Mit seinem aktuellen Buch «Wenn der Glaube nicht mehr passt» hat Martin Benz eine verständliche und attraktiv geschriebene Darlegung seines Glaubensweges geschrieben. Viele Leser werden das Buch als wegweisend für ihre eigene geistliche Entwicklung sehen. Bei mir hat die Lektüre viele Fragen aufgeworfen und mich zu einer vertieften und auch kritischen Auseinandersetzung motiviert.
Martin Benz möchte mit seinem Glauben leidenschaftlich alt werden. Doch was tun, wenn Glaubens- und Lebensrealität immer weiter auseinanderklaffen? Dann muss sich gemäss Martin Benz der Glaube weiterentwickeln – muss ‘progressiv’ werden. Dann braucht es einen Umzug des Glaubens in eine neue Wohnung, welche besser zu den aktuellen Bedürfnissen passt. Bei diesem Umzug gilt es mitzunehmen, was sich bewährt hat und zu entsorgen, was sich als unnötig, untauglich, abgenutzt oder belastend erwiesen hat. Dann gilt es auch, Neuanschaffungen zu tätigen, welche neue Möglichkeiten und Freiheiten mit sich bringen.
Martin Benz hat selbst einen solchen Prozess hinter sich. In einem katholischen Umfeld aufgewachsen erlebt er in jungen Jahren eine Bekehrung und findet ein Zuhause in der charismatischen Bewegung. Prägend wird für ihn die «Wort-des-Glaubens-Bewegung», welche den Segen Gottes stark mit materiellem Wohlstand und persönlichem Erfolg verbindet. Doch die schöne Fassade der «Wort-des-Glaubens-Bewegung» bekommt Risse, als erhoffte Wunder nicht eintreten und prominente Exponenten dieser Bewegung sich als Scharlatane entpuppen. Das Glaubenssystem greift endgültig nicht mehr, als seine Frau ihn 2006 verlässt, um mit einem anderen Mann zusammenzuziehen. In den darauffolgenden Jahren richtet Martin Benz seinen Glauben neu aus. Heute stellt er fest (S.45):
«Ich persönlich habe meine Koffer gepackt aus den konservativ-evangelikalen oder fundamentalistischen Denkmustern, in denen ich viele Jahre zu Hause war. Es wurde mir zu eng in der Altstadt.»
Wenn ich über das Buch von Martin Benz schreibe, gehe ich von einem anderen Ansatz des Glaubens aus, als er es tut. Wie ich im Titel meines Artikels klar mache: Der Glaube hat mir noch nie gepasst und wird es wohl auch nie tun.
Ich glaube an einen unverfügbaren (heiligen) Schöpfer, dessen Denken und Handeln ich bisher nur teilweise begreife, und an einen ungezähmten Jesus Christus, dessen Worte und Taten mich immer wieder irritieren. So auch die Aussage, dass er mich nach wie vor liebt und an meiner Berufung festhält.
Ich vertraue den uralten, heiligen Schriften der Bibel, aus der sich verlässliche Lehraussagen (Dogmen) über Gott und die Welt und mich selbst formulieren lassen, die mich dann zu einer entsprechenden Lebensweise (Ethik) herausfordern – ja überfordern. Aber dieselben Schriften verheissen uns auch die Kraft des Heiligen Geistes!
Der historische Glaube, wie er beispielsweise auch im altkirchlichen Apostolischen Glaubensbekenntnis formuliert wird, hat mir noch nie «gepasst» und er wird mir auch nie zu eng werden können. Denn er ist viel grösser, als ich und meine Lebensrealität es je sein werden. Solcher Glaube ist auch grösser, schöner und stabiler als alle gesellschaftlichen Trends der letzten zweitausend Jahre.
Wenn Martin Benz also ein Buch vorlegt mit dem Titel «Wenn der Glaube nicht mehr passt», dann vermute ich schon da ein grundlegendes Missverständnis, dem auch andere Gläubige erliegen: Der Glaube ist nicht dazu gedacht, dass er uns passt, sondern dass wir lebenslang mehr und mehr in ihn hineinwachsen. Nicht der Glaube muss sich weiterentwickeln, sondern wir müssen es. Wer einen Glauben sucht, der ihm passt, hat nicht begriffen, dass der biblisch-traditionelle christliche Glaube keine «Wohnung» ist, sondern ein Universum.
Ich werde in meinen Erörterungen um der Verständlichkeit willen primär mit dem Bild agieren, das Martin gewählt hat: Das Bild der Wohnung und des Umzugs. Dabei will ich schon zu Beginn meine Schlussfolgerung nennen, damit dies beim Lesen meines Textes mitbedacht werden kann: Ich werde den Umzug nicht mitmachen, den mir Martin nahelegt. Die Wohnung, die er mir schmackhaft macht, ist aus meiner Sicht weder so neu, wie sie den Anschein macht, noch hat sie die nötige Bausubstanz, die ich für meine Wohnung wünsche. Sie ist mir viel zu klein.
