt: Kin­sey ziert 1953 das Cov­er des Time Mag­a­zine. Pho­to: Peter Bruderer

Auch wenn es vor Kin­sey schon wis­senschaftliche Forschun­gen im Bere­ich der Sex­u­al­ität gegeben hat, gel­ten heute seine Berichte als die Grün­der­stunde der mod­er­nen Sex­olo­gie und Kin­sey als der Vater dieser rel­a­tiv jun­gen Diszi­plin. Die Stu­di­en haben in Ameri­ka und weltweit nach­haltig soziale und kul­turelle Werte bee­in­flusst. Sie waren eine bren­nende Lunte für die sex­uelle Rev­o­lu­tion der 60er und 70er Jahre.

Doch wir wis­sen heute, dass Kin­seys wis­senschaftliche Rep­u­ta­tion und empirischen Ergeb­nisse in viel­er­lei Hin­sicht zweifel­haft waren.

Eine verzerrte Datenbasis

Inzwis­chen ste­ht fest, dass die Daten­ba­sis der Studie sig­nifikant verz­er­rt war. Sie bot keineswegs, wie Kin­sey glauben machen wollte, Ein­blick ins Liebesleben des amerikanis­chen Durch­schnitts­bürg­ers. Die Verz­er­rung ent­stand, weil eine über­durch­schnit­tlich hohe Anzahl der Inter­views in Gefäng­nis­sen, im Sex-Gewerbe, in der schwulen Szene und im lib­ertär geprägten städtis­chen Milieu erhoben wurde. Heute geht man davon aus, dass Kin­sey schon im Vorn­here­in eine klare Vorstel­lung von den zu erzie­len­den Resul­tat­en hat­te und deshalb seine Klien­tel gezielt rekru­tierte. Es liegt auf der Hand, dass ein bes­timmter Men­schen­schlag eher bere­it war, seine Fra­gen zu beant­worten, die (nicht nur nach dama­li­gen Vorstel­lun­gen) als obszön indiskret gal­ten und auf sex­uelle Devianzen ziel­ten, und in der entsprechen­den Aus­führlichkeit vor ein­er frem­den Per­son auszubre­it­en. Kin­sey suchte span­nende Sex-Biografien, keine lang­weili­gen Stories.

Kin­sey schlug Bedenken von Fach­leuten bere­its in der Anfangsphase seines Pro­jek­tes in den Wind. So soll der bekan­nte Psy­chologe Abra­ham Maslow ihn bere­its Anfang der 40er Jahre auf die Prob­lematik der sta­tis­tis­chen Unzu­ver­läs­sigkeit ein­er Daten­er­he­bung zu Sex-The­men hingewiesen haben, bei der Frei­willige für die Inter­views ange­wor­ben wür­den. Eine Studie über Sex­u­alver­hal­ten würde eher extro­vertierte Men­schen zum Mit­machen motivieren, eher intro­vertierte hinge­gen abschreck­en.[11]

Ein weit­er­er, sozialpsy­chol­o­gisch gewichtiger Aspekt, den Kin­sey ganz außen vor ließ, war der durch zwei mörderische Weltkriege weit­ge­hend trau­ma­tisierte Zus­tand der Nation – wie übri­gens der ganzen Welt: schlimme, unver­ar­beit­ete Erleb­nisse von Gewalt, Aggres­sion, Trauer, Äng­sten, Ver­lust, Tren­nung und Ent­frem­dung bei den heimkehren­den Män­nern, und entsprechende Belas­tun­gen bei den Frauen, die lange Jahre im Aus­nah­mezu­s­tand funk­tion­ierten. Beson­ders betrof­fen war jene Gen­er­a­tion, die im Fadenkreuz der Stu­di­en stand. Dass Krieg auch im Sex­u­alver­hal­ten des Men­schen einen ‘Aus­nah­mezu­s­tand’ her­beiführt und sit­tliche Ver­wahrlosung eben­so wie sex­uelle Über­sprung­shand­lun­gen begün­stigt, war zur Zeit Kin­seys bere­its eine gut unter­suchte Tat­sache.[12] Den­noch reflek­tieren Kin­sey und seine Kol­le­gen nicht, dass sie ihre Dat­en mit­ten in den Kriegs­jahren und unmit­tel­bar danach – also in der Zeit eines gesellschaftlichen Aus­nah­mezu­s­tandes – erhoben haben. Die Sen­si­bil­ität gegenüber dem Kon­text geht ihnen ab.[13]

Ergeb­nisse der Inter­views wur­den in codiert­er Sprache fest­ge­hal­ten. Pho­to: Peter Bruderer

Neben der also von Grund auf verz­er­rten Daten­ba­sis kamen im Zuge der Daten­ver­ar­beitung viele prob­lema­tis­che Fak­toren hinzu, für deren detail­lierte Aus­führung an dieser Stelle der Platz fehlt – deshalb nur einige kurze Hin­weise. Zum Beispiel wur­den dem Leser kle­in­ste Proban­den­grup­pen als repräsen­ta­tiv für die ganze Bevölkerung verkauft. Oder Per­so­n­en­grup­pen wur­den auf unzuläs­sige weise zusam­menge­fasst. Zum Beispiel kon­nte in ein­er kleinen Proban­den­gruppe das exzes­sive Ver­hal­ten ein­er Einzelper­son die Durch­schnittswerte nach oben schnellen lassen. Das Ergeb­nis bildete dann nicht die Real­ität ab.[14]

Neben Lob für den bahn­brechen­den Charak­ter der Studie gab es deshalb schon bald Kri­tik an der empirisch-wis­senschaftlichen Ver­lässlichkeit der Ergeb­nisse. Die Amerikanis­che Sta­tis­tis­che Gesellschaft musste sich der Sache schlussendlich annehmen. Ihre 1954 pub­lizierte kri­tis­che Analyse der Stu­di­en gibt vie­len Ein­wän­den recht:

«Kri­tik­er bemän­geln zu Recht, dass viele der inter­es­san­testen und pro­voka­tivsten Aus­sagen in dem Buch [Kin­sey 1948] nicht auf den darin präsen­tierten Dat­en beruhen und dass dem Leser nicht klar gemacht wird, auf welchen Beweisen die Aus­sagen beruhen. Außer­dem wer­den die Schlussfol­gerun­gen, die aus den im Buch präsen­tierten Dat­en gezo­gen wer­den, von KPM [Kin­sey, Pomeroy und Mar­tin] oft viel zu kühn und zuver­sichtlich for­muliert. Zusam­mengenom­men laufen diese Ein­wände darauf hin­aus, dass ein Großteil des Buch­es unter das Niveau guter wis­senschaftlich­er Arbeit fällt.»[15]

Ein darwinistisches Menschenbild

Kinsey’s war in seinem Ansin­nen und Vorge­hen von einem bes­timmten Men­schen­bild geleit­et. Als Kind hat­te er sich von dem als rigide emp­fun­de­nen christlichen Glauben sein­er Eltern abge­wandt und sich athe­is­tis­chen und dar­win­is­tis­chen Ideen zugewandt.

Aus Kinsey’s Sicht war der Men­sch ein «men­schlich­es Tier»[16], ein gän­zlich von Trieben geleit­etes Wesen. Alles, was es hemmte, seinen Trieb auszuagieren, war hin­der­lich für eine gesunde und natür­liche Entwick­lung. Ja – es schadete der Evo­lu­tion des Men­schen. Das erk­lärte Ziel von Kin­sey war es, durch seine Studie zur Über­win­dung kul­tureller Hem­mungen beizu­tra­gen zugun­sten eines «rein biol­o­gis­chen Sex­u­allebens».[17] Kin­sey sah im sit­tlichen Empfind­en, und ins­beson­dere im men­schlichen Gewis­sen eine uner­wün­schte und schädliche Beiga­be zur sex­uellen Aktiv­ität.[18]  Solche Dinge standen, so meinte er, der notwendi­gen freien sex­uellen Ent­fal­tung im Wege. Im Wege stand vor allem die Reli­gion und die Kirche mit ihrem Anspruch der sex­uellen Treue und ihrer Bevorzu­gung der Heterosexualität.

