Kirchen sind Räume der Gnade für Menschen, die Jesus Christus kennenlernen wollen. Hier sollen sie hoffentlich auch zum Glauben an Jesus kommen und aufblühen! In dieser Serie von drei Artikeln präsentiere ich den 3AB Weg als Hilfe für Kirchen, Pastoren, Seelsorger und Christen, damit sie besser verstehen, wie sie ihre Kirche als Raum der Gnade gestalten können.
Ich zeige den 3AB Weg am Beispiel der sexualethischen Themen und Diskussionen, die unsere Gesellschaft und Kirchen beschäftigen. Der 3AB Weg ist aber auch anwendbar auf andere ethische Themen wie z.B. Umgang mit Finanzen, Umwelt oder soziale Gerechtigkeit und ist in diesem Themen genauso wichtig, wie bei der Sexualethik.
Im ersten Artikel dieser Serie habe ich die Kirche in Korinth als konkretes Beispiel eines Raumes der Gnade beschrieben. Nun gehe ich dazu über, 9 Thesen zu formulieren, die sich aus dem Beispiel von Korinth ableiten lassen. Diese Thesen bilden das Rückgrat für den 3AB Weg, der im nächsten Artikel konkret ausformuliert wird.
These 1: Kirchen sind für Sünder
These 2: Der Raum der Gnade schafft den Garten des Aufblühens
These 3: Wir müssen unterscheiden lernen zwischen Aktivitäten, die sofort stoppen müssen, und Wachstumsbereichen
These 4: ‘Halb-christliche’ Argumente sind eine Chance
These 5: Pastoren müssen eine positive Sicht haben für die biblischen Werte
These 6: Fehlende Lehre schliesst den Raum der Gnade
These 7: Wo die Lehre fehlt, führt gutgeheissene Sünde zu ‘Notordnungen’ und neuen Normalordnungen
These 8: Wir sollten Christen nicht zu schnell taufen
These 9: Bewährtes Christsein geht dem Dienst in einer Vorbildrolle voraus
These 1: Kirchen sind für Sünder
Kirchen sollen Menschen aufnehmen und lieben, auch wenn sie noch nicht im vollen Umfang verstanden haben, was es heisst, Jesus nachzufolgen.
Dieser Punkt ist schnell erklärt und gut verständlich. Die Kirche in Korinth hatte kein Stop-Schild am Eingang: «Zutritt verboten für Männer, die zu Prostituierten gehen.» Sie durften kommen, wurden aufgenommen, gelehrt und gemäss ihrer Reifung in den Dienst geführt.
Das bedeutet für uns: wir sollen die Menschen zuerst einmal mit offenen Armen aufnehmen und uns freuen, dass sie da sind. Dies mag in unserer Zeit eine kulturelle und ideologische Herausforderung für Christinnen und Christen sein, die sich schon an ein mehr oder wenig christliches Umfeld gewöhnt haben. Es kann sogar für ‘Fromme’ einen Kulturschock geben.
Wir sind berufen, alle Sünder mit offenen Armen willkommen zu heissen! Ihnen gilt die Liebe Gottes, die Gott dazu bewegte, Mensch zu werden und für sie zu sterben, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben erben (Joh 3:16). Mit ihnen hat Jesus öffentlich sichtbar Tischgemeinschaft gepflegt, sodass die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen (Luk 15:2). In der Gemeinde von Korinth waren Menschen, die von Diebstahl und Raub lebten, die alkoholabhängig waren, notorische Ehebrecher, Lästerer und Verleumder, und die homosexuell gelebt haben (1Kor 6:9–10). Kirchen bestehen aus Sündern und sind für Sünder!
Ich will niemandem zu nahe treten, aber eigentlich muss ich sagen: Lokalkirchen sind für Sünder wie du und ich. Wir selbst sind dankbar, dass wir von der Kirche aufgenommen wurden, den Glauben an Jesus finden und unsere Schritte gehen durften und weitere gehen dürfen. Darum gilt: wo wir Menschen aufnehmen und lieben, auch wenn sie noch überhaupt nicht verstanden haben, was es heisst, Jesus nachzufolgen, entsteht für sie in der Gemeinde ein Raum der Gnade.
Reden wir hier gewissermassen von tolerierter Sünde in der Kirche? Mir scheint, dass die Antwort davon abhängt, wie wir das Verhältnis von Sünde und Toleranz definieren.
Das unreflektierte, landläufige Verständnis von Toleranz lautet: Ich nehme dich an, indem ich deine Meinung und dein Verhalten gutheisse. Widerspruch gegen die gewählte Ethik einer Person ist in diesem Verständnis gleichzusetzen mit Ablehnung der Person. Die lateinische Definition von Toleranz ist jedoch anders. ‘Tolerare’ bedeutet: ertragen, aushalten, erdulden. In diesem Artikel folge ich dem Latein entsprechenden Verständnis: Toleranz leben heisst jemand annehmen, selbst wenn ich dessen Meinung und gewähltes Verhalten nicht in allem gutheisse. In dieser Weise ist ein Raum der Gnade ein Raum der Toleranz.
Paulus hat also die Sünde, Sex mit Prostituierten zu haben, in der Gemeinde in Korinth toleriert. Diese Aussage muss für einige kontrovers sein. Mir scheint aber, dass wir es hier tatsächlich mit einer gewissermassen tolerierten Sünde zu tun haben. Achtung: Nicht gutgeheissener Sünde, sondern tolerierter Sünde. Wie lange Paulus dieses Fehlverhalten toleriert hätte, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er es in diesem Moment duldet, respektive toleriert.
These 2: Der Raum der Gnade schafft den Garten des Aufblühens
Wo Kirchen den Menschen helfen umzudenken, wird der Raum der Gnade für sie zum Garten des Aufblühens.
Menschen blühen auf, wenn sie anfangen mit Jesus zu leben und durch verändertes Denken heil werden. So beginnen sie, ein neues Verhalten zu lieben, sich darin bewähren und Gott zu dienen. Das Leben als Nachfolger von Jesus ist somit ein Garten, in dem unser Leben mit Jesus aufblühen soll. In diesem Prozess spielt Theologie, wie schon gesagt, eine Schlüsselrolle. Theologie will in der Bibel immer zu verändertem Denken und daraus verändertem Leben führen. Die Kraft zu diesem Leben kommt aus dem Geist Christi, mit dem der Gläubige verbunden ist (1Cor 6:17). Dem Aufblühen geht immer ein Umdenken voraus.
Das Wichtige ist, dass wir dieses Aufblühen vor Augen haben, wenn es am Anfang ‘zäh’ ist. Zäh mit uns selbst, zäh mit anderen Menschen, welche die neue christliche Plausibilität noch nicht erkennen, geschweige denn leben. Gerade dann müssen wir uns vor Augen führen: der Raum der Gnade schafft den Garten des Aufblühens von geistlichem Leben, wo Gedanken heil werden und neue Verhaltensweisen eingeübt werden können. In diesem Garten des Aufblühens lernen wir, uns zu bewähren und zu dienen.
These 3: Wir müssen unterscheiden lernen zwischen Aktivitäten, die sofort stoppen müssen, und Wachstumsbereichen
Kirchen müssen lernen zu unterscheiden zwischen Aktivitäten, die missbräuchlich oder sogar illegal sind und deshalb sofort aufhören müssen und solchen, die nicht sofort aufhören müssen, sondern wo es zur Veränderung, Reifung und letztlich zum Aufblühen kommen soll.
In dieser These geht es darum, dass Toleranz von Sünde nicht zur Toleranz von Aktivitäten führen darf, die derart ’no go’ sind, dass sie sofort stoppen müssen. Die katholische Kirche hat diesen Punkt zu wenig beachtet, was ihre Kirchen zu Räumen des Missbrauchs werden liess. Ich nenne die katholische Kirche hier lediglich, weil im Moment vor allem sie im Rampenlicht steht von öffentlich bekannt gewordenen Missbrauchsfällen. Wir müssen leider davon ausgehen, dass reformierte Kirchen und Freikirchen ebenso Probleme haben, wie auch allgemein Vereine, Firmen und Organisationen aller Art. Aber hier stellen wir die Frage im Christlichen Kontext: Wie verhindern wir, dass unsere Kirchen zu Orten werden, wo nicht-tolerierbarer Missbrauch stattfindet, ohne gleichzeitig den Raum der Gnade zu schliessen?
Wir sehen bei Paulus, dass er diese Unterscheidungen kennt und sie in der Gemeinde in Korinth etabliert. Im Raum der Gnade in Korinth gibt es Sünden, die toleriert werden (These 1), und Sünden, die sofort aufhören müssen. In 1Kor 5:1–5 lesen wir, dass es in der Kirche in Korinth einen Fall von Inzest gibt. Es ist kein biologischer, sondern ein sozialer Inzest: ein Mann hat ein sexuelles Verhältnis mit seiner Stiefmutter. Die sexuelle Beziehung ist möglicherweise einvernehmlich, zumindest wird nichts Gegenteiliges ersichtlich. Trotzdem wertet Paulus zusammen mit Mose und dem Judentum dieses Verhalten als Inzest.
Zum sexuellen Fehlverhalten sagt Paulus erstens ‘No go!’ und zweitens ‘sofort stop!’ Seine Begründung: der Fall ist derart unmoralisch, dass «er nicht einmal bei denen toleriert würde, die Gott nicht kennen» (1Cor 5:1) Sogar die Heiden denken in diesem Fall also gleich wie die Christen: dasgeht nicht. Das Römische Gesetz verbietet dieses Verhalten ausdrücklich. Paul sagt nicht nur ’das geht nicht!’ sondern auch ‘hör’ sofort damit auf!’.
Die angedrohte Massnahme muss als Massnahme der Gnade gewertet werden. Dieses Fehlverhalten ist derart krass daneben, dass dieser Christ mittels der Massnahme aus seiner geistlichen Umnachtung geweckt werden soll, damit er zur Besinnung kommt und an dem Tag, an dem der Herr Gericht hält, doch noch gerettet wird (1Cor 5:5 NGÜ). Nicht Strafe ist hier das Motiv, sondern grösste Sorge um das Seelenheil dieses Mannes. Der Ausschluss des Mannes bei unverändertem Verhalten ist also auch Raum der Gnade.