Lieber Leser: Vielleicht bist du an einem anderen Punkt als ich. Vielleicht überlegst du es dir, mit Martin einen (wie auch immer gearteten) Umzug des Glaubens in ein anderes Haus mitzumachen. In diesem Fall habe ich einen Wunsch. Ich hoffe, dass du trotz der Tatsache, dass ich den Umzug nicht mitmache, meine Gedanken, Argumente und Rückfragen an Martin ernsthaft in Betracht ziehst. Wer weiss, vielleicht entdeckst du in den Antworten, die du findest, Hinweise auf das Universum, das Gott vor unseren Augen aufspannt.
Meine Rezension hat zwei Teile. In einem ersten Teil fasse ich die Inhalte und Gedankengänge des Buches zusammen. In einem zweiten Teil erfolgt meine ausführliche Reflexion. Zur Orientierung in diesem sehr umfangreichen Artikel (Lesezeit ca. 60min) dient ein Inhaltsverzeichnis. Da ich Martin Benz auch schon persönlich begegnen durfte, erlaube ich mir zwischendurch die Verwendung des Vornamens.
Inhaltsverzeichnis
Teil 1: Buchinhalt
Ein neues Bibelverständnis
Neue Ethik und Moral
Geist-geleitete Neuordnungen
Teil 2: Buchreflexion
1. Wohin will Martin Benz uns führen?
2. Der Strohmann
3. Die Bibel als Steinbruch
4. Wenn das Narrativ regiert
5. Falsche Dilemmas
6. Chronologische Fehlschlüsse
7. Poetische oder faktische Wahrheit?
8. Der postmodern gezähmte Jesus
9. Von der Notordnung zur Neuordnung
10. Wenn der Geist neue Offenbarung schenkt
11. Dogmatik oder Ethik?
12. Wort-des-Glaubens-Bewegung
Fazit
Ressourcen
Teil 1: Buchinhalt
Nach dem biografischen Einstieg in das Buch, welchen ich in der Einleitung kurz beschrieben habe, dokumentiert Martin, wo und wie sich aus seiner Sicht Glaubensüberzeugungen weiterentwickeln sollten. Es geht dabei um Bibelverständnis, Ethik und deren konkrete Anwendung beim Thema Homosexualität.
Ein neues Bibelverständnis
Grundlegend im Prozess der Glaubensveränderung ist für Martin Benz ein neues Bibelverständnis. Martin geht hart ins Gericht mit Christen, welche sich als ‘bibeltreu’ bezeichnen und damit meinen, sich «schlicht und einfach an die Bibel zu halten und sie wörtlich zu nehmen» (S.54). Für Martin ist klar: Man nimmt die Bibel eben gerade nicht ernst, wenn man versucht, alles in ihr wörtlich zu nehmen. Vielmehr sei die Bibel in die Verantwortung des Menschen gegeben, welcher diese mit Gottes Hilfe und dem eigenen Gewissen interpretieren soll.
Martin Benz möchte, wie er selbst sagt, nicht die Inspiration der Bibel in Zweifel ziehen. Doch wer davon ausgehe, dass die Bibel faktische Wahrheit enthalte, müsse sie dauernd gegenüber kritischen Anfragen aus Naturwissenschaft und historischer Wissenschaft verteidigen. Dabei sei es ein Phänomen der Neuzeit, naturwissenschaftlich an einen Text heranzugehen. Die Bibel jedoch sei voller Geschichten, deren Anspruch es gar nicht sei, historisch bewiesen werden zu müssen. Die Bibel sei weniger ein Text der Fakten und historischen Tatsachen als vielmehr ein Buch von «poetischer Wahrheit» (S.70). Wer die Bibel so verstehe, der könne darin «tiefe Weisheiten und Prinzipien in einer Form zum Ausdruck bringen, wie das faktische Wahrheit nie könnte» (S.70).
Martin Benz geht von einer fortschreitenden Offenbarung Gottes in der Bibel aus. Auch moralische Einsichten würden sich verändern und das Gottesbild sei in Bewegung. In gewissen alttestamentlichen Texten macht Benz einen «anderen Geist» (S.85) aus, der im Kontrast stehe zu neutestamentlichen Texten und dem Gott der sich uns in Jesus zeige. Der Grund dafür liege in den «antiken Gottesvorstellungen» (S.96) des Alten Testamentes, deren Autoren menschliche Eigenschaften auf die Götterwelt übertragen hätten. Die persönliche Sicht von Martin hinsichtlich der Bibel lautet heute: «Alles in der Bibel ist Absicht Gottes, aber nicht alles in der Bibel ist Ansicht Gottes.» (S.88)
Das tiefste Wesen Gottes offenbare sich glasklar in Jesus Christus: «Es braucht keine weitere Offenbarung Gottes neben Jesus» (S.99). Ja, die «einzig objektive Darstellung Gottes» (S.102) finde sich in Jesus Christus, während Gott es im Rest der Bibel den Menschen gestattet habe, dass sie ihre subjektiven Gottesbilder und ihr religiöses Empfinden zum Ausdruck bringen. Wer nun die ganze Bibel durch den «Filter Jesu» (S.102) lese, der bekomme ein umfassendes Bild des Charakters Gottes, welcher die Liebe ist (S98-103).