Anders als Dar­win, der Evo­lu­tion als Aneinan­der­rei­hung von kle­in­sten Vari­a­tio­nen ver­stand, sah Kin­sey den Haupt­treiber der Evo­lu­tion in jähen Muta­tio­nen. Als Zoologe hat­te er über 20 Jahre hin­weg Mil­lio­nen von Gall­we­spen gesam­melt — zig­tausende davon fein säu­ber­lich aufge­spießt — und sie auf Muta­tio­nen unter­sucht. Seine Samm­lung ist heute noch im Amer­i­can Muse­um of Nat­ur­al His­to­ry gelagert.[19] Nun galt es, sex­uelle Biografien ‘aufzus­pießen’. Dabei waren für ihn die gle­ichen Ideen lei­t­end.[20] Sex­uelle Prak­tiken jen­seits der het­ero­sex­uellen Norm hob Kin­sey als span­nende Muta­tio­nen her­vor. In ihnen meinte er das Entwick­lungspo­ten­tial zu ein­er neuen, höheren Stufe in der Evo­lu­tion der men­schlichen Rasse aus­machen zu kön­nen. Der monogame het­ero­sex­uelle ‚Nor­mal­fall‘ hinge­gen war für ihn unin­ter­es­sant.[21]

Die Tabelle Nr. 34 über frühkindliche ‘Orgas­mus­fähigkeit’ wurde lange nicht hin­ter­fragt. Pho­to: Peter Bruderer

Kin­sey scharte Men­schen um sich, die seine Ansicht­en teil­ten, oder zumin­d­est bere­it waren, sich darauf einzu­lassen. In der umfan­gre­ich­sten Kin­sey Biografie beschreibt James H. Jones dessen Auss­chlusskri­teri­um bei der Rekru­tierung von Mitar­beit­ern wie folgt:

«Für ihn kamen Mitar­beit­er mit ortho­dox­en Sex­u­al­w­erten schlicht und ein­fach nicht in Frage»[22]

Um die rechte Gesin­nung sicherzustellen, mussten poten­tielle Mitar­beit­er sich erst selb­st als Testkan­di­dat­en von Kin­sey sex­uell ausleucht­en und befra­gen lassen.[23] Kin­sey erwartete, dass seine Mitar­beit­er aktiv sex­uelle Gren­züber­schre­itun­gen pflegten. Wer zum inneren Ring gehören wollte, musste sex­uell freizügig leben und sich an homo­sex­uellen Erfahrun­gen und ‘wis­senschaftlichen’ Bil­dauf­nah­men – sprich pornografis­chen Film-Ses­sions – beteili­gen.[24] Die Kosten für diese pornografis­chen Doku­men­ta­tio­nen wur­den an der Uni unter der Rubrik «Tier­auf­nah­men» ver­bucht.[25] Das Stu­dio für die Auf­nah­men befand sich im Dachgeschoss seines Pri­vathaus­es.[26]

Dass Kin­sey mit sein­er Arbeit, sowohl was die Mitar­beit­er als auch was die Proban­den und Befragten bet­rifft, Gle­ich­gesin­nte mag­netisch ange­zo­gen hat, liegt auf der Hand. Der The­ologe Hans Lutz schreibt 1957 in sein­er kri­tis­chen Unter­suchung des Men­schen­bildes von Kinsey:

«Das Bestreben, mit Gewis­sens­bis­sen auf irgen­deine Art fer­tig zu wer­den, sie z.B. durch abw­er­tende Charak­ter­isierung als unberechtigt auszuschal­ten, ist nicht nur der im all­ge­meinen wis­senschaftlichen Gewande aus­ge­sproch­ene Wun­sch Kin­seys, son­dern auch der prak­tis­che Wun­sch viel­er der von ihm befragten Per­so­n­en.»[27]

Man wollte das eigene schlechte Gewis­sen loswer­den. Kin­sey ver­half einem dazu. Doch obwohl dieses Men­schen­bild seine Ziele und Vorge­hensweisen in erhe­blichem Maße prägte und bee­in­flusste, betonte er stets die ‘wis­senschaftliche Voraus­set­zungslosigkeit’ sein­er Arbeit.

Eine persönliche Agenda

Die Forschungstätigkeit von Alfred Kin­sey muss auch vor dem Hin­ter­grund sein­er eige­nen Biografie und Sex­u­al­ität gese­hen wer­den. Seine Biografie war geprägt von ein­er schwieri­gen, angst­be­set­zten Kind­heit, von frühen (homo)erotischen Erfahrun­gen, auch durch über­grif­fige Erwach­sene[28], der Abwen­dung von einem als repres­siv emp­fun­de­nen christlichen Glauben der Eltern und dem radikalen Bruch mit den dazuge­hören­den christlichen Moral­codes.[29]

Zwar blieb Kin­sey sein ganzes Leben mit sein­er Frau Clara ver­heiratet, mit der er vier Kinder hat­te. Doch seine Inter­essen ver­lagerten sich zunehmend aufs männliche Geschlecht und auf sado­masochis­tis­che sex­uelle Prak­tiken.[30] Die bekan­nte ‘Kin­sey Skala’, die impliziert, dass Men­schen nicht in exk­lu­sive het­ero­sex­uelle oder homo­sex­uelle Kat­e­gorien passen, muss unter anderem auch als ein Reflex sein­er eige­nen sex­uellen Vor­lieben gese­hen wer­den. Der Gestal­ter und Bes­tim­mer der Studie ist in der Studie selb­st wiederzufinden.

Die bekan­nte Kin­sey-Skala aus dem Buch über männliche Sex­u­al­ität. Pho­to: Peter Bruderer

Die tiefe Feind­seligkeit gegenüber Kirche und Chris­ten­tum ist eine der Kon­stan­ten, die bis heute das von Kin­sey begrün­dete Berufs­feld der Sex­olo­gie bes­timmt. Kin­sey ist da nur ein­er unter vie­len. Die Schuld für sex­uelle Scham und Reue wurzelte sein­er Ansicht nach in den Restrik­tio­nen und Pflicht­en der bib­lis­chen Tra­di­tion. Ja, er wäh­nte die amerikanis­che Libido im Würge­griff der jüdisch-christlichen Sex­ual­moral.[31] In der Men­tal­ität sog. „prim­i­tiv­er Völk­er“ und in östlichen Reli­gio­nen meinte er hinge­gen befreiende sex­pos­i­tive Men­tal­itäten aus­machen zu kön­nen.[32] Der His­torik­er Paul Robin­son for­muliert es folgendermaßen:

«Er war bestrebt, die Schuld auf die Reli­gion zu schieben, ohne dafür Beweise zu liefern.»[33]

Dem Chris­ten­tum warf er in einem eigen­tüm­lichen Selb­st­wider­spruch vor, als Wertesys­tem völ­lig irrel­e­vant für das reale Leben zu sein, zugle­ich aber die Ursache für alles darzustellen, was die Men­schen belastete oder ein­schränk­te.[34] Er hat­te seine eigene säku­lare Heils­botschaft und ver­bre­it­ete sie mit mis­sion­ar­isch­er Inbrunst:

 «Die Essenz von Kin­seys’ Evan­geli­um war ein­fach: Die Sex­ual­moral musste reformiert wer­den, und die Wis­senschaft würde den Weg weisen».[35]

Seine Strate­gie, um diesem Evan­geli­um zum Durch­bruch zu ver­helfen, war die Erhe­bung ein­er Unmenge von Daten:

«Aus sein­er Per­spek­tive bedeutete dies nur eines: eine wis­senschaftliche Probe von solchem Aus­maß zu sam­meln, dass die Men­schen von seinem Vol­u­men über­wältigt wür­den»[36].