Während Paulus beim Inzest sagt ‘no go’ und ‘sofort stop’ sagt, sagt er bei den gläubigen Bordelbesucher genauso ‘no go’ aber nicht ‘sofort stop’. Paulus kann unterscheiden zwischen Aktivitäten, die sofort aufhören müssen und solchen, die nicht sofort aufhören müssen. Kirchen müssen das auch.
Die Frage ist dann sofort, nach welchen Kriterien diese Unterscheidung zu vollziehen ist. Ich denke, die Linie verläuft heute zum Teil an anderen Orten als damals und zum Teil am gleichen Orte. Es ist wichtig, hier mit grosser Vorsicht zu agieren. Es gibt eine Reihe von Fragen, die hier gestellt werden müssen. Ich nenne lediglich zwei davon, die aus dieser unmittelbaren Diskussion heraus entstehen:
Frage 1: Wie ist die Legalität eines Verhaltens?
Frage 2: Wie plausibel ist das christliche Verhalten für die Umgebungskultur?
Ich habe bereits erwähnt, dass Inzest von der römischen Gesetzgebung verboten war. Es gibt Verhaltensweisen, die derart illegal sind, dass man sie unmöglich in der Gemeinde dulden darf. Sie sind nicht nur ‘no go!’ sondern auch ‘sofort stop!’.
Paulus deutet ein zweites Thema an. Im Fall des Inzests ist sogar den Heiden klar, dass es nicht geht. Dies gilt aber nicht für den Besuch von Männern bei Prostituierten. Bei den gläubigen Bordellbesucher gibt Paulus deshalb nicht ein plumpes, schnelles Verbot «tut es nicht», nur um danach sofort zum nächsten Thema überzugehen. Vielmehr wendet Paulus viel Text auf, um die Argumente der Männer einzubinden und anschliessend hinüberzuführen in eine völlig neue Plausibilität im Denken über den Körper. Paulus zielt auf ein Umdenken, das mittel- und langfristig Frucht trägt. Er setzt nicht auf einen Appell, das kurzfristig vielleicht eine gewisse Verhaltensänderung bewirken könnte, aber mittel- und langfristig zu Rückfällen führt, weil keine neue Logik ins Denken aufgenommen wird.
Paulus gibt den Männern also Zeit, weil ihnen die neue, christliche Logik noch nicht logisch ist. Damit öffnet er die Kirche als Raum der Gnade. Er sieht seine Aufgabe darin, die Männer so zu lehren, dass eine tiefe Umorientierung ihres Denkens möglich wird, damit sie das Gute am biblischen Narrativ erkennen können:
Richtet euch nicht länger nach den Maßstäben dieser Welt, sondern lernt, in einer neuen Weise zu denken, damit ihr verändert werdet und beurteilen könnt, ob etwas Gottes Wille ist – ob es gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob es vollkommen ist (Rom 12:3)
Damit die frommen Bordellbesucher diesen Prozess des Umdenkens vollziehen können, sagt Paulus zwar «no go!» aber nicht «sofort stop». Die Kirche gibt ihnen Zeit und Raum, da zu sein, auch wenn sie eigentlich in Sünde leben. Wir als Lokalkirchen sollen es dem Apostel nachmachen!
Unser gesellschaftliches Umfeld ist an entscheidenden Punkten komplett heidnisch geworden. Werte wie „Treue“, „Solidarität“, „Emotionalität“, „Intimität“, „Fürsorge“, „Lebensglück“, „Elternschaft“ etc. sind vom Institut der Ehe abgekoppelt, total sentimentalisiert und werden nahezu hysterisch als einklagbare Rechte eingebracht, auch und erst recht für homosexuelle Paare und Singles. Sie haben den allerbreitesten gesellschaftlichen Konsens. Mit diesem Mindset kommen die Menschen und wollen Jesus Christus kennenlernen.
Viele Menschen sehen demzufolge keinerlei Plausibilität beim Gedanken, mit sexueller Intimität bis zur Heirat zu warten oder überhaupt noch zu heiraten. Sie sehen auch die Logik nicht mehr, dass die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau bestehen soll. Solange die Liebe unter Erwachsenen einvernehmlich ist, ist sie gut und darf nicht kritisiert werden. Es kommt ja niemand zu Schaden, oder etwa nicht? Darum sollen gleichgeschlechtlich Empfindende genauso heiraten dürfen wie heterosexuell Empfindende. Vielen Menschen unserer Zeit ist komplett fremd, warum nur eine heterosexuelle Ehe erlaubt sein soll. Love is love!
Wenn Menschen mit dieser Logik Christen werden, ändert sich ihr Denken nicht von einem Moment auf den anderen, geschweige denn ihr Verhalten. Geben wir ihnen wie Paulus Zeit, um eine neue Logik in ihr Denken aufzunehmen oder fordern wir von ihnen, dass sie sich sofort ändern müssen? Gemeinden sollen Menschen aufnehmen und lieben, auch wenn sie noch nicht in allen Belangen verstanden haben, was es heisst, Jesus nachzufolgen. Gemeinden sind für Sünder, nicht nur für Heilige.
These 4: ‘Halb-christliche’ Argumente sind eine Chance
Wo Pastoren und Leiter ‘halb-christliche’ Argumente als Chance wahrnehmen, wird die Kirche ein Raum der Gnade.
Menschen, die noch nicht zum Glauben gekommen sind, sowie auch junge Christen und vom Denken der Welt beeinflusste Christen werden ‘semi-christliche’ Argumente finden, um ein Verhalten zu rechtfertigen, das die Bibel als Sünde bezeichnet. Im ersten Artikel reflektiere ich beispielhaft über die Argumente der gläubigen Bordellbesucher in Korinth. Sie enthalten Spuren von christlicher Lehre und klingen in ihren Ohren wohl deshalb christlich. Paulus zeigt, dass sie aber komplett in die falsche Richtung führen.
Wir müssen die Anwesenheit solcher ‘halb-christlichen’ Argumente akzeptieren und lernen, sie als Chance zu sehen. In Korinth sind diese Argumente da. In unseren heutigen Gemeinden sind sie, ob offen ausgesprochen oder nicht, ebenso da. Leider werden ‘halb-christliche’ Argumente manchmal problematisiert. Zum Beispiel können Pastoren, Pastorinnen und Leitende auf jeden kleinsten Ansatz einer vermuteten Irrlehre hypersensibel reagieren. Sie möchten diese sofort ‘plattwalzen’.
Mir scheint, dass Paulus die vorhandenen ‘semi-christlichen’ Argumente als Chance packt. Er hat sich offensichtlich Zeit genommen, zuzuhören und sie zu verstehen. Er nutzt sie als Startpunkt seiner eigenen Argumentation. Dadurch setzt er den Startpunkt seines Arguments dort an, wo das Denken seiner Zuhörer sich befindet. Er vergrössert damit die Wahrscheinlichkeit, dass seine Zuhörer und Zuhörerinnen sich auf die für sie neue Logik einlassen. Paulus lehrt differenziert. Den christlichen Elementen der Argumente widerspricht er nicht, aber er korrigiert die ´semi-christlichen‘ Ansichten an den nötigen Punkten und argumentiert dabei im Gesamthorizont biblischer Lehre und christologischer Erkenntnis. Dabei entfaltet er eine holistische Gemeinde-Theologie, die auch für die vermeintlich unbescholten lebenden Gemeindeglieder von immenser Wichtigkeit und großer Dringlichkeit ist.
These 5: Pastoren müssen eine positive Sicht haben für die biblischen Werte
Wo Pastorinnen und Pastoren nicht selbst zu einer bejahenden, im umfänglichen Sinne positiven Sicht auf die in der Heiligen Schrift offenbarten Werte durchdringen, werden sie keine guten Argumente finden und den Raum der Gnade unnötig einengen.
Das Argument von Paulus darüber, dass der Körper der Männer einen viel höheren Wert hat, als sie selbst denken, ist gefüllt von Menschenfreundlichkeit und Güte. Die Männer werden hier angeleitet, viel höher von sich zu denken im Licht ihrer Verbundenheit mit Jesus Christus. Gleichzeitig bringt das einen Schutz hinein für die Opfer der heidnischen doppelbödigen Sexualpraxis: Die Körper der Frauen, der Sklaven, Prostituierten und Kinder werden geschützt und ebenso neu gewürdigt. Über die letzten Jahre durfte ich die Grundaussagen der Sexualethik in der Bibel neu entdecken und habe mich – ja, so würde ich es sagen – zutiefst in sie verliebt. Sie sind derart schön und gut!
Es ist von einem derart positiven Ort aus, dass Paulus sein Argument aufbaut in seinem Versuch, die gläubigen Freier auf neue Bahnen zu lenken. Es ist von hier aus, dass er die Argumente der Männer überhaupt erst als ‘semi-christlich’ identifiziert. Wir sollten es ihm nachmachen!
Pastorinnen und Pastoren müssen sich Zeit nehmen, die heutigen gesellschaftlichen Argumente zu verstehen. Sie müssen sich auch Zeit nehmen, um zu sehen, auf welche Weise diese Argumente sozusagen ‘christianisiert’ in der Gemeinde auftauchen in der Form von ‘semi-christlichen’ Argumenten. Ich höre unter vielen Christen, dass die Logik ‘love is love’ sie überzeugt. Andere Christen führen das Argument der Einvernehmlichkeit unkritisch und unreflektiert ins Spiel und glauben tatsächlich, dass eine einvernehmliche Liebesbeziehung unter mündigen Personen in jedem Fall zu befürworten ist. Aufgrund dieses Argumentes glauben sie zwar noch, dass eine Ehe zwischen einem Mann und einer Frau etwas Gutes ist, aber sie glauben nicht mehr an die Exklusivität der Ehe von Mann und Frau.