Die Person Jesus ist Martin wichtig. Der Grund: «Gott ist nie anders, als er sich in Jesus Christus gezeigt hat» (S.101). Während uns in diversen alttestamentlichen Geschichten ein «sadistischer Gott» (S.93) begegne, der kein Mitleid mit Sündern hat, sondern diese «erbarmungslos verfolgt» (S.93) zeige sich uns in Jesus Christus ein Gott von bedingungsloser Liebe und grossem Erbarmen.
Neue Ethik und Moral
Auf der Grundlage seines Bibelverständnisses wendet sich Martin Benz der Frage von Ethik und Moral zu. Es brauche dringend zeitlose ethische Prinzipien, welche uns helfen, auch «mutig neue Moral abzuleiten» (S.118). Martin möchte nicht die moralischen Fragestellungen unserer Zeit in «mehr als 2000 Jahre alte Gebote und Regeln hineinzwängen» und mit «völlig veralteten und wenig durchdachten Moralvorstellungen» (S.118) beantworten. Viele Gemeinden und Christen würden sich händeringend danach sehnen, dass «jemand den Mut hat, diese Prinzipien zu formulieren» (S.121). Martin Benz glaubt, dass er den Mut hat und präsentiert in der Folge 5 Fragestellungen, welche uns im Prozess moralischer Urteilsfindung leiten sollen.
- Entspricht dieses Tun oder Verhalten der Grundidee der 10 Gebote? Gemäss Martin gehen die zehn Gebote allen weiteren alttestamentlichen Geboten voraus, welche dann jeweils Konkretisierungen dieser Grundprinzipien darstellen würden. Doch dieses erste Prinzip der 10 Gebote brauche selbst auch unbedingt weitere Ergänzung. Mit ein Grund für die Ergänzungsbedürftigkeit der 10 Gebote ist wohl, dass diese auch Gedanken enthalten, welche einfach «das Empfinden der antiken Gesellschaft zu dieser Zeit» (S.78) abbilden würden.
- Was wäre das Barmherzigere? Jesus habe die Menschen nicht verurteilt, auch wenn diese eines der zehn Gebote missachtet hätten. So zum Beispiel bei der Ehebrecherin, welche zu ihm gebracht wurde (Joh 8). Die Geschichte der Ehebrecherin sei ein Plädoyer für Menschlichkeit. Jesus habe neben dem Vergehen der Frau auch die Umstände im Auge gehabt. Deshalb habe er seine Barmherzigkeit erwiesen und diese nicht auf dem «Altar juristischer Korrektheit» (S.132) geopfert. Dieselbe Grundhaltung von Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Demut finde sich auch in gewissen Texten des Alten Testaments, so zum Beispiel beim Propheten Micha (Mi 6:8).
- Bringt meine Entscheidung oder mein Verhalten meinem Mitmenschen gegenüber tiefe Liebe zum Ausdruck? Die Liebe sei Quelle und Grundidee aller Gebote der Thora. In ihr sei, wie Paulus es sagt, «das ganze Gesetz erfüllt» (Rö 13:9). Ein Leben in Liebe sei «Ausdruck der Verbundenheit mit Gott und damit alles, worauf es am Ende ankommt» (S.134). Deshalb müsse bei unserem Verhalten immer die Frage gestellt werden, ob unser Verhalten ein Ausdruck echter Liebe sei. Nochmals anders ausgedrückt könne gefragt werden: «Behandle ich meinen Mitmenschen so, wie er selbst behandelt werden möchte?» (vgl. Mt 7:12)
- Ist mein Verhalten oder Tun hilfreich und erbauend? Dieses Leitprinzip erörtert Martin Benz anhand des Streites um den Konsum von Götzenopferfleisch in der christlichen Gemeinde in Rom (Rö 14). Entscheidend sei einerseits, mit welcher Motivation und Haltung man eine Tätigkeit mache, andererseits gelte das Prinzip der Rücksichtnahme. Eine biblische Ethik habe das Wohl des Anderen im Blick. So dürfe der Glaube des Anderen nicht in Gefahr gebracht werden durch das eigene Verhalten, selbst wenn man ein Gebot finden würde, welches ein bestimmtes Verhalten erlauben würde. Es gelte jedoch dabei eine «Tyrannei der Schwachen zu vermeiden» (S.140).
- Wirkt mein Verhalten der Entwürdigung von Menschen entgegen und stellt es Würde und Wertschätzung her? Dieses ethische Prinzip leitet Martin Benz aus den vielen Begegnungen ab, welche Jesus mit Menschen hatte. Durch seine Heilungen, seinen Begegnungen und Worten habe Jesus Würde bei den Menschen hergestellt und sich jeder Form von Entwürdigung, Demütigung oder Herabsetzung anderer Menschen entgegengesetzt.