Erfolg dank mächtiger Verbündeter

Die Kin­sey-Stu­di­en waren wis­senschaftlich nicht so objek­tiv, wie sie vor­gaben zu sein. Sie dien­ten vielmehr als Instru­ment, um eine sehr per­sön­liche und weitre­ichende gesellschaftliche Agen­da voranzubrin­gen, wobei Empirie und Sta­tis­tik in gewiss­er Hin­sicht als Tar­nung dienten.

Das Erstaunliche an den Kin­sey-Reporten ist, dass die Rech­nung ihres Urhe­bers aufge­gan­gen ist. Die Wucht der Daten­fülle und die schrillen Schlagzeilen in den Zeitschriften reicht­en aus, um die Öffentlichkeit zu überwältigen.

Die mas­sive Medi­en­aufmerk­samkeit, die die Pub­lika­tion der Stu­di­en begleit­ete, soll von Beginn weg ein inte­graler Bestandteil der Strate­gie wer­den. Bere­its 1946 – zwei Jahre vor Pub­lika­tion der ersten Studie – kam es zu ersten Presse­brief­in­gs. Über die Erschei­n­ung des Ban­des zur weib­lichen Sex­u­al­ität sollen dann 1953 rund 70% der amerikanis­chen Nachricht­en­magazine berichtet haben. Ein unglaublich­er Wert. Entschei­dend dafür war die Unter­stützung durch die Rock­e­feller Foun­da­tion, die ihr weitverzweigtes Netz an Pressekon­tak­ten nutzte und Aus­la­gen finanzierte.[37]

Grossauftritt vor Stu­den­ten an der Berke­ley Uni­ver­sität, 1952. Pho­to: Peter Bruderer

Bis die Fas­sade der Wis­senschaftlichkeit zu bröck­eln begann, die sta­tis­tis­chen Unzulänglichkeit­en und die verdeck­ten per­sön­lichen Moti­va­tio­nen von Kin­sey und sein­er Kom­plizen ans Licht kamen, war die Sache gelaufen und die amerikanis­che Gesellschaft der beab­sichtigten ‘Schock-Ther­a­pie’ unterzogen.

Die lib­er­al-pro­gres­sive Elite in Bil­dung, Poli­tik und Medi­en störte sich nicht an der fehler­haften Daten­ba­sis und an der verz­er­rten Darstel­lung der Real­ität. Denn die Studie hat­te aus ihrer Sicht die ‘richti­gen Schlüsse’ gezo­gen. Davon und von der wis­senschaftlichen Redlichkeit gibt das State­ment von Wardell B. Pomeroy, dem Mitau­tor der Studie, beredtes Zeugnis:

«Sog­ar wo die Sta­tis­tiken fehler­haft waren… waren die Schlüsse, die wir aus ihnen gezo­gen haben, richtig.»[38]

Kin­sey wurde von diesen Kreisen als Erlöser­fig­ur gefeiert, der die Men­schheit in die Frei­heit führt. Zahllose Per­sön­lichkeit­en, die die ‘Hall of Fame’ mod­ern­er Sex­u­al­wis­senschaften bevölk­ern, ließen sich unmit­tel­bar von Kin­sey inspiri­eren. Ob John Mon­ey oder Har­ry Ben­jamin (Trans- und Gen­derthe­o­rien), Hugh Hefn­er (Ja, der Grün­der von Play­boy gehört auch in die Galerie), Mas­ters & John­son (Sex­u­alther­a­pi­en) oder der infame Hel­mut Kentler (Urvater der Sex­u­alerziehung der Vielfalt und posthum aus­gewiesen­er Apolo­get der Pädophilie) – sie alle und noch viele mehr beriefen sich auf Kin­sey als Inspi­ra­tions­ge­ber oder Mentor.

Dem Geist Kin­seys huldigen bis heute, oft völ­lig unkri­tisch, viele maßge­bliche sex­u­al­wis­senschaftliche Schulen, Insti­tu­tio­nen und Pub­lizis­ten. Beispiel­sweise meinte 2009 die Psy­cholo­gin Ange­li­ka Schett in einem Beitrag auf SRF, Kin­sey habe mit dem «unvor­ein­genomme­nen Blick des Wis­senschaftlers» Män­ner befragt.[39]

Der 2004 veröf­fentlichte Kinofilm ‘Kin­sey’ mit Liam Nee­son in der Haup­trol­le zeich­net Alfred Kin­sey in aller Ehrerbi­etung als muti­gen Pro­to­typ des Sex-Guru, der gegen die Big­ot­terie und Heuchelei sein­er Zeit kämpfen musste.

Sich­er haben die Jahre seit Kin­sey auch neue Entwick­lun­gen gebracht, welche teil­weise der Ent­fal­tung sein­er Anliegen in die Quere kom­men. So entwick­elte sich in Teilen der fem­i­nis­tis­chen Bewe­gung das Bewusst­sein, dass seine Vorstel­lung enthemmter Sex­u­al­ität vor allem Frauen ver­ob­jek­tivieren­den Män­nern in die Hand gespielt hat­te. Man ist heute auch wesentlich sen­si­bil­isiert­er für die The­matik von Mach­tausübung im Bere­ich der Sex­u­al­ität. Und die AIDS-Krise der 80er sorgte für ein neues Bewusst­sein bezüglich der gesund­heitlichen Risiken ein­er ungezügel­ten Sexualität.

Vor­lesung an der Uni von Copen­hagen, 1955. Pho­to: Peter Bruderer

Fakt bleibt den­noch, dass weite und vor allem laute Kreise im Beruf­s­stand der Sex­olo­gen sich bis heute hin­ter ihr Idol stellen. Dies trotz seinen wis­senschaftlichen Verz­er­run­gen und Lügen. Trotz sein­er per­versen, über­grif­fi­gen und miss­bräuch­lichen Meth­o­d­en, trotz der zwielichti­gen Mitar­beit­er­rekru­tierung, trotz sein­er Iden­ti­fika­tion und aktiv­en Zusam­me­nar­beit mit pädo­sex­uellen Kinder­schän­dern.[40]

Peter Gehrig, die prä­gende Fig­ur ein­er in der Schweiz bekan­nten Sex­olo­gen-Aus­bil­dung namens «Sex­o­cor­porel» ist in einem SRF-Beitrag aus dem Jahre 2005 voll des Lobes für Kin­sey. Dieser habe die «Dop­pel­moral aus­ge­hoben» und «wis­senschaftlich gezeigt, wie Leute sich sex­uell ver­hal­ten». Wenn man ver­ste­ht, dass die Grün­der­fig­ur sein­er Organ­i­sa­tion – der Kanadier und Ex-Priester Jean-Yves Des­jardins (1931–2011) – seine Sex­u­alther­a­pie unter anderem auf den The­o­rien von Kin­sey aufge­baut hat, dann sind solche Aus­sagen nachvol­lziehbar.[41] Eine Kri­tik an Kin­sey würde möglicher­weise auch die eige­nen Ther­a­piemeth­o­d­en in Frage stellen.