Pastoren und Pastorinnen müssen diese Überlegungen als ‘semi-christliche’ Argumente erkennen. Den christlichen Elementen darin sollten sie nicht widersprechen. Sie sollten zum Beispiel wissen, dass Einvernehmlichkeit eine Innovation des Christentums ist und der Einvernehmlichkeit deshalb nicht widersprechen. Aber sie müssen zeigen, dass Einvernehmlichkeit mit anderen wichtigen Werten kombiniert werden soll. Aktuell gehört beispielsweise dazu, die Bedeutung des Körpers im christlichen Weltbild zu verstehen, was dann Auswirkungen auf eheliche Sexualität, auf die aussereheliche Sexualität, sowie auf nicht heterosexuelle Sexualität hat.
Zu guter Letzt sollten Pastoren ihre Argumente von einem Ort ausgehend aufbauen, der von positiven Gefühlen gegenüber den Grundaussagen der Bibel zu Sexualität geprägt ist. Es kann nicht sein, dass sie nur ‘Nein’ sagen. Die Frage ist zuerst: Wofür sind wir eigentlich? Und was ist das Gute daran? Von da ausgehend dürfen und müssen wir auch ‘Nein’ sagen zu gewissen Praktiken, die dem Guten widersprechen. Aber das ‘Nein’ sollte grundsätzlich von einer positiv empfundenen Verbindung zur Lehre der Bibel kommen. Sonst wird der Raum der Gnade sich eher schliessen.
These 6: Fehlende Lehre schliesst den Raum der Gnade
Erst die klar vorhandene und kommunizierte Lehre öffnet den Raum der Gnade.
Wo die Lehre ausbleibt, entsteht kein Raum der Gnade, sondern ein Raum der Willkür und Verwirrung. Ist die Lehre aber klar genug etabliert, entsteht Raum für Einzelsituationen und für eine duldsame Toleranzfähigkeit. Christliche Lehraussagen, also ‘Dogmen’, zerstören den Raum der Gnade gerade nicht, wie dies öfters behauptet wird. Dogmen bilden den Raum der Gnade. Ich möchte versuchen, dies anhand eines Beispiels ausserhalb der Sexualethik zu illustrieren.
In Galater Kapitel 2 konfrontiert Paulus den Apostel Petrus aufs Schärfste, weil dieser angefangen hat, sich von den Heiden abzusondern. Das Verhalten von Petrus kompromittiert gemäss Paulus das Evangelium. Mit anderen Worten: Das Verhalten von Petrus weckt gewichtige theologische Fragen, insbesondere, weil das falsche Verhalten eines Leiters für die Kirche weitreichende Folgen hat.
In Apostelgeschichte 16 sehen wir jedoch, dass Paulus selbst etwas tut, welches das Potential hat, gewichtige theologische Fragen zu wecken: Er beschneidet Timotheus aus Rücksicht auf die Juden. Timotheus ist väterlicherseits Grieche, durch seine jüdische Mutter jedoch nach rabbinischem Recht „gebürtiger Jude“ mit Option auf alle Rechte (und Pflichten), bei dem lediglich die Beschneidung aussteht. Wenn ihn Paulus beschneidet, dann darum, um zu betonen, dass der alte Bund seine Gültigkeit im Neuen nicht verloren hat, aber ins neue überführt gehört. Damit zeigt er „den Juden“ in der Kirche: Sieh mal an, der vormals Unbeschnittene wird Israel nicht entfremdet, sondern findet durch Christus erst recht zu seinen abrahamitischen Wurzeln zurück!
Warum darf Paulus das machen und Petrus durfte solche Dinge nicht? Mir scheint, dass ein Teil der Antwort darin liegt, dass zum Zeitpunkt von Apostelgeschichte 16 die Theologie geklärt und etabliert war, was zum Zeitpunkt von Galater 2 nicht der Fall war. In Galater 2 kommt die Petrus-Episode zwar nach dem, was die meisten als den Apostelkonzil sehen, aber viele gehen davon aus, dass die Petrus-Episode zeitlich davor stattgefunden hat. Auf jeden Fall findet die Beschneidung von Timotheus nach dem Apostelkonzil statt, also zu einem Zeitpunkt, an dem Beschneidung eines bereits getauften Christen keine theologische Grundsatzfrage aufwirft.
Mein Punkt: Ist die Theologie geklärt, hat Paulus einen gewissen Freiraum, Dinge zu tun, die vor der theologischen Klärung Anlass zu theologischer Verwirrung und allenfalls Willkür gegeben hätte. Darum lautet die These 6: Fehlende Lehre schliesst den Raum der Gnade. Ist die Theologie und die Ethik geklärt, öffnet sich damit der Raum für die Gnade und die Möglichkeit, Einzelsituationen zu tolerieren.
Kirchen agieren manchmal jedoch genau umgekehrt. Sie denken, dass sie vermeiden müssen, die eigentlich würdigende Lehre zu bringen, weil sie Rücksicht vor den Betroffenen nehmen wollen. Man will niemand brüskieren oder jemandem zu nahe treten. Damit öffnen sie den Raum der Gnade jedoch nicht, sondern sie schliessen ihn, weil sie den Menschen die biblischen Aussagen zu ihrer eigentlichen Würde vorenthalten. Geöffnet wird so ein anderer Raum, nämlich der Raum der Willkür und Verwirrung.
These 7: Wo die Lehre fehlt, führt gutgeheissene Sünde zu ‘Notordnungen’ und neuen Normalordnungen
Der Gefahr, dass gutgeheissene Sünde zu Notordnungen führen, die wiederum zu neuen Normalordnungen führen können, begegnen wir mit offen und gut kommunizierter Lehre.
Sünde ist alles, was Menschen von ihrer gottgegebenen Würde wegführt. Dies wird im Raum der Gnade auf differenzierte Weise toleriert (siehe dazu Artikel 1). Ich rede hier also nicht von tolerierter Sünde, sondern von gutgeheissener Sünde. Diese kann zu ‘Notordnungen’ führen, die wieder zum neuen Normalordnungen führen können, wenn sie nicht durch Lehre ins richtige Licht gerückt werden.
Das Wort ‘Notordnung’ wird heute in zwei Zusammenhängen benutzt. Im ersten Zusammenhang wird ‘Notordnung’ benutzt für eine Gruppe von Konzessionen, die das Alte Testament macht, wie z.B. die Möglichkeit der Ehescheidung oder die Möglichkeit von Zweitfrauen. Der zweite Zusammenhang ist die queere und progressive Theologie, welche heutzutage fordert, dass klar verbotene Verhaltensweisen als ‘Notordnungen’ geduldet werden müssen, nur um wenig später diese zur neuen Norm zu erklären. Weil oft nicht klar ist, in welchem Sinn jemand das Wort ‘Notordnung’ benutzt, setze ich es hier zwischen Anführungs- und Schlusszeichen.
Wie schon gesagt, schweigt Paulus nicht bezüglich des Verhaltens der Christen, die zu Prostituierten gehen, sondern er lehrt sie bezüglich ihrer Würde. Damit klärt er, in welche Richtung das Denken und Handeln dieser Männer sich entwickeln soll. Ohne Lehre besteht die reale Gefahr, dass das Fehlverhalten diese Männer irgendwann akzeptiert und gutgeheissen wird.
Nehmen wir das Beispiel eines poliamourös lebenden Mannes. Vielleicht ist er zusammen mit einem anderen Mann gemeinsam mit zwei Frauen involviert und kommt jetzt in die Kirche. Es kann sein, dass diese Situation schweigend toleriert und theologisch unkommentiert gelassen wird. Unkommentiert kann diese gutgeheissene Sünde zum nächsten Schritt führen: dem Wunsch oder der Forderung, dass diese polyamouröse Beziehung gesegnet wird, als eine Art von ‘Notordnung’. Es gibt in gewissen kirchlichen Kreisen diese Forderungen bereits.
Wenn aus lauter ‘Liebe’ und mangelndem Mut, dies theologisch offen zu thematisieren, ein solcher Segen gesprochen wird, kann es schnell dazu kommen, dass die Notordnung nicht mehr gut genug ist. Sie muss zu einer Normalordnung umfunktioniert werden. Die Entwicklung der Aussagen von Martin Benz zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zeigt eine solche Entwicklung beispielhaft: was für Benz einst eine ‘Notordnung’ war, nennt er jetzt eine ‘Neuordnung’.
Daraus schliesse ich: Wo der Mut zur biblisch-christlichen Lehre fehlt, werden komplett andere Ausrichtungen das Denken von Gemeinden übernehmen. Pastoren, Pastorinnen, Kirchen, Leitende und Werke haben keine Wahl mehr: sie müssen sich inhaltlich den herausfordernden Fragen stellen. Ansonsten werden gutgeheissene Sünden zu Notordnungen und neuen Normalordnungen führen.
These 8: Wir sollten Christen nicht zu schnell taufen
Die Taufe sollte in unserem ‘neu-heidnischen’ Setting einer nach-christlichen Gesellschaft erst vollzogen werden, wenn Christen und Christinnen die Grundlagen des Glaubens und den Preis, den ihre Nachfolge kosten könnte, verstehen.
Im Neuen Testaments wurden die Taufen kurz nach der Bekehrung durchgeführt. Später veränderte sich das. In den ersten paar Jahrhunderten des Christentums wurden Christen erst nach einer gründlichen Einführung in Lehre und Jüngerschaft getauft, die Monate oder sogar einige Jahre dauern konnte. Ein Grund für diese Entwicklung ist, dass die Kirchen realisiert haben, dass Gläubige erst dann ein verändertes Leben der Nachfolge führen können, wenn sie gut genug verstanden haben, was die Unterschiede zwischen dem Leben im Heidentum und dem Leben mit Jesus sind.
Ich glaube, dass wir in unserer ´neu-heidnischen’ Zeit etwas Äquivalentes tun müssen. Menschen bekehren sich und sind in ihrem Denken und Verhalten kaum oder gar nicht auf Christus ausgerichtet. Wir brauchen Katechismen und Kurse, welche den Menschen klar machen, welches Gottes- und Menschenbild die Bibel hat, was das Heil wirklich bedeutet und was der Preis der Nachfolge ist. Dies muss in unserer Zeit auch Klärung der Grundwerte der christlichen Sexualethik beinhalten. Ohne dass wir die Taufe gesetzlich überbewerten und zu einem Abzeichen von ‘reifem Christsein’ machen, müssen wir, so glaube ich, in den nächsten Jahren lernen, die Lehre und Nachfolge viel besser anzubringen. Wenigsten die Klärung, was das beinhaltet.