Geist-geleitete Neuordnungen
In der Folge werden diese 5 übergeordneten Prinzipien mit weiteren wichtigen Elementen ergänzt, welche für die Wegfindung der christlichen Gemeinde in den heissen moralischen Fragen unserer Zeit dienlich sein sollen. Denn Martin Benz möchte seine ethischen Prinzipien an den brisanten Themen der Sexualmoral und Homosexualität durchexerzieren. Dafür braucht es gemäss ihm das Bewusstsein, dass sich die Bibel «nicht für eine christliche Sexualmoral eignet» (S.154), insbesondere weil «seit Jahrhunderten» eine «aus verschiedenen Geboten und Bibelversen zusammengestückelte Sexualmoral» (S.154) gepflegt werde, welche konservativ aber wenig konsequent sei. Nach Martin Benz braucht es dafür auch das Wissen, dass Gott manchmal «tut, was er nicht will» (S.159), nämlich dass er manchmal bereit ist, «seinen ewigen Willen und seine Ordnungen zeitweise durch irdische Neuordnungen zu ersetzen» (S.160). Dazu braucht es nicht zuletzt den Heiligen Geist, der uns in hilft, die «Werte des Himmels und den Herzschlag Gottes» (S.148) zu vernehmen.
Die Bedeutung des Heiligen Geistes erläutert Martin Benz anhand der Heiden, welche in Korinth, Thessaloniki oder Galatien zum Glauben gekommen waren. Diese hätten noch keine Bibeln gehabt. Ihnen habe sowohl das Alte Testament gefehlt, dessen Sprache sie nicht lesen konnten, als auch das Neue Testament, welches noch nicht verfasst war (S.146). Das sei aber in den Augen der Apostel keine Tragödie gewesen, weil der Geist Gottes diesen neuen Christen half, Gottes Willen zu tun. Der neue Bund in Jesus Christus sei ein Bund des Geistes, in dem die Christen aus einem «inneren Kompass» (S.147) heraus leben könnten. Dies bedinge aber, sich intensiv mit Gott auseinander zu setzen und sich seiner Gegenwart intensiv auszusetzen.
In den moralischen Problemstellungen unserer Tage seien Entscheidungen nötig, die «über die Bibel hinausgehen» (S.151). Dabei sei eine mutige Verantwortungsübernahme der christlichen Gemeinschaft nötig. Dies könne natürlich auch ausgenutzt werden. Aber das sei allemal besser als «alle Verantwortung abzuschieben» und ständig auf «3000 Jahre alte Gebote zu verweisen, deren Relevanz so kraftlos ist, dass sie kaum noch das Leben heutiger Menschen prägen» (S.151).
Wichtig ist für Martin Benz die «Idee der Neuordnungen». Solche Neuordnungen findet Martin Benz an diversen Stellen in der Bibel. So habe Gott eine Neuordnung der menschlichen Ernährung vollzogen, vom Vegetarier zum Fleischesser (1Mo 9:1ff). Ebenso sei die Möglichkeit zur Ehescheidung eine solche Neuordnung aufgrund der menschlichen Hartherzigkeit (Mar 10:4–5). Als weiteres Beispiel einer Neuordnung wird die Einführung des Königtums beim Volk Israel aufgeführt. Das Königtum habe zwar nicht dem Willen Gottes entsprochen, sei aber trotzdem «von Gott erlaubt und sogar gesegnet» (S.163) worden (1Sam 10:25). Als letztes Beispiel führt Martin Benz die Ehelosigkeit an. Obwohl es die klare und von der jüdischen Tradition über Jahrhunderte bestätigte Ordnung der Ehe gab, habe Paulus das unerhörte getan und zur Ehelosigkeit geraten als einer von ihm empfohlenen zeitbedingten Neuordnung (1Kor 7:8+26–27). Gemäss Martin Benz «weicht Paulus in seinem Rat von der göttlichen Eheordnung ab» (S.164).
Martin Benz schliesst aus diesen Beispielen, dass es Zeiten oder Umstände gibt, welche uns dazu herausfordern, «mit grossem Verantwortungsbewusstsein bestimmte Neuordnungen zu formulieren» (S.165). Als Modell dient Martin Benz dabei auch das Apostelkonzil in Jerusalem, bei dem unter der Leitung des Heiligen Geistes die «gravierende ethische Entscheidung» getroffen wurde, dass «Heiden die Traditionen und Gebote des Alten Testamentes und der Thora nicht in ihren Glauben und Alltag integrieren mussten» (S.150)
Martin Benz hat die Idee der Neuordnungen entwickelt, nachdem er im Rahmen eines Kirchentages eine berührende Begegnung mit einem langjährigen homosexuellen Paar hatte. War bis anhin für ihn die Bibel bei diesem Thema «klar und jede Diskussion unnötig» (S.166), so vollzieht er aufgrund dieser Begegnung einen Sinneswandel. Er möchte gar nicht den Versuch starten, die einschlägigen Bibelstellen gegen Homosexualität so zu deuten, als würden sie gar nicht von Homosexualität sprechen, denn, wie er festhält, «wahrscheinlich tun sie es» (S.169). Doch das sei nicht das Ende der Debatte. Denn gleichgeschlechtliche Anziehung sei eine Realität und man werde dem Thema nicht gerecht, wenn man einfach «die wenigen Bibelstellen, die sich dagegen aussprechen, zitiert» (S.169). Es sei ihm bewusst, dass eine Neuordnung für Homosexualität «nirgends in der Bibel» (S.170) zu finden sei. Doch das von ihm in der Bibel entdeckte Neuordnungs-Prinzip biete Hand, dies dennoch zu tun.