Heimliche Freunde in der Kirche

Unver­hofft Rück­halt fand Kin­sey in der Kirche. Hier ent­pup­pte sich so manch­er ver­meintlich­er Feind als heim­lich­er Ver­bün­de­ter. Kin­sey pflegte in den späten 40ern und bis zu seinem Tod 1956 inten­sive Kon­tak­te in die kirch­liche Welt. The­olo­gen und kirch­liche Funk­tionäre, welche ein Inter­esse an seinem ‘wis­senschaftlich unver­stell­ten’ Blick hat­ten und seine Erken­nt­nisse ins kirch­liche Leben inte­gri­eren woll­ten, genossen seine volle Zuwen­dung. Ihnen gab Kin­sey nüt­zliche Instru­mente in die Hand, um in Syn­oden, Aufk­lärungs­büch­ern oder Fach­lit­er­atur die ‘neuesten wis­senschaftlichen Erken­nt­nisse’ einzubrin­gen und entsprechende Refor­men, Anpas­sun­gen im Leben und in der Lehre ihrer Kirchen vorzuschlagen.

Spuren des Zer­falls: Kin­sey zwis­chen 1948 und 1955.Photo: Peter Bruderer

So bedankt sich der The­ologe Seward Hilt­ner in einem 1953 pub­lizierten Buch über christliche Sex­u­alethik für die Bere­itschaft von Kin­sey, einen «inten­siv­en Briefwech­sel» mit ihm zu führen. [42] Hilt­ner ruft dann in seinem Buch dazu auf, die christliche Sicht auf Sex «im Lichte der Kin­seystu­di­en» zu über­denken.

Weit­ere Kon­tak­te bestäti­gen das Bild eines Kin­sey, der das Chris­ten­tum und seine Sex­ual­moral zwar abgrundtief ver­achtete, aber The­olo­gen mit revi­sion­is­tis­chen Absicht­en höch­ste Aufmerk­samkeit zollte.[43]

Kritiker: hinderlich oder nützlich?

Natür­lich gab es unter Kirchen­leuten auch viele Kri­tik­er. Unter ihnen beispiel­sweise den ein­flussre­ichen The­olo­gen Rein­hold Niebuhr. Das Denken von Kin­sey sei von einem «absur­den Hedo­nis­mus» geprägt, schreibt er in ein­er Reak­tion auf die Stu­di­en.[44]

Eine weit­ere bekan­nte Per­sön­lichkeit unter den Kri­tik­ern war der Evan­ge­list Bil­ly Gra­ham. In ein­er feuri­gen und hörenswerten Rede prangerte er 1953 die destruk­tive Wirkung der erst ger­ade erschiene­nen Studie über Frauen an. «Es ist unmöglich, den Schaden zu bemessen, den dieses Buch der ohne­hin erodieren­den Moral in Ameri­ka beifü­gen wird.», beklagt er gle­ich am Anfang, um anschließend den ‘bib­lis­chen Fall gegen Kin­sey’ darzule­gen. [45]

Bil­ly Gra­ham lag mit seinem Ein­wand, dass die Daten­ba­sis von Kin­sey verz­er­rt sein muss, völ­lig richtig. Seine Innen­sicht auf das fromme Ameri­ka hat­te ihn zu Recht skep­tisch gemacht:

«Dr. Kinsey’s Bericht erweist sich als völ­lig ein­seit­ig und wis­senschaftlich unhalt­bar, wenn darin behauptet wird, dass sieben von zehn Frauen, die vore­he­liche Affären hat­ten, kein­er­lei Gewis­senszweifel hät­ten. Er hat bes­timmt keine der Mil­lio­nen wiederge­boren­er christlichen Frauen befragt, für die Tugend, Anstand und Beschei­den­heit einen hohen Wert haben. Ich habe keine christliche Frau unter meinen Bekan­nten, die sich ein­er solchen Befra­gung und Analyse unterziehen würde.»

Aufre­gung: die Stu­di­en führten zu ein­er Unmenge von Sekundär­lit­er­atur. Pho­to: Peter Bruderer

Kri­tik an den von Kin­sey befeuerten Entwick­lun­gen gab es auch von ander­er Seite, etwa vom bekan­nten Sozi­olo­gen Pitir­im Sorokin (1889–1968), dem Begrün­der und langjähri­gen Leit­er der Sozi­olo­gie an der Har­vard Uni­ver­si­ty. Dieser kri­tisierte in den 50er Jahren die zunehmende Sex-Besessen­heit und ekla­tante Unwis­senschaftlichkeit, welche in Diszi­plinen wie Psy­cholo­gie, Sozi­olo­gie und Anthro­polo­gie Einzug gehal­ten habe. Er begrüße eine wis­senschaftlich solide Forschung, meint Sorokin. Aber eine neue Gilde von sich «gegen­seit­ig auf die Schul­tern klopfend­en» Pseu­do-Wis­senschaftlern sei damit beschäftigt, «Fabeln» zu pro­duzieren und diese dann dem Volk als «objek­tive neue Erken­nt­nisse» zu verkaufen.[46]

In seinem 1956 pub­lizierten Werk «The Amer­i­can Sex Rev­o­lu­tion» spricht Sorokin von ein­er «moralis­chen Schiz­o­phre­nie», die im Land und in der Reli­gion Einzug gehal­ten habe. Son­ntags wür­den Chris­ten ein Lip­pen­beken­nt­nis zur Berg­predigt abgeben, die sog­ar den lüster­nen Blick auf eine Frau ver­bi­etet, während sie wochen­tags nach dem Mot­to «Lasst uns essen und trinken, denn mor­gen sind wir tot!» leben wür­den. Ja, Gefüh­le von Schuld und Reue wür­den im Fahrwass­er der The­o­rien Freuds zunehmend als gefährliche Symp­tome von sex­ueller Repres­sion ver­standen. In ver­schiede­nen Vari­a­tio­nen, aber meist «gek­lei­det im Gewand wis­senschaftlich­er Jar­gons» wür­den «neue Selig­preisun­gen» verkün­det: «ethis­ch­er Müll», der vor allem das Ziel habe, «Mil­lio­nen von Men­schen mit ein­er glitzern­den Recht­fer­ti­gung ihrer ungezähmten Vorhaben zu ver­sor­gen.»[47]

Inwiefern solche Kri­tiken Kin­sey und seinen Ver­bün­de­ten genützt oder geschadet hat, kann disku­tiert wer­den. Zusät­zliche Pub­lic­i­ty bracht­en sie auf jeden Fall.

Kin­sey & Co. hat­ten der­weil ihre eigene Strate­gie, mit Geg­n­ern und Kri­tik­ern umzuge­hen: sie wur­den kurz­er­hand ele­gant als ‘Moral­is­ten’, ‘Prof­i­teure’, ‘Feinde des Fortschrittes’, oder als ‘unwis­sende Igno­ran­ten’ abgestem­pelt.[48]

Wenn Wissenschaft die Realität konstruiert

Der Fall Kin­sey zeigt ein­drück­lich, wie sta­tis­tis­che Erhe­bun­gen als Instru­ment zur Bee­in­flus­sung der öffentlichen Mei­n­ung und zur Lenkung kom­plex­er gesellschaftlich­er Prozesse dienen kön­nen. Neben der sin­nvollen, erhel­len­den, mal mehr und mal weniger präzisen Beschrei­bung der Real­ität kom­men sie eben auch als Waf­fen in den Kul­turkämpfen unser­er Tage zum Ein­satz.[49]

Ger­ade in den Sozial­wis­senschaften kann die Ver­suchung groß sein, über die objek­tive Beschrei­bung hin­aus zur For­mung und Verän­derung der vorge­fun­de­nen Real­ität beizu­tra­gen. Deswe­gen sind eine selb­stkri­tis­che Reflex­ion und das Offen­le­gen der eige­nen Method­olo­gie wis­senschaft­sethisch unerlässlich.