Es geht mir an diesem Punkt nicht nur um die Taufe. Manche kommen getauft in die Kirche. Manchmal müssen Christen Dinge nachexerzieren. Es geht mir vor allem darum, dass wir Elemente in unsere Kirchenaktivität einbauen, wo wir gute Grundlagen legen auf der Ebene der Lehre und ebenso auf der Ebene der praktischen Umsetzung und Jüngerschaft.
These 9: Bewährtes Christsein geht dem Dienst in einer Vorbildrolle voraus
Wenn Leitende, Pastoren und Pastorinnen in Schlüsselbereichen der Nachfolge kein bewährtes Leben führen, werden sie zur Hypothek für die Gemeinden.
Während in Korinth die Christen, die zu Prostituierten gehen, in der Gemeinde sein können, um ein verändertes Denken und Verhalten zu entwickeln, ist allgemein für Vorbilder in den ersten Kirchen klar, dass sie sich an gewissen Punkten in der Nachfolge Jesu bewährt haben müssen (siehe dazu z.B. 1Tim 3:1–13, wo übrigens auch sexualethische Elemente definiert werden).
Petrus erklärt, dass die Leitenden nicht als Beherrscher der Kirche agieren, sondern durch ihr Vorbild leiten sollen. Nachdem ein Mensch zum Glauben gekommen ist und im Raum der Gnade angefangen hat umzudenken und ein verändertes Leben zu führen, öffnet diese Bewährung den Raum zum Dienst. Der Raum der Gnade öffnet den Raum der Bewährung, welcher wiederum den Raum des Dienstes öffnet. Jede Person ist zur Gemeinschaft in der Kirche eingeladen, aber nicht jede zum Leiten in der Kirche.
Wenn Vorbilder in der Gemeinde diese Schritte nicht selbst gehen, werden sie nicht wissen, wie sie in den entscheidenden Situationen dienen müssen. Ein nicht-bewährter Pastor wird keine Stabilität haben, wenn seine Gemeindeglieder beginnen, neue Notordnungen und Normalordnungen zu fordern. Eine unreife Pastorin wird nicht verstehen, welche Elemente es braucht, damit Christinnen, die mit grösseren Sünden leben, Veränderung erfahren können. Solche Pastoren werden entweder ungeduldig, unbarmherzig und überfordernd sein, oder selbst orientierungslos die Fahne nach dem aktuellen Wind richten.
Darum: Je mehr bewährte Christen und Christinnen eine Gemeinde hat, desto mehr kann der evangelistische Dienst stabil wachsen gegenüber Menschen, die aus unseren „neu-heidnischen“ Umständen zum Glauben kommen.
Nun liegen meine Karten auf dem Tisch
Mit diesen 9 Thesen habe ich meine ‘Karten’ auf den Tisch gelegt. Ich stelle die Thesen gerne zur allgemeinen Diskussion. Ich erhoffe mir, dass wir einander helfen, Gemeinden zu gestalten, die von den Menschen als wirkliche Räume der Gnade Jesu erlebt werden. Was denkst du über die einzelnen Thesen? Wo siehst du es anders?
Im nächsten und letzten Artikel stelle ich den 3AB Weg vor, auf den alles bisher Gesagte zielt. Ich wende die Thesen beispielhaft auf Situationen an, welche christliche Missionsorganisationen in Gebieten mit polygamen Familien hatten. Der 3AB Weg zeigt konkrete Schritte auf, wie Pastoren, Seelsorger und Christen ihre Kirche als Raum der Gnade gestalten können für Menschen, die in der Sexualität ganz andere Lebensentwürfe wählen, als die Bibel für gut befindet.
Bilder: St Andrew Undershaft Church, London, iStock
Hallo, Paul,
vielen Dank für diese interessanten Ausführungen in deinen drei Artikeln zum “Raum der Gnade”. Vieles hat Überlegungen von mir aufgenommen, die ich schon lange eher unsortiert in meinen Gedanken herum getragen habe. Es ist für mich sehr spannend, dazu eine so fundierte theologische Auseinandersetzung zu lesen, die dann ja in den Kommentaren mit anderen Beteiligten noch fortgesetzt wird.
Ich bin im Leitungsteam einer Freikirche, keine ausgebildete Theologin und hatte doch gleich mehrere Gespräche vor dem inneren Ohr, in denen die von dir beschriebene Spannung so sehr zum Ausdruck kommt. Auch, weil wohl in jeder Gemeinde so unglaublich viele verschiedene Standpunkte zu einzelnen Themen sind. So kann es sein, dass ein Gemeindemitglied von der Leitung erwartet, einen homosexuell empfindenden Besucher sofort anzusprechen und zu konfrontieren, während ein anderes Mitglied derselben Gemeinde den Ehebegriff längst auf gleichgeschlechtliche Ehen ausgedehnt hat und von der Gemeindeleitung absolute Toleranz einfordert. Da ist es so wichtig, für sich selbst und im Leitungsteam eine möglichst große Klarheit zu erreichen, welche Position man dazu einnehmen will. Deine Artikel dazu werde ich mir jetzt noch einmal genauer vornehmen und durchdenken.
Ein vorheriger Kommentar bemängelt ja, dass als Beispiele wieder hauptsächlich die sexualethischen Themen herhalten müssen, während die anderen Sünden etwas unter den Teppich fallen. Zum einen haben wir da in den Gemeinden wirklich so etwas wie einen blinden Fleck, zum anderen ist es aber nun einmal so, dass gerade in der Sexualethik die größten Veränderungen der letzten Jahre spürbar sind. In meiner Arbeitsstelle werde ich gerade auf diese Themen immer wieder angesprochen, weil es für viele nichtgläubige Erwachsene wirklich wirkt wie von einem anderen Stern, wenn ich z.B. über mein Verständnis von Ehe oder Sexualität spreche.
Auch müssen wir jetzt z.B. in der Jugendarbeit unserer Gemeinde darum ringen, welche Werte und biblische Impulse wir unseren Jugendlichen geben wollen. Denn selbst unter den Mitarbeitenden gibt es dazu schon eine große Varianz an Positionen, oft je nachdem wie alt diese sind. Unsere Jugendlichen und jungen Erwachsenen wachsen ja in einer Welt auf, in der es eine große Selbstverständlichkeit verschiedenster Entwürfe gibt und auch da erscheint mir dein Ansatz sehr hilfreich. Auch das Buch “Liebe deinen Körper” (an einer anderen Stelle empfohlen) hat mir da schon weiter geholfen.
Danke also dafür und ich bleibe weiterhin gespannte Leserin eurer Artikel 🙂
VG Ruth
Vielen Dank Ruth — bin gespannt, was du nach zweiter Lektüre denkst, fragst, bewegst. Du beschreibst in deinen Worten die Realität sehr vieler Freikirchen. Ich finde es super, dass du da tiefer reinschaust. Und vielleicht auch mit deiner Leitung angehst. Wenn ich helfen kann, meld’ dich ungeniert. bb Paul
Lieber Paul
Erstmal herzlichen Dank für dein Nachdenken und Anregen einer Diskussion. Da sind sehr viele wertvolle Gedanken drin, die ich gut nachvollziehen und teilen kann.
Ich wiederhole mich, möchte es aber doch auch schriftlich anmerken. Es geht um die Passage „Während Paulus beim Inzest sagt ‘no go’ und ‘sofort stop’ sagt, sagt er bei den gläubigen Bordelbesucher genauso ‘no go’ aber nicht ‘sofort stop’. Paulus kann unterscheiden zwischen Aktivitäten, die sofort aufhören müssen und solchen, die nicht sofort aufhören müssen. Kirchen müssen das auch.“
Aus meiner Sicht schaffst du hier eine „falsche“ Alternative, zumindest können diese Formulierungen falsch verstanden werden. Ich bin dir ja sehr wohlgesonnen und will dich richtig verstehen, meine deshalb auch zu erkennen worauf du hinaus willst, würde es aber nicht so formulieren. Es scheint mir nicht präzise genug, wenn du schreibst, dass Paulus den Freiern nicht auch ein sofortiges stoppen ihrer Hurerei gebietet. Sehr wohl tut er das. Mit μη γενοιτο setzt er ein absolutes „No Go“-Statement und zugleich eine radikale Aufforderung zur Unterlassung. (Man beachte μη γενοιτο im Römerbrief). Was Paulus nicht tut? Er sanktioniert die Bordellbesucher nicht in gleichem Mass, wie den Mann der in Unzucht mit seiner Stiefmutter lebt. Dort greift Paulus ein, weil die Korinther es gegen besseres Wissen unterlassen hatten, Konsequenzen zu ziehen, sie waren dort offenbar stolz auf eine falsche Toleranz.
Die Nichtsanktionierung nun kann verschiedene Gründe haben, das miss unbedingt bedacht werden:
1. sie kann aufgrund seelsorgerlichen Vorgehens geschehen, ganz dem Sinne wie du es meinst — bzw wie ich dich verstehe. Schritt eins ist dann nicht der Sanktionshammer. Die Betroffenen müssen verstehen was da schief läuft, damit sie richtige Entscheidungen treffen können. Es läuft hier entsprechend Mt 18 ein Prozess, der irgendwann wohl auch zu Sanktionen führen wird, sofern es nicht zu einer freiwilligen Umkehr kommt, aber eben nicht zu Beginn.
2. es kann sein, dass Paulus die Umstände dass Männer ins Bordell gehen, nur „allgemein bekannt“ sind, im Gegensatz zum Inzestfall, d.h. was nicht konkret ist kann auch nicht konkret sanktioniert werden. Das ist ja in der Praxis auch heute oft der Fall. Oft ist Sünde in der Gemeinde nicht offenbar, das macht sie nicht weniger sündig, aber hat eine gravierende Folge bezüglich der Verantwortung seitens der Mitchristen. Sanktioniert wird ja ohnehin immer nur die Unbussfertigkeit, d.h. wenn jemand an offenbarer Sünde festhält und das dann zu seinem Heil UND zum Schutz der Gemeinde.