Kronzeuge für dieses Vorgehen ist für Benz die Geschichte von Petrus, welcher in das Haus des Heiden Kornelius geht (Apg 10). Für Juden sei dieser Schritt zur Zeit der Apostel mit genauso viel Unwohlsein, Widerwillen oder gar Abscheu verbunden gewesen, wie es Martin Benz heute gegenüber Homosexuellen begegnet. Doch Petrus sei «gehorsam» gewesen und habe das getan, «was sich in seinem Empfinden bisher immer als Ungehorsam und verunreinigend angefühlt habe» (S.170). Petrus habe dabei noch nicht gewusst, wie das mit den Heiden theologisch und ekklesiologisch genau weitergehen werde, sondern sich einfach auf die Menschen eingelassen.
Erst später im Apostelkonzil hätten sich dann die inhaltlichen und dogmatischen Fragen von Petrus geklärt. Und «überraschenderweise» wurde dort dann von den Heiden «nicht verlangt, jüdisch zu werden, sich beschneiden zu lassen oder sich an die jüdischen Gepflogenheiten zu halten» (S.171). Petrus habe sich also «als erster auf diese Menschen und den Prozess» (S.171) eingelassen. Was das Thema Homosexualität anbelangt möchte auch Martin Benz zu denen gehören, die den Mut haben, «in das Haus des Kornelius zu gehen» (S.171) und damit einen Prozess voranzutreiben, der uns lehrt, «wie eine Neuordnung mit Homosexualität aussehen könnte» (S.171).
Heute plädiert Martin Benz dafür, an homosexuellen Beziehungen einfach die gleichen Massstäbe wie an heterosexuelle Beziehungen anzuwenden, nämlich in ihnen «die biblischen Werte von Partnerschaft zu verwirklichen»:
«Eine homosexuelle Beziehung ist wie eine heterosexuelle Beziehung angehalten zu Treue, Hingabe, Verbindlichkeit, Liebe, Verantwortung und zu einer lebenslang angelegten monogamen Partnerschaft» (S.156)
Damit ist Martin Benz am Ende des Buches angelangt. Abgerundet wird dieses im letzten Kapitel mit einigen praktischen Ratschlägen. Er gibt Hilfestellungen gegen Alltags‑, Glaubens- und Gemeindemüdigkeit und die Aufforderung, sich Reserven ins Leben einzuplanen. Ein Prozess der persönlichen Veränderung löse zudem auch immer Ängste in anderen Menschen aus, welche diesen Veränderungsprozess von aussen miterleben. Diese Personen würden vielleicht die Befürchtung äussern, man habe den Glauben verloren. Diese würden einen vielleicht sogar als Gefahr für andere einstufen. Er selbst habe oft «aufs Maul Sitzen» (S.191) müssen, um nicht unnötigerweise sein Umfeld zu verunsichern oder zu provozieren. Gerade als Pastor brauche es Weisheit in der Kommunikation dessen, was man gerade an Dekonstruktions-Erfahrungen mache.
Wichtig sei im ganzen Prozess des geistlichen ‘Umzugs’, gute ‘Umzugshelfer’ zu finden. Es brauche dabei vor allem neue Freundschaften, und nicht neue Feindschaften. Eine Liste von empfohlenen ‘Umzugshelfern’ (Autoren, Blogs, Podcasts) rundet das Buch ab. Darunter finden sich Namen wie Thorsten Dietz, Michael Diener, Rob Bell, Brian McLaren, Gregory Boyd oder Brian Zahnd.
Teil 2: Buchreflexion
Mit seinem Buch möchte Martin einen «progressiven Zyklus» der Glaubensentwicklung entwerfen, welcher dem Gläubigen hilft, nicht frustriert in dumpfen Zynismus Gott und dem Glauben gegenüber zu verfallen, oder den Glauben möglicherweise ganz verlieren.
Dieses Grundanliegen, Menschen zu helfen, welche sich in einer geistlichen Sackgasse wähnen, ist erstmal zu begrüssen. Diverse Leserstimmen lassen vermuten, dass viele sich angesprochen fühlen und das Buch als eine gewisse Befreiung empfinden. Auch Pastoren und Mitarbeiter von christlichen Werken lesen das Buch und fragen sich, ob der von Martin vorgeschlagene Weg des ‘progressiv-geisterfüllten’ Glaubens etwas für sie, ihre Kirchen und Organisationen sein könnte.
Ebenfalls spürbar ist die langjährige Erfahrung als Pastor und als Dozent für Homiletik (Predigt-Lehre). Martin kommuniziert verständlich und gekonnt — auch für Menschen an der Basis von Kirchen und Gemeinden. Es wird sowohl Kopf als auch Herz angesprochen.
Ein weiterer Punkt, den ich würdigen möchte, ist, dass Martin sich Zeit gelassen hat mit der Publikation des Buches. Seit geraumer publiziert er einen eigenen Podcast, in dem er seine Ideen eines «geisterfüllten Progressiven» bespricht. Martin hat der Versuchung widerstanden, die Welt mit unausgegorenen Ideen in Buchform zu beglücken. Das Buch präsentiert das Ergebnis eines längeren Wandlungsprozesses und nicht nur die nächste Idee.
Wertvoll am Buch von Martin finde ich auch die Fragen, die er im Grunde genommen stellt, unter anderem:
- Wie wendet man einen Text, der vor Jahrtausenden in einer anderen Kultur geschrieben wurde auf heute an?