Dun­kle Schat­ten: Kin­sey in Sizilien auf den Spuren des Okkul­tisten Aleis­ter Crow­ley. Pho­to: Peter Bruderer

In einem aktuellen Buch fordert der Poli­tik­wis­senschafter Jason Blake­ly dazu auf, sozial­wis­senschaftliche Texte nicht als trock­ene, tech­nis­che Abhand­lun­gen wahrzunehmen, welche deskrip­tiv die Welt beschreiben, son­dern als «lebendi­ge kul­turelle und ide­ol­o­gisch auf Weltverän­derung zie­lende Unternehmungen».[50] Blake­ly sieht im weit ver­bre­it­eten ‘Sci­en­tismus’[51] unser­er Tage eine latente Form der Machtausübung:

«Die Wis­senschaft bildet nichts weniger als einen einzi­gar­ti­gen mod­er­nen Kul­tur- und Macht­ty­pus. Während frühere Gesellschaften unter dem Miss­brauch ver­schieden­er Arten von Autorität lit­ten — kirch­lich, poli­tisch, stammes­mäs­sig und famil­iär -, erleben allein mod­erne Gesellschaften den Miss­brauch von Autorität im Namen der Wis­senschaft.»[52]

Wis­senschaftliche Pro­jek­te und Stu­di­en kön­nen also Machtin­stru­mente sein im Bemühen von Ide­olo­gien, Dom­i­nanz über ein bes­timmtes Milieu zu erlan­gen oder auszuüben, dieses Milieu zu For­men und zu bestimmen.

Die Kin­sey Stu­di­en und ihre Wirkungs­geschichte sind ein Parade­beispiel dafür, wie dieser Vor­gang funk­tion­iert. Kin­sey kon­nte seine Wertevorstel­lun­gen gesellschaftlich durch­set­zen, indem er mit Sta­tis­tiken operierte und die Deu­tung­shoheit über Zahlen erlangte. Wer die Zahlen kon­trol­liert, bee­in­flusst auch die Mei­n­ungs­bil­dung der Zielgruppe.

Vom Umgang mit Studien über Sexualität

Die herkömm­liche christliche Sex­u­alethik ste­ht seit ger­aumer Zeit unter Beschuss. Spätestens seit Kin­sey erfol­gt der Ansturm auch mit der Wucht von Umfra­gen und Sta­tis­tiken und mit dem Anspruch der Wis­senschaftlichkeit. Die daraus abgeleit­ete Forderung, im Lichte von ‘neuen’ Ent­deck­un­gen oder ‘erdrück­enden’ Fak­ten die christliche Ethik zu über­denken, wird zunehmend auch in eige­nen Rei­hen laut.

Weil uns solche Forderun­gen in den kom­menden Jahren beschäfti­gen wer­den, habe ich mich gefragt: Wie kann ich beurteilen, welche Qual­ität eine Studie im christlich-kirch­lichen Kon­text zum Sex­u­alver­hal­ten hat? An welche Grund­sätze halte ich mich als Christ angesichts immer mas­siv­er wer­den­der, empirisch gestützter Sachzwänge im säku­laren Umfeld?

Hier kommt sie also, meine keineswegs abschließende ‘Check­liste’, die mir erst­mal zur per­sön­lichen Reflek­tion dient:

  1. Die Schlussfolgerungen vieler Studien sind absehbar und sollten mich deshalb auch nicht vom Hocker reissen.

Geschieht etwas, von dem man sagen kön­nte: »Sieh, das ist neu!« – Es ist längst zuvor auch geschehen in den Zeit­en, die vor uns gewe­sen sind. (Pred 1:10)

Wenn die Urhe­ber ein­er Studie ähn­lich aufk­lärerisch-mis­sion­ar­isch vorge­hen wie Kin­sey, wird die Sta­tis­tik ver­mut­lich ziem­lich genau das ausspuck­en, was ihrem Ansin­nen entspricht, und in diesem Sinne inter­pretiert wer­den. Die entsprechen­den Head­lines sind abse­hbar, kön­nten eigentlich schon vor­ab geschrieben wer­den:

«Warum sich Chris­ten nicht an die moralis­chen Maxi­men ihrer Kirchen halten.»

«Das Sex­u­alleben der Gläu­bi­gen ist bunter und vielfältiger als gedacht.»

«Chris­ten erleben Sex­ual­moral der Kirchen als repres­siv und veraltet.»

«Studie: Kirchen ver­hin­dern sex­uelle Ent­fal­tung in Eigenverantwortlichkeit.»

«Viele fühlen sich aus­geschlossen – große Studie fordert Akzep­tanz für queeres Christentum.»

«Neue Erken­nt­nisse: Studie fordert Über­denken christlich­er Sexualethik.»

«Zurück auf die Schul­bank: Kirchen man­gelt es an sex­ueller Fachkompetenz.»

  1. Als Nachfolger Jesu sollte ich immer bereit sein, Fehler einzusehen, Korrekturen anzubringen und etwas zu lernen.

Prüft alles und behal­tet das Gute! Das Böse aber – ganz gle­ich in welch­er Form – sollt ihr mei­den. (1Thess 5:21–22)

Ich darf als Christ die Dinge ohne Angst prüfen und das, was sich als Gut erweist, behal­ten. Wer weiss? Vielle­icht bringt eine neue Studie etwas Wichtiges zum Vorschein?!

Mit der Auf­forderung zur Prü­fung geht aber auch die oft unter­schla­gene Auf­forderung zusam­men, das Böse, in welch­er Form auch immer, zu iden­ti­fizieren und zu mei­den. Sta­tis­tiken im weit­en Spek­trum der Erfahrun­gen, Empfind­un­gen und Lebensweisen von Men­schen, die sich als Chris­ten beze­ich­nen, sind eine inter­es­sante Infor­ma­tion­squelle, die Auf­schluss gibt über das, was unter uns an Fra­gen, Erwartun­gen, Man­gelzustän­den, Verir­run­gen und auch Fehlhal­tun­gen Real­ität ist.

Ich brauche mir dabei keine Illu­sio­nen zu machen: wed­er kirch­liche Ein­rich­tun­gen noch christliche Fam­i­lien sind davor gefeit, ungute Kom­pro­misse zu schließen, sich an den Schwäch­sten zu verge­hen, Fehlhal­tun­gen, dun­kle Geheimnisse zu pfle­gen und falschen Abhängigkeit­en bis hin zum Miss­brauch Vorschub zu leis­ten – auch und erst recht im Bere­ich der Sex­u­al­ität. Dass dem so ist, wird dieser Tage nur zu gerne öffentlichkeitswirk­sam ven­tiliert. Ja, es gibt tat­säch­lich Hand­lungs­be­darf im christlichen Umfeld.

Ich sollte mich aber auch nicht von einem Nar­ra­tiv blenden lassen, welch­es in ein­er kon­ser­v­a­tiv­en Sex­u­alethik die Wurzel allen Übels sieht. Die Beratungskolum­nen der säku­laren und from­men Presse und die Flut von psy­chol­o­gis­chen Beratungs- und Ther­a­pieange­boten machen sicht­bar, dass die Auflö­sung sex­ueller Nor­men nicht notwendi­ger­weise zu einem erfüll­ten Sex­u­alleben führt oder ein Dasein frei von Verklemmtheit und Neu­rose. Die Sprechz­im­mer christlich­er Seel­sorg­er sind rand­voll mit Men­schen, die nicht an den Ansprüchen ein­er christlichen Moral und Sex­u­alethik zu zer­brechen dro­hen, son­dern an den ver­heeren­den Fol­gen ihrer Nichteinhaltung.

  1. Christliche Ethik und Moral lässt sich weder aus dem Durchschnittsverhalten von Umfrageteilnehmern ableiten, noch bemisst sie sich daran, wie erfolgreich professionelle PR-Maschinen sie an den Mann und an die Frau bringen. 