Verstehst du was ich meine? Ich finde die Formulierung, dass Paulus kein „sofort stop“ fordert unpräzise. Sünde muss immer sofort gestoppt werden. Un diesem Sinn erwartet Paulus konkreten Gehorsam auf seine Lehre, ein Gehorsam, der sich in der sofortigen Unterlassung der Bordellbesuche manifestiert. Das bedeutet aber nicht dass Sünde im Sinne von gemeindedisziplinarischen Massnahmen immer sofort sanktioniert werden muss. Ich stelle damit nicht deinen Gedanken grundsätzlich in Frage sondern eine aus meiner Sicht unpräzise evtl. irreführende Formulierung mit der Formulierung „sofort stop“
Lieber Daniel, danke – ich schätze deinen Input hier sehr. Mir ist sonnenklar, dass man meine Formulierung falsch verstehen kann 😊 Das Risiko gehe ich gerne ein und freue mich ausserordentlich über den regen Austausch hier.
Ich lese deine Ausführungen und stelle fest, dass ich mit fast allem einverstanden bin. Meine Formulierung ist vermutlich tatsächlich zu unpräzise. Es stimmt – wie du sagst – dass Paulus den Christen, die zu Prostituierten gehen, keineswegs sagen möchte: ‘no go’ aber ihr dürft noch ein bisschen weitermachen. Er sagt in aller Deutlichkeit: Es ist falsch und hört sofort auf! Ich habe mit ‘no go’ aber nicht ‘sofort stop’ etwas anderes gemeint: Paulus verlangt keinen sofortigen Ausschluss aus der Gemeinde, wie er es im Fall des Inzest tut. Du stellst das selber auch fest: «Er sanktioniert die Bordellbesucher nicht in gleichem Mass, wie den Mann der in Unzucht mit seiner Stiefmutter lebt.» Es ist diese Nuanciertheit, die ich echt bemerkenswert finde. Denn für mich wären Männer in meiner Gemeinde, die zu Prostituierten gehen, ein absolutes ‘no go’ und auch ein ‘sofort stop’ im Sinne von sofortigem Ausschluss, wenn das Verhalten nicht sofort stoppt. Nicht bei Paulus. Paulus sieht (so scheint es mir) dass es kulturell akzeptiert war und agiert deshalb anders als im Inzest-Fall. Meine These für heute: Wir müssen als Gemeinden diese wichtigen Nuancierung zu leben lernen bezüglich Praktiken, die biblisch gesehen eindeutig sind (sie sind ‘no go’ und sollten auch eindeutig sofort aufhören) aber kulturell akzeptiert.
Es stimmt auch, was du sagst: Paulus korrigiert hier die Gemeinde in Korinth, die nicht willens ist, zu klären und zu handeln. Umso mehr sehen wir in den Worten von Paulus, wie er die Gemeinde als Raum der Gnade gestalten in diesen unterschiedlich gelagerten Fällen. Wichtig: Nicht die Gemeinde in Korinth ist hier unser Vorbild, sondern wie Paulus sie gestalten will.
Zu deinem Punkt 2 («es kann sein, dass Paulus die Umstände dass Männer ins Bordell gehen, nur „allgemein bekannt“ sind, im Gegensatz zum Inzestfall»): das habe ich bisher nicht überlegt und muss das etwas bedenken. Könnte tatsächlich sein. Aber ich bin mit deiner daraus Schlussfolgerung nicht einverstanden. Mir scheint du sagst: WENN die Personen Paulus konkret bekannt wären, würde ich mit ihnen genauso vorgehen, wie im Inzest-Fall. Das sehe ich ganz klar anders. Und zwar nicht, weil ich Sünde gutheissen will. Nicht weil ich sagen will: Es darf ruhig weitergehen. Sondern weil das nachhaltig veränderte Verhalten erst entsteht, wenn der Sünde eine neue Logik annimmt, die er in der Kraft des Geistes dann auch leben kann. Dafür braucht es neues Denken. Darum: Ich toleriere Konkubinatspaare in der Gemeinde, auch wenn es geklärt ist, dass es nicht passt zum Leben mit Jesus. Es ist Sünde. Es ist unter der Würde eines Nachfolgers von Jesus Christus. Aber sie dürfen da sein und wir platzieren immer wieder Lehr-Elemente, die das gut kommunizieren. Ich sitze mit ihnen zusammen, um darüber zu reden.
Wie siehst du das?
Lieber Paul
Ich sehe einfach im Text keine Legitimation zur Annahme, dass Paulus konkret von einzelnen Männern wusste, die Prostituierte aufsuchten. Es bleibt nach meiner Betrachtung unklar und darf deshalb nicht impliziert werden — wie übringes auch das Gegenteil nicht vorausgesetzt werden kann.
Du schreibst “Mir scheint du sagst: WENN die Personen Paulus konkret bekannt wären, würde ich mit ihnen genauso vorgehen, wie im Inzest-Fall.” Vielleicht kann man meine Aussage tatsächlich so weiterdenken, was aber nicht meiner Absicht entspricht. Was ich sagen will ist: Sobald die Dinge konkret offenbar sind, kommt es immer auch zu einer konkreten Verantwortung und das ist eine neue Dimension. Das beschreibst du ja sehr gut mit “ich sitze mit ihnen zusammen um darüber zu reden”. Das ist nicht möglich solange die konkrete Situation nicht offenbar ist. In diesem Sinne glaube ich auch, dass Paulus mehr getan hätte als nur “von der Kanzel zu lehren”, wenn er denn in Korinth vor Ort gewesen wäre und um die konkreten Situationen gewusst hätte. An anderen Stellen des NT schreibt er, dass er Menschen “unter Tränen ermahnt hat”.
Sind die Dinge offenbar, handelt es sich immer um einen Fall. Und ein Fall muss immer in seinem gesamten Kontext beurteilt werden. Hier sehe ich durchaus sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Reaktion. Das hängt von vielen Faktoren ab. Wer sind die betroffenen Personen? Wo stehen sie auf ihrem Glaubensweg? Welche geistliche Einsicht darf ich von ihnen erwarten? Wie haben sie sich in der Vergangenheit zu diesem Thema geäussert? Wie äussern sie sich heute? Wie missionarisch sind sie mit ihrer der göttlichen Wahrheit entgegengesetzten Meinung? In welcher Verantwortung stehen sie innerhalb der Gemeinde? Welche Kommunikationsebenen bestehen bereits? Wo kann ein vertrauensvollen Dialog beginnen, u.v.m.
Zur Praxis in der Gemeinde: Wie schon gesagt sind unsere Gottesdienste öffentlich, da wird grundsätzlich niemand ausgeschlossen. Das heisst nicht, dass wir nicht auf konkrete Situationen eingehen. Dabei gilt: Ich behandle einen Pastorenkollegen im Konkubinat (der mir kundtut, dass er all die prüde evangelikale Sexualmoral hinter sich gelassen hat und zu wahrer Freiheit durchgebrochen ist) anders als einen Neubekehrten, der unverheiratet zusammenlebt. Auch die tatsächlich erlebte Situation, wo ein getrennt lebender Ehemann, sichtlich verliebt, mit seiner Konkubine in die Gemeinde kam und ohne mit der Wimper zu zucken vor seiner verlassenen Ehefrau und den jugendlichen Kindern zum Abendmahlstisch ging hatte andere Konsequenzen als das junge Paar, das vor der Hochzeit bereits in eine gemeinsame Wohnung gezogen war. Dazwischen gibt es viele weitere Nuancen. Ich denke da sind wir sehr nahe beieinander. Insbesondere handle ich auch anders, wenn es um Personen in der Leiterschaft geht, denn deren Leben wird als Vorbild und damit auch als implizites Leitbild wahrgenommen, ob sie das wahrhaben wollen oder nicht.
Zum Schluss: Ich glaube wir müssen uns bewusst sein, dass der Skandal des Evangeliums in “Jerusalem” und “Korinth” an einem anderen Ort liegt. In einer stark von jüdisch-christlichen Werten geprägten Gemeinschaft mit sehr hohen moralischen Standards wird der Skandal und Aufschrei tendenziell dort zu finden sein, wo ein Raum der Gnade eröffnet wird. Das war durchwegs die Erfahrung von Jesus wo auch immer er den Raum der Gnade eröffnet hat (daher so viele Reden und Gleichnisse die sich mit dem Wesen der Gnade auseinandersetzen) und da hat ja oft auch sein Raum der Gnade die Heuchelei derselben Welt offenbart. Umgekehrt wird in korinthischen Verhältnissen tendenziell der Anstoss in der Aufforderung zum Gehorsam entgegen der gesellschaftlichen Logik und vor allem entgegen des Götzen der Selbstbestimmung liegen. Das hat dann nur zu einem kleinen Teil mit Sex zu tun, sondern betrifft jeden Lebensbereich. Damit ist das Spannungsfeld in einer postchristlichen Gesellschaft missionale Gemeinde zu sein, glaube ich gut skizziert. Wir bleiben dran!
Danke vielmals Daniel. Ich stehe immer wieder von sehr ähnlichen Situationen, wie du sie beschreibst, wie sie bei dir stattfinden. Mich interessieren 2 Dinge nach dem Schreiben mit dir und dem Nachdenken darüber:
1. Dein Einwand, dass Paulus (deiner Ansicht nach) nicht von konkreten Männern in der Kirche in Korinth wusste — und darum die Art von Toleranz, die ich in den Artikeln skizziere, heikel ist. Das führt mich zum zweiten Punkt.
2. Ich suche nach einer Lösung für Situationen, in denen es über das hinaus geht, was du beschreibst (und wir beide bereits erleben). Wir gehen als Gesellschaft in hohem Tempo in Richtung nicht nur Gutheissung, sondern zur legalen Regelung von Beziehungs-Entwürfen, denen wir als Christen niemals werden gutheissen können. Der Paradefall ist die Homo-Ehe. Davor und daneben gibt es noch viele, aus biblischer Sicht ähnlich unwürdige Situationen. Werden in einigen Jahren polyamore Beziehung formal geregelt werden können? Wenn wir die Homoehe geschafft haben, warum dann nicht polyamore Settings? Angenommen die Menschen tun in einigen Jahren nichts, was in den Augen unserer Gesellschaft und unseres Gesetzgebers falsch wäre (viel sogar gefördert werden muss): Was machen wir, wenn sie in die Gemeinde kommen? Was mich zu 1. Kor 7 hinzieht ist die (so scheint es mir) Fähigkeit von Paulus in der Gemeinde Praktiken zu tolerieren (im richtigen Sinne des Wortes) ohne sie gutzuheissen, aber dennoch zu ertragen. Da würde mich interessieren: wie siehst du vor, diese Art von Situationen zu lösen?