- Wie gehen wir um mit den Zweifeln und Fragen, die in unserem Glauben entstehen können?
- Wie sollen wir als Christen reagieren, wenn es zu einem substantiellen Unwohlsein kommt mit der Art, wie der Glaube verstanden und gelebt wird im Kreis unserer Herkunft und Gemeinschaft?
- Wie denkt sich Gott Sexualität heute?
Diese positiven Aspekte ausgenommen stehe ich dem Buch aber kritisch gegenüber. Ich möchte einige Gründe dafür erläutern, in der Hoffnung, dass meine persönliche Auseinandersetzung mit den Inhalten des Buches auch für andere hilfreich ist. Dabei beziehe ich mich ausschliesslich auf die Buchinhalte von Martin, nicht auf die umfangreichen Podcasts und Predigten, welche er in den vergangenen Jahren publiziert hat. Der programmatische Charakter des Buches lässt diese Eingrenzung meines Erachtens zu.
Die Themen, die Martin aufgreift, sind allesamt wichtig und brennen vielen Christen aktuell unter den Nägeln. Leider kann ich in dieser Reflexion über sein Buch manchmal nur andeuten, in welche Richtung ich die Lösungen sehe. Weiterführende Artikel können in Zukunft diesen Artikel ergänzen.
1. Wohin will Martin Benz uns führen?
«Sei einen Schritt voraus und du wirst zum Vorbild, sei drei Schritte voraus und du wirst zum Märtyrer» (S.191)
Martin möchte so viele wie möglich mit auf die Reise nehmen. Er weiss auch, dass der Mensch selten in krassen Umbrüchen lebt. Ansichten und Werte entwickeln sich meist in kleinen Schritten, man könnte auch sagen: organisch. Deshalb arbeitet Martin stets nach seiner langjährigen Maxime, wonach der progressive Leiter nicht zu weit vorauseilen darf, weil dieser sonst zum Märtyrer wird.
Was auf den ersten Blick ein gutes Leitungsprinzip scheint, weckt jedoch auch Fragen. Dieses Prinzip lässt mich als Leser mit der Frage zurück, ob der Autor wirklich offen kommuniziert oder Dinge vor mir verbirgt, die noch zu ‘gefährlich’ für mich sind. Kommt dieses Leiterschafts-Prinzip nicht einer Entmündigung der Leser nahe? Bei allem Verständnis für die Sonderstellung, welche Pastoren in ihren Gemeinden haben mögen: Warum sollte man der Welt die Überzeugungen nicht offen kommunizieren können, die man innerlich hat? Ist es nicht zumutbar, einer Leserschaft das Ziel einer Reise zu kommunizieren?
Genau diese Frage habe ich Martin schon vor 3 Jahren gestellt in meinem ersten Artikel für Daniel Option. Ein Blogartikel, den er selber zwei Jahre später veröffentlichte, kann wohl als Antwort darauf gelesen werden: das Ziel muss immer ‘Leidenschaft für Jesus’ sein. Die Rückfragen, die wir (mein Bruder Paul in Absprache mit mir) zu seinem Artikel gestellt haben, hat Martin Benz leider nie beantwortet.
Mit der erwähnten Maxime bleibt einfach unweigerlich die Frage zurück, ob man nun einfach eine vorläufige Kommunikation des Leiters vor sich hat, oder was dieser wirklich denkt und anstrebt.
Ich persönlich sehe es heute so: Es gehört wohl zum Wesen des Progressivismus, dass es eigentlich höchstens Etappenziele geben kann. Ein progressiver Glaube, welcher ‘angekommen’ ist, ist de facto kein progressiver Glaube mehr.
Trotz dieser grundsätzlichen Unsicherheit möchte ich darauf vertrauen, dass Martin im Buch eine offene Darlegung seiner aktuellen Sicht der Dinge wiedergibt.
2. Der Strohmann
«…dass auch die bibeltreusten Fundamentalisten nicht wirklich glauben, was sie von sich selbst behaupten.» (S.56)
Wenn es darum geht, der verpönten ‘bibeltreuen’ Theologie den Garaus zu machen, greift Martin Benz leider zum Strohmann Argument. Er zeichnet das Bild einer Gilde von Heuchlern. Wenn diese ihre Prinzipien ernst nehmen würden, müssten sie noch an ein geozentrisches Weltbild und eine auf Säulen ruhende Erde glauben (S.56–57).
Es ist schade, dass Martin seine Argumente scheinbar nur formulieren kann, indem er sie mit einem verzerrten und schlimmstmöglichen Bild seiner ehemaligen Glaubenswelt vergleicht. Dabei weiss Martin Benz als ehemaliger Absolvent der STH in Basel sehr wohl um den Reichtum und die Tiefe konservativer Theologie. Natürlich kennt er einen John Stott, einen J.I. Packer, einen Tim Keller – nur um ein paar Exponenten von gestandenen und einflussreichen konservativen Theologen der vergangenen Jahrzehnte zu nennen. Diese treten sehr differenziert und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit an die Texte der Bibel heran. Deren akademische Kompetenzen übertreffen meine auf jeden Fall bei weitem, möglicherweise auch diejenigen von Martin Benz.