Ich mache also ständig dieselbe Erfahrung: Das Gute will ich tun, aber ich tue unauswe­ich­lich das Böse. Ich stimme Gottes Gesetz aus tief­ster Überzeu­gung und mit Freude zu. Den­noch han­dle ich nach einem anderen Gesetz, das in mir wohnt. (Röm 7:21–23, HfA)

Ergeb­nisse von Umfra­gen wer­den mit Sicher­heit dazu herange­zo­gen wer­den, eine Revi­sion tra­di­tioneller christlich­er Moralvorstel­lun­gen zu fordern. Als Nach­fol­ger von Jesus definiere ich aber, was ethisch richtig und falsch ist, nicht wie Kin­sey & Co. auf­grund empirisch­er Trends und Durch­schnittswerte. Vielmehr ori­en­tiere ich mich an der zeit­losen Wahrheit Gottes, welche uns Chris­ten durch sein Wort zugänglich ist.

Mass­ge­blich für die Herde Jesu ist nicht der durch­schnit­tliche Stand­punkt und die Befind­lichkeit der Schafe, son­dern der Zielpunkt des Hirten, der sicheres Gelände und nahrhafte Wei­den für seine Herde im Blick hat. Als Nach­fol­ger Jesus weiss ich um die guten und heil­samen Absicht­en Gottes. Deshalb stimme ich mit Paulus Gottes Gesetz «aus tief­ster Überzeu­gung und mit Freude zu».

Dass es ein Span­nungs­feld gibt zwis­chen dem, was der Meis­ter für uns im Blick hat, und dem, was wir nach eigen­em Gut­dünken für richtig und erstrebenswert hal­ten, ist dabei von vorn­here­in evi­dent. Stu­di­en, die vorgeben, diese Span­nun­gen erst ‘aufzudeck­en’, erge­hen sich in Trivialitäten.

Ob nach dem Kin­sey-Report oder nach der Veröf­fentlichung der näch­sten oder übernäch­sten Studie: Als Nach­fol­ger Jesu darf für mich die Wahrheit weit­er­hin darin beste­hen, dass christliche Fam­i­lien und bib­lis­che Sex­u­alethik nicht das Prob­lem sind, son­dern eine Antwort auf die seit Men­schenge­denken beste­hen­den und aktuellen Störun­gen unser­er Kul­tur sein können.

Chris­ten sind fehlbar, christliche Fam­i­lien machen Fehler, keine Frage. Eben­so die Kirche. Aber am Ende des Tages liegt in den Schätzen Gottes wesentlich mehr Hoff­nung und nach­haltige Kraft als in den modis­chen Weisheit­en der Welt, deren Ver­falls­da­tum oft genug schon vor dem Abklin­gen des Hypes, der um sie herum gemacht wird, abge­laufen ist.

  1. Als Nachfolger Jesu will ich mich nicht von einer vorgeblichen Wissenschaftlichkeit blenden lassen, sondern aufmerksamer Beobachter sein.

Nehmt euch vor denen in Acht, die euch mit ein­er leeren, trügerischen Philoso­phie ein­fan­gen wollen, mit Anschau­un­gen rein men­schlichen Ursprungs, bei denen sich alles um die Prinzip­i­en dreht, die in dieser Welt herrschen, und nicht um Chris­tus. (Kol 2:8, NGÜ)

Meine Beschäf­ti­gung mit den Hin­ter­grün­den der Kin­sey Studie haben mir klargemacht, dass ich nicht ein­fach gut­gläu­big fressen muss, was mir vorge­set­zt wird. Der weltan­schaulich ’neu­trale’ Raum ist let­z­tendlich wohl eine Illu­sion. Nicht über­all wo ‘wis­senschaftlich’ drauf­ste­ht, ist auch gute Wis­senschaft drin. Eben­so enthält nicht alles Chris­tus, wo ‘christlich’ draufsteht. 

Wenn ich mit ein­er Sex-Umfrage kon­fron­tiert werde, kön­nen mir fol­gende Fra­gen dabei helfen, mir einen ersten Ein­druck zu bilden:

  • Wie ist die Gesamt­studie angelegt?
    Wer steckt hin­ter der Studie? Was für Moti­va­tio­nen treiben die Urhe­ber an? Was haben sie son­st noch pub­liziert? Haben sie ihren Stan­dort gekennze­ich­net, kön­nten sie in irgen­dein­er Weise befan­gen sein? Leg­en sie ihre Prämis­sen, Vorüber­legun­gen und impliziten The­sen offen? Wer­den die Roh­dat­en zugänglich gemacht? Wer finanziert oder spon­sert die Studie? Über welche Kanäle sollen die Ergeb­nisse pub­liziert werden?
    Grund­sät­zlich gilt: Wenn bei ein­er Studie ein aus­führen­des Team mit ‘mis­sion­ar­isch­er Agen­da’ und ein poten­ter Part­ner in der Ver­mark­tung zusam­menkom­men, ist erst­mals Vor­sicht ange­bracht. Denn dann ist die Möglichkeit für eine ide­olo­gie- oder inter­essegeleit­ete Manip­u­la­tion gegeben.
  • Sind die gewählten Meth­o­d­en der Studie sin­nvoll oder problematisch?
    Nicht nur, aber ins­beson­dere im Bere­ich Sex­u­al­ität ist die Wahrschein­lichkeit, dass die Ergeb­nisse ein­er öffentlich frei zugänglichen Umfrage repräsen­ta­tiv sind und den Quer­schnitt des unter­sucht­en Zielpub­likums zuver­läs­sig abbilden, ger­ing. Die sachgemäße Entzer­rung der Resul­tate dürfte wiederum eine prob­lema­tis­che Übung sein. Resul­tate aus solchen Umfra­gen sollte ich deshalb grund­sät­zlich mit der nöti­gen Zurück­hal­tung ‘genießen’.
  • Ver­spricht die Umfrage klar umris­sene Erken­nt­nisse oder eröffnet sie große inter­pre­ta­tive, speku­la­tive Spielräume?
    Sind die Fra­gen und die Antwor­top­tio­nen ver­ständlich und klar, oder kön­nen sie in unter­schiedliche Rich­tung gedeutet wer­den? Bein­hal­ten Fragestel­lun­gen implizite moralis­che Wer­tun­gen, die mein Votum bee­in­flussen kön­nten? Wer­den zen­trale Begriffe definiert oder nicht? Meine Ver­mu­tung: Unschär­fen in den Fragestel­lun­gen und in der Begrif­flichkeit tra­gen zu ein­er unsachgemäßen Erweiterung der inter­pre­ta­tiv­en Spiel­räume bei. Begriffe kön­nen im Nach­gang inhaltlich ten­den­z­iös gefüllt wer­den und so die Ergeb­nisse der Studie verzerren.
  • Auf welchen weltan­schaulichen oder auch fach­lichen Voran­nah­men beruht der Auf­bau der Umfrage?
    Men­schen funk­tion­ieren auf der Grund­lage ihrer Weltan­schau­ung kon­se­quenter, als ihnen selb­st vielle­icht bewusst ist. Die Prä­gung und der Hin­ter­grund der Urhe­ber wird nicht erst in der Auswer­tung sicht­bar, son­dern bere­its in der Erstel­lung der Umfrage. Diese ist sozi­ol­o­gisch gese­hen bere­its Teil der Realitätsbildung.
    Wenn zum Beispiel ohne eine voraus­ge­hende Frage nach dem eige­nen Konzept von Geschlecht, wie selb­stver­ständlich, mehr als zwei Geschlechter in der Umfrage zur Auswahl ste­hen, dann ist das zugle­ich eine weltan­schauliche Aus­sage («wir fol­gen hier nicht dem bib­lis­chen Nar­ra­tiv von zwei Geschlechtern ») und eine Form der Real­itäts­bil­dung («Es ist heute selb­stver­ständlich, von mehr als zwei Geschlechtern zu reden, also soll­test du es auch.»).
    Ich weiß mit­tler­weile auch, dass es lei­der keine Garantie für solide Wis­senschaftlichkeit ist, wenn neuere Stu­di­en ihre Fragekat­a­loge an etablierten Messin­stru­menten der Sex­u­al­wis­senschaft aus­richt­en, erst recht nicht, wenn diese selb­st in der Tra­di­tion ein­er von Kin­sey geprägten Sex­u­althe­o­rie ste­hen. [53]
    Bei ein­er Urteils­bil­dung hil­ft es mir, wenn ich eine Umfrage daraufhin befrage, was sie aus­lässt und warum. Im Bere­ich der Sex­u­al­ität kann ich zum Beispiel fra­gen, inwiefern die Umfrage den grundle­gen­den Zusam­men­hang zwis­chen Sex und Fortpflanzung berück­sichtigt oder nicht (The­men wie Frucht­barkeit, Kinder­wun­sch, Schwanger­schaft, Eltern­schaft und der­gle­ichen). Bleibt dieser Zusam­men­hang weit­ge­hend aus­ge­blendet, kann das natür­lich eine sin­nvolle Beschränkung des The­mas der Umfrage sein. In ein­er großen Studie mit dem Anspruch auf den umfassenden Blick auf den men­schlichen Sex­u­al­trieb und das Sex­u­alver­hal­ten kann das aber auch ein Hin­weis auf ein pro­gres­sives Mind­set in der Tra­di­tion eines Kin­sey sein. Denn seine Vision war die ein­er von ‘lästi­gen Neben­ef­fek­ten’ wie der Sorge um die Zeu­gung von Kindern befre­it­en, ego-zen­tri­erten und lust­fokussierten Sexualität.