PS: die Argumente, die Paulus ins Feld führt in 1. Kor 6 (ich nenne sie ‘halb-christlich’): sind die nicht ein Hinweis, dass es spezifische Situationen gab? Vielleicht (von mir aus) nicht spezifische Situationen in Korinth selbst. Vielleicht transferiert Paulus Beispiele aus einer anderen Gemeinde und redet hypothetisch: “sollte bei euch auch dieses Argument kommen: so sollt ihr darüber denken”. Oder war es die Ahnung von Paulus, dass heidnische Männer solches tun (zu Prostituierten zu gehen) und er ‘prophylaktisch’ lehrt? Wir müssen diesen Punkt nicht zu sehr in die Länge ziehen — trotzdem scheint mir diese Frage wichtig.
Hallo,
wie immer ein sehr interessantes Thema in eurem Blog!
Die Aussage “Paulus hat also die Sünde, Sex mit Prostituierten zu haben, in der Gemeinde in Korinth toleriert.” ist aus meiner Sicht etwas gewagt. Ich halte sie auch nicht für zielführend, zumal man heute nicht mehr versteht, was Toleranz bedeutet, wie du das ja auch betonst.
Meinem Verständnis nach stand die Gemeinde in Korinth besonders unter starkem Säkularisierungsdruck und der Tendenz, Ansprüche an Jüngerschaft und Nachfolge zu relativieren. In diese Situation hinein predigt Paulus sozusagen eine “heilige Sexualität”, weil dies wohl die größte Baustelle war und auch ein besonders starker Ausdruck der Ignoranz gegenüber dem Anspruch, ein heiliges Leben zu führen. “Flieht vor den sexuellen Sünden! Alle anderen Sünden spielen sich außerhalb vom Körper des Menschen ab. Wer aber seine Sexualität freizügig auslebt, sündigt gegen den eigenen Körper. Wisst ihr denn nicht, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott bekommen habt? Ist euch nicht klar, dass ihr euch nicht selbst gehört? Denn ihr seid für ein Lösegeld gekauft worden. Macht also Gott mit eurem Körper Ehre.” (1. Kor 6, 18–20 NeÜ).
Ob Leute aus der Gemeinde auch weiterhin zu Prostituierten gingen (es handelte sich ja dann wahrscheinlich um Sex-Sklavinnen im Aphrodite-Tempel) weiß man nicht wirklich, ist aber meiner Ansicht nach durchaus wahrscheinlich, weil die Leute in der Gemeinde zu Korinth ihren „Raum der Gnade“ wohl soweit fassten, dass sie sehr viel Sünde in der Gemeinde duldeten. Dabei überschätzten sie offenbar ihre Integrationsfähigkeit maßlos und das nicht nur bzgl. der Situation, dass jemand mit der Ehefrau seines Vaters zusammenlebte.
„Euer Selbstruhm ist wirklich unangebracht! Wisst ihr denn nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert? Reinigt euch also vom alten Sauerteig und fegt jeden Krümel davon aus, damit ihr wieder ein frischer, ungesäuerter Teig seid! …. In meinem vorigen Brief habe ich euch geschrieben, dass ihr keinen Umgang mit Menschen haben sollt, die in sexueller Unmoral leben. Damit habe ich nicht die unmoralischen Menschen dieser Welt gemeint, die Habgierigen, die Räuber oder die Götzenanbeter. Sonst müsstet ihr diese Welt ja verlassen. Nein, ich meinte in dem Brief, dass ihr keinen Umgang mit jemand haben sollt, der zur Gemeinde zählt und trotzdem in sexueller Unmoral lebt oder ein habgieriger Mensch ist oder ein Götzenanbeter, ein Verleumder, ein Trinker oder ein Räuber. Mit solch einer Person sollt ihr nicht einmal zusammen essen. Weshalb sollte ich denn über Außenstehende zu Gericht sitzen? Ihr richtet ja nicht einmal die, die zur Gemeinde gehören.“ (1. Kor 5, 6ff NeÜ).
Nach meinem Verständnis wäre dann die Situation in der Gemeinde in Korinth genau ein Beispiel, wie „Räume der Gnade“ nicht aussehen sollen.
Aber ich verstehe dein wichtiges Anliegen, und ich denke, dass die herausfordernde Aufgabenstellung ist, wieder einmal zwei scheinbare Gegensätze zusammenzuführen:
Die Aufgabe, dass Kirche einerseits eine Willkommenskultur pflegt (auch ganz im Sinne von Francis Schaeffer), die dem Sünder die Hand reicht und zur „Umkehr zum Vater“ einlädt und dabei „göttliche“ Gnade und Geduld aufbringt und die Aufgabe, eine Gemeinschaft der Heiligen zu sein, von Menschen, die sich gegenseitig stützen und motivieren in der Heiligung zu wachsen (Hebr. 12, 14; 1.Petr 1,16) und die dann auch ein Schutzraum ist gegen den Säkularisierungsdruck und der Demontage von biblischen Wahrheiten. Dabei kann auch meiner Ansicht nach helfen, dass wir uns die Prioritäten wieder neu vor Augen führen. Es geht in erster Linie darum, dass „Gottes Name geheiligt wird“, wie Jesus es uns im Gebet gelehrt hat und dass Gott geehrt und geliebt wird (Doppelgebot der Liebe). Wenn wir das nicht vergessen, werden dann die wichtigen menschenbezogenen Themen auch auf das richtige Gleis kommen.
Herzliche Grüße aus dem Bergischen Land (Wuppertal)
Danke Udo dass du dir Zeit genommen hast, das zu schreiben! Hand auf’s Herz: Wenn dein Befund stimmt, fällt so ziemlich das Meiste von dem, was ich geschrieben habe, in sich zusammen. Dein Hauptverdikt: Die Gemeinde in Korinth ist nicht ein Beispiel dafür, wie der Raum der Gnade aussehen soll, sondern eben grad einer, wie er nicht aussehen soll 🙂 Hmm. Ich möchte gerne sagen: ich halte mich an Paulus, der den vielleicht tatsächlich zu offenen Raum der Kirche wieder richtig ordnen muss. Ich versuche diese Ordnungs-Anweisungen von Paulus nachzuspüren:
— Seine klare Lehre (auf die mich viele Leser hinweisen und der ich ja nicht widersprechen)
— Seine unterschiedliche Handhabung vom Inzest-Fall und den Männern, die zu Prostituierten gehen
Wie würdest du denn der Fall ‘Polygamie’ lösen (dieser Punkt kommt am Freitag im dritten Artikel)?
Stay in touch 👍
Nein, ich würde nicht sagen, dass das meiste von deinen Gedanken zusammenfällt. Ich würde sie nur anders biblisch begründen. Allein wie Jesus Christus mit Sündern umgegangen ist, ist doch beispielsweise ein wunderbares Vorbild, wie der Raum der Gnade aussehen kann.
Ich denke Paulus kritisiert, dass die Gemeinde in Korinth keine “Erziehungsmaßnahmen” durchführen. Es geht dabei ja immer darum, den Sünder wiederzugewinnen. Deshalb gehören auch solche Maßnahmen für mich zum Raum der Gnade. Mit biblischer Wahrheit und Liebe (wieder ganz im Sinne von Francis Schaeffer) Grenzen setzen und Wege aufzeigen. Es nicht zu tun, ist gerade lieblos und gleichgültig.
Polygamie ist nach meinem Verständnis anscheinend eine von Gott geduldete und geregelte Notordnung für die gefallene Schöpfung. Jesus stellt dann den “Schöpfungsstandard” wieder her (Matthäus 19, 4+5; 1. Kor 7,2). Wie geht man dann mit einem Moslem um, der nach Deutschland kommt, Christ wird und zwei Frauen hat? Eine spannende Frage. Auf jeden Fall seelsorgerlich (um die Seele aller Beteiligten besorgt). Bin auf deinen dritten Teil gespannt :-).
Danke Udo! Ich fände es spannend genauer über Korinth mit dir zu reden. Aber vorher: Ja, Jesu Vorgabe ist ein wunderbares Beispiel für die Art, wie wir Raum der Gnade gestalten sollen. Das habe ich auch schon gedacht. Der Grund, warum es mich nach Korinth zieht ist, weil dort sehr viel konkreter Praktiken genannt werden und auch konkretere Vorgehensweisen sichtbar werden. Ich denke ich sage in meinen Artikeln alles, was du hier sagst. Es ist lieblos (und gnadenlos) sich wie die Gemeinde in Korinth zu verhalten und nichts zu machen — also keine Massnahmen zu ergreifen. Meine Aussage: Nun können wir Paulus zuschauen, wie er diese Korrekturen vornimmt. Damit werden die Korrekturen, die Paulus vornimmt, für uns zu einem möglichen Modell, wie wir Gemeinde als Raum der Gnade gestalten können. Ich versuche in meinen Artikeln, die Art von Paulus herauszuschälen.
Polygamie: gut wahrgenommen und super Fragestellung für Deutschland! 🙂 Ich freue mich auf das weitere Gespräch.
Lieber Paul,
Danke für deine wichtige Arbeit und Differenziertheit. ich freue mich immer wie Du blinde Flecken angehst und gegen Aufweichungen des Evangeliums auftrittst ohne in dem von den theol. Gegenüber erwarteten platten ‘Fundamentalismus’ abzustürzen. Wir haben grundsätzlich die gleiche Auffassung was die örtl. Gemeinden als Raum der Gnade betrifft. Auch ich habe kürzlich über LGBT gepredigt und das besonders betont (unter Aufrechtehaltung eines ’no-go’) — Danke für deinen ausführlichen Rat diesbzgl.