Warum misst Martin Benz seine Theologie nicht an solchen Exponenten? Warum vergleicht er nicht seine besten Argumente mit deren besten Argumenten? Es ist einfach, Zerrbilder zu zeichnen, nur um sie wieder niederzureissen. Es ist einfach zu gewinnen, wenn man das Schlechteste der einen Welt mit dem idealisierten Bild einer anderen vergleicht. Selbstverständlich bin auch ich verpflichtet, Autoren und Gesprächspartner genau genug zu verstehen und sie nicht falsch zu karikieren. Dies ist in den aktuell mitunter hitzig geführten Diskussionen im Christentum nicht immer einfach.
3. Die Bibel als Steinbruch
«Als Christen wollen wir Gott von Herzen gehorsam sein. Wir wollen nicht einfach eine Bibelstelle um die Ohren geknallt bekommen» (S.119)
«Aber das ist allemal besser, als alle Verantwortung von sich zu schieben und ständig auf 3000 Jahre alte Gebote zu verweisen, deren Relevanz so kraftlos ist, dass sie kaum noch das Leben heutiger Menschen prägen» (S.151).
Martin Benz schreibt, dass er nicht die Inspiration der Bibel in Zweifel ziehen möchte. Für ihn sei die Bibel nach wie vor inspiriertes Wort Gottes (S.70). Doch in der Praxis scheint er der Bibel doch nicht wirklich zu vertrauen, wenn es um die Gestaltung des Lebens in unseren Tagen geht.
Martin liest die Bibel vor allem als ein Buch, in dem Menschen in der Vergangenheit ihre subjektiven Gottesbilder und ihr religiöses Empfinden zum Ausdruck gebracht haben. Damit ist auch der Umgang mit der Bibel vorgezeichnet. Für Benz gilt nicht, die innere Einheit der Bibel als eines Buches mit vielen Autoren, aber einem Urheber, einem inspirierenden Geist zu suchen. Er sieht in der Bibel vielmehr zeitbedingte Gottesbilder und Ideen.
Im Schreiben von Martin müssen die Inhalte und Ideen der Bibel immer wieder zum ‘Kampf’ gegeneinander antreten. Das Alte und das Neue Testament oder Jesus und der Rest der Bibel werden gegeneinander ausgespielt. Die Bibel wird als Buch voller scheinbar unüberbrückbarer, innerer Konflikte gezeichnet, in dem es immer wieder gilt, das Gute vom Schlechten und das Brauchbare vom Unbrauchbaren zu trennen. Hier wird ein «sadistischer Gott» ausgemacht, dort die «völlig veralteten und wenig durchdachten Moralvorstellungen».
Ich empfinde deshalb bei Martin eine Tendenz, die Bibel zu einem ‘Steinbruch’ zu machen. In diesem lässt sich der eine oder andere wertvolle Diamant für unsere Zeit entdecken, die eine oder andere zeitlose Weisheit zu Tage fördern. Anderes aber ist unbrauchbar, einiges sogar schädlich, toxisch.
Leider säht ein solches Vorgehen Misstrauen gegenüber der Bibel. Nicht mehr die Frage «Herr, was möchtest du mir sagen» steht dann beim Studium im Vordergrund, sondern das Sortieren in brauchbar und unbrauchbar.
Als «einzig objektive Darstellung Gottes» hat Martin die Person Jesus ausgemacht. Dass er diesen Jesus aber nur durch die Bibel kennenlernen kann, welche er oft kritisiert und relativiert, scheint ihn dabei nicht zu stören. Wäre Martin konsequent, so müsste er die Berichterstattung über Jesus gleichermassen kritisieren und relativieren. Wie kann sich denn Martin der objektiv richtigen Darstellung Gottes in der Berichterstattung über Jesus sicher sein, wenn diese aus einem Buch stammt, in dem er selbst immer wieder subjektive, zeitbedingte Gottesbilder ausmacht?
Wenn Martin Benz anfängt, in alttestamentlichen Texten einen «anderen Geist» auszumachen, dann impliziert er eigentlich damit, dass die Bibel nicht eine Inspirationsquelle hat, sondern verschiedene. Ein solches Vorgehen finde ich in hohem Grade als problematisch. Müssen wir jetzt noch anfangen, innerhalb der Bibel Geisterunterscheidung zu betreiben?
Eine inhaltliche Kritik an den Aussagen der Bibel, wie wir sie bei Martin Benz vorfinden, ist den Autoren der Bibel und auch Jesus Christus fremd. Sowohl Petrus als auch Paulus widersprechen Martin, wenn er in gewissen Bibelpassagen einen ‘anderen Geist’ ausmacht:
«Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben vom Heiligen Geist haben Menschen in Gottes Auftrag geredet.» (2Pet 1:21)
«Denn alles, was in der Schrift steht, ist von Gottes Geist eingegeben, und dementsprechend groß ist auch der Nutzen der Schrift: Sie unterrichtet in der Wahrheit, deckt Schuld auf, bringt auf den richtigen Weg und erzieht zu einem Leben nach Gottes Willen.» (2 Tim 3:16 NGÜ)
Hat Martin aus der Bibel erstmal seine allgemeinen ethischen Prinzipien herausdestilliert, scheint die Bibel für ihn an Relevanz zu verlieren – ausser, natürlich, sie lässt sich gut für eine bestimmte Argumentation verwerten. Dies zumindest ist mein Empfinden. Damit wird eine deutliche Abwertung der Bibel vollzogen. Sie ist dann nicht mehr das lebendige Wort Gottes an uns, sondern eher Weisheitsliteratur mit ‘guten ethischen Prinzipien’. Nun – gute Weisheitsliteratur haben auch andere Menschen verfasst. So wird aus der Bibel ein gutes Buch unter vielen anderen gemacht.