Mit dieser «Mes­sage to self» möchte ich meine Übung in ‘ide­ol­o­gis­ch­er Archäolo­gie’ nun auch abschließen. Ich durfte ein­mal mehr viel ler­nen, und bin damit sich­er noch nicht am Ende.

Kin­sey starb am 25. August 1956. Sein Geist weht aber in viel­er­lei Hin­sicht immer noch um uns. Es lebt weit­er im infa­men Kin­sey Insti­tute, welch­es bis heute mit Rück­endeck­ung aus Poli­tik und Acad­e­mia die Lügen und Ver­brechen ihres Grün­ders kaschiert.[54]

Kin­seys Geist lebt vor allem weit­er in den poli­tisch ten­den­z­iösen Gen­der­stud­ies unser­er Tage, in der zele­bri­erten sex­uellen Vielfalt der Pride-Märsche, in den das kindliche Schamge­fühl stra­pazieren­den Aufk­lärungs­büch­ern und in dem stetig mutieren­den Vok­ab­u­lar der Queer-Bewe­gung. Vielle­icht auch schlicht und ein­fach in der neusten Sex­u­alum­frage, bewor­ben in der Zeitschrift deines Vertrauens.

Gestal­tung Titel­bild: Peter Bruderer

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Fuss­noten:

[1] https://nursingclio.org/2013/08/20/dropping-the-k-bomb/
[2] 20. August 1953, Vgl: https://www.pbs.org/wgbh/americanexperience/features/bomb-soviet-tests/
[3] Mündliche Auskun­ft von Judith Reis­man im Rah­men eines Zoom­calls am 05.01.2021
[4] Vgl. dazu die bekan­nte Kin­sey-Skala: https://en.wikipedia.org/wiki/Kinsey_scale
[5] Vgl. Dazu die ominöse Tabelle Nr. 34 in Sex­u­al Behav­ior in the Human Male
[6] Diese Behaup­tung ist unbe­wiesen, hinge­gen gibt es einen gut doku­men­tierten Zusam­men­hang zwis­chen vore­he­lichem Verkehr und erhöhter Wahrschein­lichkeit ein­er Schei­dung. Vgl. z.B. diese aktuelle Studie: https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0192513X231155673
[7] Wardell B. Pomeroy, Boys and Sex, A long need­ed mod­ern sex­u­al Guide for Boys, 1968, S107
[8] Vgl. James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S619-620
[9] https://www.srf.ch/play/tv/mtw/video/alfred-kinsey-dr–sex?urn=urn:srf:video:ad7de488-306e-4b59-b877-a99a59aed8bc&showUrn=urn%3Asrf%3Ashow%3Atv%3Aad7de488-306e-4b59-b877-a99a59aed8bc
[10] Unter anderem gab es Auftritte an der Uni­ver­sität von Kopen­hagen und Aarhus (DK)
[11] Zitiert aus: Judith Reis­man, Stolen Hon­or Stolen Inno­cence: How Amer­i­ca Was Betrayed by the Lies and Sex­u­al Crimes of a Mad “Sci­en­tist”, 2012, S55, eigene Übersetzung
[12] Vgl. etwa Mag­nus Hirschfeld, Sit­tengeschichte des Weltkrieges, 1930
[13] Es ist kein Wun­der, dass die USA in den 50ern eine kon­ser­v­a­tive Wende erlebten und die Kin­sey-Stu­di­en ihre Wirkung erst verzögert in der sex­uellen Rev­o­lu­tion der späten 60er und der 70er ent­fal­tet haben. Die Men­schen waren in den Nachkriegs­jahren auf der Suche nach Nor­mal­ität und men­schlich­er Wärme, Heilung der Beziehun­gen, Schutz der Fam­i­lien, Ern­st­nehmen der Scham. Die zer­störerischen Auswirkun­gen ein­er aus den Fugen ger­ate­nen Welt inkl. Sex­u­al­ität hat­ten sie erlebt. Sie woll­ten etwas anderes. Vgl. z.B:
https://www.lovetoknow.com/life/relationships/1950s-family-structure-values-everyday-life
https://www.bartleby.com/essay/Religious-Revival-of-the-1950s-PKM3U493RYZS
[14] Für eine aus­führliche Behand­lung der sta­tis­tis­chen Fehler und Prob­leme: Amer­i­can Sta­tis­ti­cal Asso­ci­a­tion, Sta­tis­ti­cal Prob­lems of the Kin­sey Report, 1954. Vgl. auch: Dr. Hans Lutz, Das Men­schen­bild der Kin­sey Reporte, Beiträge zur Sex­u­al­forschung, 10. Heft, 1957, S45-57
[15] Amer­i­can Sta­tis­ti­cal Asso­ci­a­tion, Sta­tis­ti­cal Prob­lems of the Kin­sey Report, 1954, S152, eigene Übersetzung
[16] Pro­gram­ma­tisch dafür der Titel ein­er Schrift von ihm aus dem Jahre 1941: «Sex Behav­iour in the Human Animal».
[17] Dr. Hans Lutz, Das Men­schen­bild der Kin­sey Reporte, Beiträge zur Sex­u­al­forschung, 10. Heft, 1957, S55
[18] Dr. Hans Lutz, Das Men­schen­bild der Kin­sey Reporte, Beiträge zur Sex­u­al­forschung, 10. Heft, 1957, S60
[19] https://www.amnh.org/research/invertebrate-zoology/collections/hymenoptera-non-apoidea/kinsey-gall-wasps
[20] Vgl. Cor­nelia Chris­ten­son, Kin­sey: a Biog­ra­phy, 1971, S8
[21] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S220
[22] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S480, eigene Übersetzung
[23] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S480
[24] Vgl. dazu das Kapi­tel «We can­not use any­one afraid of Sex» in James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic /  Pri­vate Life, 1997, S465-500
[25] Wardell B. Pomeroy, Dr. Kin­sey and the Insti­tute for Sex Research, 1972, S174
[26] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S607, 612–613
[27] Dr. Hans Lutz, Das Men­schen­bild der Kin­sey Reporte, Beiträge zur Sex­u­al­forschung, 10. Heft, 1957, S61
[28] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S23, eigene Übersetzung
[29] Vgl. z.B. Wardell B. Pomeroy, Dr. Kin­sey and the Insti­tute for Sex Research, 1972, S30
[30] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S612-614
[31] Paul Robin­son, The Mod­erni­sa­tion of Sex, 1976, S86
[32] Vgl. R. Marie Grif­fith: The Reli­gious Encoun­ters of Alfred C. Kin­sey, The Jour­nal of Amer­i­can His­to­ry, Sept. 2008, S368