Womit ich aber Schwieirigkeit habe, ist dass Du sagst, dass die Männer in 1Kor 6 in Kor ‘aufgenommen’ wurden und ihre Sünde de facto toleriert wurde. Ich finde sie wird unisono kritisiert: In allen Fällen nicht einfach mit einem bloßen “das geht nicht”, sondern jeweils mit einem Verweis auf die Grundlagen des Evangeliums. In Kap. 1–4 behandelt Paulus das größte Problem in Kor: Streit. In Kap. 5–7 als 2. Problem eine fehlgeleitete Sexualethik (mit verwandten Themen). In Kap. 8–10 die Frage der Freiheit bzgl. Götzenopfer (mit verwandten Themen). In Kap. 11–14 Gemeindefragen in Kap. 15 die Auferstehung. Immer geht es um Abweichungen von der apostolischen Lehre & Praxis.
Während er in 8–10 sehr deutlich zweigleisig fährt: a) locker in Kap. 8: “Was nun das Essen von Götzenopferfleisch betrifft, so wissen wir, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und dass kein Gott ist als nur einer. “, b) streng in Kap. 10: “Ihr könnt nicht des Herrn Kelch trinken und der Dämonen Kelch; ihr könnt nicht am Tisch des Herrn teilnehmen und am Tisch der Dämonen.” …
… ist er in Kap. 5–7 durchwegs im Konflikt mit der Praxis von Korinth: in Kap. 5: Unzucht im Sinne von Inzest geht gar nicht, in Kap. 6a: Rechtsstreit geht gar nicht, in Kap. 6b:
Nach dem Inzest (5), wie auch nach dem Rechtsstreit (6) folgen allg. Ausführungen zur Sexualethik (‘Unzucht’):
— Kap. 5: “Ich habe euch in dem Brief geschrieben, nicht mit Unzüchtigen Umgang zu haben; 10 nicht überhaupt mit den Unzüchtigen dieser Welt oder den Habsüchtigen und Räubern oder Götzendienern, sonst müsstet ihr ja aus der Welt hinausgehen. 11 Nun aber habe ich euch geschrieben, keinen Umgang zu haben, wenn jemand, der Bruder genannt wird, ein Unzüchtiger ist oder ein Habsüchtiger oder ein Götzendiener oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber; mit einem solchen nicht einmal zu essen.”
— Kap. 6: “Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Weichlinge noch mit Männern Schlafende 10 noch Diebe noch Habsüchtige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben. 11 Und das sind manche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.”
Die letzte Liste ist quasi die Einleitung zu “deinem Text”; denn anschließend wird ohne Unterbrechung weiter vor Unzucht gewarnt: in Kap. 5 Einzelfall bei einer Unzucht, die gegen die Kultur war, in Kap. 6 bei einer Unzucht, die im mainstream der Kultur lag. ich lese 1Kor 6,12 ff immer von der Aussage in 1Kor 6,11, die ausdrücklich klarstellt, dass dieses falsche Sexualverhalten die Kor in der Vergangenheit kennzeichnte: “aber das sind manche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden”. Es sind also keine Mitglieder in der Gemeinde, die aktiv in Bordellbesuchen sind, sondern die es früher praktisiert hatten.
Zudem: “Unzucht” (porneia) haben konservative Christen immer eindeutig, als jede Sexualpraxis im engeren Sinn bezeichnet, die außerhalb der Ehe stattfindet. Die ‘konservativen’ Singles der le. 2. Jahrtausenden haben es so praktiziert (= enthaltsam gelebt).
Ich finde, dass natürlich jeder in unsere Gottesdienste kommen können muss … — so auch meine Botschaft in unserer Gemeinde. Aber es gibt andererseits auch einen Schutzraum für unsere Kinder, Familien, Singels, etc. Eine aktivistische queere Kultur mit einem Auftritt ala CSD, kann man z.B. kaum ohne ungewollte Ablenkung im Gottesdienst integrieren, ohne dass andere ebenso wertvolle Güter verloren gehen. Hier muss man im Einzelfall ebenso freundlich wie klar sein.
Oder differenzierst du lediglich zwischen Gottesdienstbesuchern und Mitgliedern (was eh klar ist)? Auch weil Du die (späte) Taufe betonst? Ab dann muss die Sache wohl klar sein …? 😉 Ich denke, wir haben immer den Bedarf Menschen an das Evangelium heranzuführen, die noch die alten Grabkleider anhaben: “Bindet ihn los und lasst ihn gehen” (Lazarus, Joh 11). Sie sollen sich schon wohlfühlen dürfen, ohne Christus zu kennen, und auch nach dem sie Ihn kennen gelernt haben ist noch ein weiter Weg, der sowohl von Annahme als auch von Klarheit gekennzeichnet sein muss. Die Klarheit besteht darin, dass allen Menschen der Anspruch Jesu gezeigt wird, der braven Christen und interssierten Neuheiden etwas abverlangt; die annahme besteht darin, dass wir klarstellen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen: hin zu dem vom Herrn aufgezeigten Lebensstil. Dass das auch in ‘konservativen’ Gemeinden geht, müssen wir ggf. den ‘progressiven’ Kritikern noch beweisen.
Herzliche Grüße aus dem Landkreis München
Uwe
Danke Uwe, du sprichst wichtige Punkte an. Melde mich bald mit meinen Gedanken dazu 👍
Danke nochmals Uwe für deine Ausführungen, mit denen ich in grossen Teilen einig bin. Ich würde es so sagen: Trotz der Tatsache, dass alles stimmt, was du in den flankierenden Texten (vor und nach 1. Kor 6,12–20), haben wir es hier mit Männer zu tun, die immer noch zu Prostituierten gehen. Ich habe diesen Punkt mit diversen Fachleuten überprüft und natürlich gehen die Meinungen auseinander. Mir scheint jedoch der Punkt, den Paulus macht, zu sein: Eben grad weil die Männer es nicht tun sollten (1. Kor 6,9–10) und auch noch nicht aufgehört haben wie sie es eigentlich sollten (1. Kor 6,11), muss er nochmals ansetzen mit vertiefter Lehre (1. Kor 6,12–20). Ich würde aber nicht das Wort ‘aufgenommen’ brauchen, um zu beschreiben, was hier läuft. Sie sind willkommen. Sie sind da. Meinetwegen im Gottesdienst. Sie sind realer Teil der Gemeinschaft. Ob sie getauft sind (Mitglied oder was auch immer es da für Mechanismen gibt) ist unklar und darf es auch sein. Ich spreche diesen Punkt an in der These 8 (wo es wie du bemerkt hast, um die Taufe geht) und in der These 9 (wo es um die Vorbild-Rolle in der Gemeinde geht). Ich sehe hier einen wichtigen Spielraum, klar sagen zu können, dass bestimmte Dinge nicht zum Leben in der Würde des Christen gehören, und gleichzeitig Zeit zu lassen, bis das den Menschen klar wird. Ich denke meine Frage an dich wäre diese: Wie würdest du den Polygamie-Fall lösen? Würdest du Polygame Familien willkommen heissen? Würdest du sie taufen? Aufnehmen als Mitglied? In leitende Position bringen? Wenn ja: warum nicht auch in anderen Fällen?
Hi Paul,
ich antworte auf deinen Einwurf bzgl. der Polygamie als Vergleich zum Umgang mit den Männern in Kor, die angeblich auch nach der Bekehrung noch Prostitution in Anspruch nahmen … (- ich sehe das noch nicht so).
Das Polygamie-Thema scheint im AT — anders als die Frage der Prostitution — als Notverordnung geduldet gewesen zu sein, die durch Jesus (& die Apostel) auf den Schöpfungsstandard korrigiert wird. Trotzdem gibt es (noch) solche Mehrehen, als das Christentum entsteht (oder?). Die “Lösung” in der Missionsgeschichte der Neuzeit war mach m.E. unterschiedlich: ein Wegschicken von tatsächlich verheirateten Nebenfrauen kann aber aus heutiger Sicht kaum als “Lösung” verstanden werden, wenn dies ggf. Prostitution zur Folge hat.
Ich denke, dass Evangelium wird — wenn es in das Leben eines Menschen kommt — nicht mehr Chaos stiften, als vorher ohne Christus da war. In einem Land, wo man “rechtmäßig” mehrere Frauen haben darf und die Mehrheitskultur dies nicht nur toleriert sondern als normal empfindet, wäre eine Trennung evtl. unangemessen. Trotzem denke ich, dass so ein (Ehe-) Mann nicht Ältester werden könnte (hier macht das Zahlwort bei “Mann einer Frau” in 1Tim 3 / Tit 1 konkret Sinn).
Die Gemeinde muss aber über diese Frage in dem jeweils konkreten Kontext belehrt werden; dass diese ggf. geduldete Praxis bei z.B. ehemaligen Muslimen eine Notverordnung und damit ein Auslaufmodell ist. Bekehrte Christen aus dieser Kultur müssen wissen, dass es der Standard Gottes ein anderer ist: nämlich max. eine Frau zu heiraten. In Summe: sie können nach einer Bekehrung nicht (mehr) weitere Frauen dazu nehmen …
Anders sehe ich es bei einem losen Konkubinat (ggf. auch neben einer Ehe): dies muss in jedweder Kultur “aufgelöst” werden. In unserer Kultur wäre es auch nicht möglich eine 2. Beziehung durch Heirat zu korrigieren (da man rechtlich nur eine Person ehelichen kann) — wozu man ggf. tendieren könnte, wenn Mehrehen kulturell etabliert sind und Verantwortlichkeiten, inkl. Kinder vorhanden sind. In Summe: ich fürchte man kann kaum raten, dass so zu “heilen”.
An anderer Stelle haben wir diskutiert, dass eine homosexuelle Partnerschaft oder sogar eine ebensolche “Ehe” mit der Hinwendung zu Jesus eine sichtbare / schmerzhafte Korrektur als Konsequenz der Nachfolge erfahren wird. Wenn man das homosexuell lebenden Menschen zumutet, dann ist auch bei heterosexuellen, unehelichen Lebensgemeinschaften (eine Frau) und bei ggf. polyamoren Paaren eine solche Klärung die Folge des neuen Lebens. In Summe: wo es (rechtlich) geht ggf. heiraten, oder Trennung (aber wirtschaftliche Verpflichtung).