[33] Paul Robin­son, The Mod­erni­sa­tion of Sex, 1976, S83
[34] Vgl. R. Marie Grif­fith: The Reli­gious Encoun­ters of Alfred C. Kin­sey, The Jour­nal of Amer­i­can His­to­ry, Sept. 2008, S352
[35] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S466, eigene Übersetzung
[36] James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S466, eigene Übersetzung
[37] : Judith Reis­man, Stolen Hon­or Stolen Inno­cence: How Amer­i­ca Was Betrayed by the Lies and Sex­u­al Crimes of a Mad “Sci­en­tist”, 2012, S55, eigene Übersetzung
[38] Wardell B. Pomeroy, Dr. Kin­sey and the Insti­tute for Sex Research, 1972, S286p, eigene Übersetzung
[39] https://www.srf.ch/audio/agenda/alfred-kinsey-der-tabubrecher?uuid=57fb470b-e3c7-4f4c-b088-5b704b12a6fc
[40] Es ist Judith Reis­man (1935–2021), welche 1990 in ihrem Buch Kin­sey, Sex and Fraud die öffentliche Aufmerk­samkeit auf die ominöse Tabelle 34 in Sex­u­al Behav­ior in the Human Male lenk­te. Darin wird die sex­uelle Erre­gungs­fähigkeit von Kleinkindern exper­i­mentell doku­men­tiert. Ihre Kon­fronta­tion von Wegge­fährten von Kin­sey in der Phil Don­ahue Show ist sehenswert und kann heute noch auf Video nachgeschaut wer­den: https://www.youtube.com/watch?v=zUGtmb0taKU. Die Sym­pa­thien Kin­seys für Pädophile wird in der Biografie von James H. Jones bestätigt: James H. Jones, Alfred C. Kin­sey — A Pub­lic / Pri­vate Life, 1997, S752-753.
[41] Kin­sey ist die primäre Quelle für Des­jardins in seinem ersten und wohl bekan­ntesten Buch «Le Mythe du Péché Soli­taire» (1969). Das Buch plädiert für die De-Stig­ma­tisierung von Mas­tur­ba­tion. Unter anderem führt Des­jardins die von Kin­sey miss­bräuch­lich unter­suchte frühkindliche sex­uelle Erreg­barkeit und das Vorkom­men von Mas­tur­ba­tion in der Tier­welt als Argu­mente ins Feld.
[42] Seward Hilt­ner, Sex Ethics and the Kin­sey Reports, 1953, vii
[43] Die Kon­tak­te von Kin­sey ins religiöse Milieu und deren Reak­tion auf seine Pub­lika­tio­nen sind gut doku­men­tiert in der Forschungsar­beit von R. Marie Grif­fith: The Reli­gious Encoun­ters of Alfred C. Kin­sey, The Jour­nal of Amer­i­can His­to­ry, Sept. 2008, S349-377. Unter anderem wer­den darin der Ein­fluss von Kin­sey auf bekan­nte The­olo­gen wie den Amerikan­er Nor­man Pit­tenger oder den Englän­der Der­rick Shervin Bay­ley erwäh­nt. Der Prozess-The­ologe Pit­tenger, zwis­chen­zeitlich Vor­sitzen­der der The­ol­o­gis­chen Kom­mis­sion des Weltkirchen­rates, forderte in seinem Buch Time for Con­sent (1970) die völ­lige Annahme von homo­sex­uellen Beziehun­gen und out­ete sich anschliessend selb­st als homo­sex­uell. Der Englän­der Der­rick Shervin Bai­ley soll sichtliche Freude an seinem schriftlichen Aus­tausch mit Kin­sey gehabt haben. Er hat­te grossen Ein­fluss durch sein Buch Sex­u­al Rela­tion­ships in Chris­t­ian Thought (1959), in dem er für eine Lockerung der britis­chen Sit­tenge­set­ze plädierte und neue Argu­mente bezüglich Homo­sex­u­al­ität in die The­ol­o­gis­che Debat­te einführte.
[44] Don­ald Porter Ged­des (ed.), An analy­sis of the Kin­sey Reports on Sex­u­al Behav­ior in the Human Male and Female, 1954, S66
[45] https://billygraham.org/audio/the-bible-and-dr-kinsey/ , Vgl. Auch den Tran­script in: E.J. Daniels, I Accuse Kin­sey!, 1954, S103-112, eigene Übersetzungen
[46] Vgl z.B Pitir­im Sorokin, The Amer­i­can Sex Rev­o­lu­tion, 1956, S38-43 oder auch Pitir­im Sorokin, Fads and Foibles in mod­ern Soci­ol­o­gy, 1958, S3‑4
[47] Vgl. Pitir­im Sorokin, The Amer­i­can Sex Rev­o­lu­tion, 1956, S43-46, eigene Übersetzungen
[48] Wardell B. Pomeroy, Dr. Kin­sey and the Insti­tute for Sex Research, 1972, S286, eigene Übersetzung
[49] Vgl. Dazu Beispiel­sweise: Joel Best, Damned Lies and Sta­tis­tics – Untan­gling Num­bers from the Media, Politi­cians, and Activists, 2001
[50] Jason Bleke­ly, We Built Real­i­ty – How Social Sci­ences Infil­trat­ed Cul­ture, Pol­i­tics, and Pow­er, 2020, xiv, eigene Übersetzung
[51] Als Sci­en­tismus wir die Mei­n­ung beze­ich­net, dass die Wis­senschaft mit­tels wis­senschaftliche Meth­o­d­en der beste oder einzige Weg sind, um die Wahrheit über die Welt und die Real­ität zu erkennen.
[52] Jason Bleke­ly, We Built Real­i­ty – How Social Sci­ences Infil­trat­ed Cul­ture, Pol­i­tics, and Pow­er, 2020, xvi, eigene Übersetzung
[53] Wer einen real­is­tis­chen Blick auf die Irrun­gen und Wirrun­gen in der noch kurzen Geschichte der Sex­olo­gie gewin­nen möchte, dem seien fol­gende zwei Büch­er emp­fohlen: Ira L. Reiss, An Insider’s View of Sex­u­al Sci­ence Since Kin­sey, 2006; Jan­ice M. Irvine, Dis­or­ders of Desire: Sex and Gen­der in Mod­ern Amer­i­can Sex­ol­o­gy, 1990
[54] Vgl. dazu den aktuellen Artikel von Albert Mohler über die Verquick­un­gen des Kin­sey Insti­tutes mit der Uni­ver­sität von Indi­ana und der Poli­tik dieses US-Bun­desstaates: https://wng.org/opinions/polymorphous-perversity-in-the-heartland-1700050198?fbclid=IwAR2xwo9BSaTda609p9D6HmQPFIccKJb0zR6cZdEzbcZTkI-efUbZMhILr1M

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Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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