Ich glaube, dass diese Fragen stark von der jeweiligen Leitkultur geprägt werden und damit nicht absolut sind. Trotzdem muss Gemeinde in jedweder Kultur — neben dem Wert des Ledigseins — klarstellen, dass Ehe nach Gottes Willen / Wort als exklusive Beziehung zwischen einem Mann und eiuner Frau definiert ist. Wie lange da Übergangszeiten sind, wo sündige Strukturen verändert werden, ist weniger ein dogmatsiches denn ein seelsorgerliches Thema. Es jedoch gar nicht anzupacken, nicht mal in der Lehre, wird auf Dauer nicht helfen.
Wir diskutieren das hier ja v.a. als Abstraktum, um den Widerspruch gegen deine These, dass Paulus in Kor Männer duldete die noch zur Prostituierten gingen, zu “problematisieren”. Ich fürchte nur, dass unsere Kultur uns in Bälde ganz praktisch mit solchen Fraghen konfrontiert: dann braucht es neben Klarheit auch Weisheit und das bei die “Gnade und die Wahrheit” (wie sie in Jesus ist) rüber kommt.
Spannend — danke! Du nimmst aus meiner Sicht vieles richtig war. Es sind super spannende Fragen die — das sagst du richtig — bald nicht mehr nur abstrakt gestellt werden, sondern äusserst konkret. Ich schlage vor, dass wir unsere Diskussion nach der Veröffentlichung von Artikel 3 am Freitag weiterführen. Bin gespannt, was du denkst.
PS: Ich denke du hast schon ein Stück recht: Die Polygame Familie aufnehmen (obschon sie nicht so leben, wie Jesus das denkt) ist eine andere Kategorie von ‘aufnehmen’ als die Männer in Korinth, die zu Prostituierten gehen. Ich äussere einige Gedanken und Fragen dazu in Artikel 3.
Grüess di Paul
Danke vielmals für diese hilfreiche Serie, ich freue mich schon auf den dritten Teil.
Ich stosse mich aber etwas daran, dass es praktisch nur um Sexualthemen geht. Wie ist das mit Sprache (Fluchen, Schimpfen, Hintenherumreden, Mobbing, etc.), Umgang mit Besitz (Egoismus, Neid, Gier, Verschuldung etc.), Süchten (nur in der Schlussaufzählung – Alkohol, Digitalsucht, Socialmedia, Pornografie etc.), Aussehen/Kleidung (wenn es nicht christlich brav ist, Tattoos, verwahrlost, ungepflegt, stinkend — wir hatten mal einen Messi integriert, das war harte Arbeit — etc.). Nicht bei allem geht es primär um die Theologie, (bspw. Ungepflegtsein), aber gerade deine Darlegung zum Wert des Körpers hilft auch da. Ich fände es schön, wenn es da etwas vielfältiger würde. Besonders, weil ich schon in diesen Themen furchtbare Tragödien miterlebte, wie christliche Sünder andere Sünder deswegen aus der Kirche drückten.
Lasst uns in jeder Hinsicht Kirche zum Ort der Gnade und Heilung werden lassen.
E gsägneti Zyt
david
Danke David — ich gebe dir recht! Ich habe am Anfang des Artikels diesen von dir genannten Punkt angedeutet, aber nicht ausgeführt. Es gibt hier ein Ungleichgewicht. Ich fände es spannend, die Bibel, die Thesen und den 3AB Weg in Bezug auf die von dir angesprochenen Situationen zu bereden!
Grüess di Paul
Da bin ich gerne dabei — vielleicht schaffen wir es mal gemeinsam bei einem feinen Kaffee (gibts ja bei euch :-)) oder einem Bierchen oder Wein zusammenzusitzen.
Bhüet di Gott
david
Herzlichen Dank für die wertvollen Anregungen!
Zur These 6 — Paulus in Gal 2 und in Apg 16: Nach meiner Überzeugung unterscheiden sich beide Stellen bezüglich der Motivation der Beteiligten.
In Gal 2 trennt sich Petrus von den Heidenchristen aus Menschenfurcht (er fürchtet sich vor denen, die aus Jerusalem gekommen sind und eine strenge Sicht vertreten, V.4 und V.12).
In Apg 16 geht es Paulus bei der Beschneidung von Timotheus darum, dass dem Evangelium keine unnötigen Steine in den Weg gelegt werden (den Juden ein Jude). Deshalb “geht” die Anpassung dort, in Antiochien aber nicht.
Interessant! Lässt sich dieses Beispiel aus deiner Sicht also nicht auf die Fragestellung von These 6 anwenden? Gibt es ein anderes biblisches Beispiel, welches den Punkt von These 6 bringt?
Ich würde im Moment mal so sagen: Ohne klare Lehre kann das Reden von Gnade gegenstandslos werden. Wenn ich z.B. Sünde umdefiniere, brauche ich möglicherweise gar keine Gnade mehr, denn es ist ja ok, was ich tue. Wir ertragen das Reden von unserer Sünde immer weniger gut, aber damit erleben wir auch Gnade immer weniger stark. — Eine konkrete Bibelstelle habe ich grade dazu leider nicht.
Danke — das macht Sinn 👍
Ich stimme dem Hinweis zu, dass Petrus aus Angst gehandelt hat und Paulus mit absicht.
Aber neben dem Vergleich zwischen Paulus & Petrus (der eine darf sich jüdisch geben, der andere nicht …), kann man den Unterschied der Kategorien auch sehr gut an Paulus eigenem, differenzierten Vorgehen zur Beschneidung beschreiben:
- Timotheus lässt er beschneiden
— bei Titus weigert er sich hartnäckig
Bei Tim geht es um eine missionarische Strategie (Methodik): wie kann ich die Juden gewinnen? Bei Titus geht es um das Evangelium (Theologie): wie kann die Freiheit in Christus gewhrt werden?
“Aber nicht einmal Titus, der bei mir war, wurde, obwohl er ein Grieche ist, gezwungen, sich beschneiden zu lassen; 4 und zwar wegen der heimlich eingedrungenen falschen Brüder, die sich eingeschlichen hatten, um unsere Freiheit, die wir in Christus Jesus haben, zu belauern, damit sie uns in Knechtschaft brachten. 5 Denen haben wir auch nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben, damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch verblieb.” (Gal 2,3–5).
Das kann im Ergebnis zu völlig unterschiedlichen Handlungen führen.
Wir haben in unseren Hauskreisen vor kurzem die Apg abgeschlossen: auffallend war, das Paulus ab der 3. Missionsreise zunehmend jüdische Aspekte in seiner Methodik berücksichtigt, die er ggf. anfangs nicht getan hätte. Bis dahin, dass er in Jerusalem verhaftet wird, weil er den juden entgegen kommt und im Tempel Opfer bringt und gelübde ableistet. Auch hier sehe ich, dass er das nicht nur pargmatisch tut, sondern mit voller Absicht (gegen den rat seiner Mitchristen).
Danke — spannend! Ich denke es stimmt, dass die Frage der Absicht mit hineinspielt. Mir scheint, dass sie allein aber nicht genügt, um diese Situationen gut zu verstehen. Die Christen können ja meine Absichten nicht wissen, wenn ich sie nicht kommunizieren. Und das wäre dann mein eigentlicher Punkt: Es braucht eine kommunizierte Lehre, eine Erklärung, weshalb wir machmal etwas tun (oder lassen) und warum wir es nicht tun (oder lassen). Wo dies nicht geklärt wird, kann theologische Unsicher entstehen, was — wenn nach etlicher Zeit immer noch nicht geklärt — zu ethischer Beliebigkeit führen kann. Mein Anliegen ist der irregeleiteten Idee zu widerstehen: Besser wir sagen nichts über die Anforderungen des Glaubens damit niemand brüskiert wird. Meine These ist: Im Gegenteil — gerade weil wir etwas sagen (lehren) entsteht der Freiraum für Zwischenlösungen, die schnell als theologischer Kompromiss gedeutet werden können, wenn keine Lehre da ist. Wie siehst du das? Kommt dir ein anderes Beispiel in den Sinn aus der Bibel, wo so etwas hervorkommt?
Ich habe in meiner Beschäftigung mit Paulus / der Apg den Eindruck gewonnen, dass Paulus von 2 Themen geleitet wurde, die er bei seiner Bekehrung erhielt (er wurde bekehrt …):
a) die Einheit des neuen Gottesvolkes: “Saul, Saul was verfolgts Du mich”?
b) das Evangelium für die Heiden: “dieser ist mir ein auserwähltes Werkzeug, meinen Namen zu tragen sowohl vor Nationen als ⟨auch vor⟩ Könige und Söhne Israel”
Diese beiden Linien sind im Konflikt: — wenn er die Einheit im Volk Gottes sucht (zwischen Juden & Heiden) steht er in Gefahr Kompromisse zu machen, die das Evangelium kompromittieren; wenn er die Heiden mit dem Evangelium in die christliche Freiheit stellt, bekommt er Streß mit den Judenchristen.
Ab Apg 15 scheint mir das ein Motiv zu sein, dass immer wieder da ist. Paulus lehrt die Einheit und die Freiheit des Evangeliums. Daraus haben andere einseitige Schlüsse gezogen.
Ein Stück weit ist das doch auch eine Erfahrung von (konservativen) Leitern heute, oder nicht? Vgl. das hier diskutierte Beispiel der Willkommenskultur einer Gemeinde vs. der Föredrung der Heiligung in einer Gemeinde.
Wie sagte Francis Schaeffer: “Der Christ hat eine doppelte Aufgabe. Sein Verhalten muss Gottes Heiligkeit und Gottes Liebe widerspiegeln. Im Christen soll sichtbar werden, dass Gott als persönlich-unendlicher Gott existiert, und zugleich soll er Gottes Wesen, seine Heiligkeit und Lie-be bekunden. Nicht Heiligkeit ohne Liebe: das wäre bloße Härte. Nicht Liebe ohne Heiligkeit: das wäre nichts als Kompromiss. Wann immer sich einzelne Christen oder christliche Kreise so verhalten, dass sich darin nicht das Gleichgewicht von Gottes Heiligkeit und Liebe ausdrückt, bieten sie einer zuschauenden Welt nicht ein Abbild, sondern eine Karikatur des Gottes, der existiert.”