Beispielhaft zeigt sich Martins Arbeitsweise in seiner Argumentation über Homosexualität. Martin gibt offen zu das die Bibel homosexuelle Praxis wohl rundum ablehnt. Die klaren Vorstellungen Jesu über Ehe (vgl. Mt 19:4–6 und Mk 10:6–8) scheint er nicht zu beachten. Nein, Martin Benz ist einem freundlichen gleichgeschlechtlichen Paar begegnet, der ‘Geist’ hat zu ihm gesprochen, eine ‘Neuordnung’ ist beschlossen. De facto macht Martin bei diesem Thema eine ‘anekdotische Beweisführung’, welche ein isoliertes Beispiel anstelle von stichhaltigen (biblischen) Argumenten zur Begründung nutzt. Den weitergehenden Implikationen dieser von ihm angeregten Neuordnung scheint er keine Relevanz beizumessen.
Was haben wir hier vor uns? Wir haben mit Marin Benz einen Autoren, der sich auf der einen Seite zur Bibel als «inspiriertes Wort Gottes» bekennt, der offen zugibt, dass die Bibel homosexuelle Praktiken eigentlich ablehnt, und der auf der anderen Seite dennoch dafür plädiert, die Orientierung an diesem biblisch klaren Verdikt über Bord zu werfen. Das geht für mich nicht auf.
Petrus und Kornelius
Der Glaube an die Bibel als «inspiriertes Wort Gottes» und die gleichzeitige Ablehnung einer ihrer klaren und durchgängigen Weisungen ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Doch Martin hat in der Bibel einen Präzedenzfall gefunden, auf den er sich beruft.
Es ist die Geschichte von Petrus und Kornelius (Apg 10). Hat nicht auch Petrus – so Martin – das Unvorstellbare getan, als er als Jude «in das Haus» des Heiden Kornelius gegangen ist? Und hat Petrus nicht auch einfach gehandelt, ohne zu wissen, wie das dann mit den Heiden theologisch und ekklesiologisch weitergehen würde?
Die Geschichte mit Petrus und Kornelius als Argumentation für einen liberalen Kurswechsel der Kirche in der Frage ausgelebter Homosexualität herbeizuziehen, ist nicht neu. Ich kenne diese Argumentation aus der Biografie der bekannten ehemaligen Worship-Sängerin Wicky Beeching («Undivided», ab S. 173). Doch die Geschichte von Petrus und Kornelius gibt uns weder eine Legitimation für eine spontane Neuordnung von Homosexualität, noch einen Freipass, uns nicht um weitergehende Implikationen zu kümmern.
Martin vergleicht hier ‘Äpfel mit Birnen’. Der Grund ist: Es geht in der Geschichte von Petrus und Kornelius um etwas, was in den biblischen Schriften einen langen prophetischen Vorschatten hat bis zurück zum ersten Buch der Bibel. Bereits im abrahamitischen Segen wird ein Segen für «alle Geschlechter auf Erden» angekündigt (vgl. 1Mo 12:1–3). Der Missionsbefehl von Jesus erweitert den Auftrag der Jünger ausdrücklich auf alle Völker (Mt 28:19–20). Die Ereignisse in der Geschichte von Petrus bedeuten also die Erfüllung einer langjährigen Verheissung, und das Umsetzen des bereits von Jesus erteilten Missionsauftrags. Es ist ein vorhergesagter heilsgeschichtlicher Durchbruch und ein Gehorsamsschritt Jesus Christus gegenüber. Auch beim Traum von Petrus mit den unreinen Tieren haben wir keine neue Offenbarung vor uns. Jesus hatte seinen Jüngern bereits klargemacht, dass die Reinheitsgebote aufgehoben sind (Mk 7).
Die Geschichte von Petrus und Cornelius scheint mir daher in keiner Weise brauchbar für die Behandlung des Themas Homosexualität, welches – im Unterschied zum verheissenen Segen an alle Nationen – keinen in der Bibel angekündigten ‘Vorschatten’ hat, der irgendwann zur Gutheissung ausgelebter Homosexualität führen würde. Nützlich ist für Martin Benz in der Geschichte lediglich der Akt der Grenzüberschreitung, den er für seine Zwecke instrumentalisiert. Doch in der Geschichte von Petrus und Kornelius geht es um eine angekündigte und von Jesus angeordnete Grenzüberschreitung, nicht eine unangekündigte.
Ebenso empfinde es als untauglich, wie das Unwissen von Petrus über zukünftige theologische und ekklesiologische Fragestellungen als Aufhänger verwendet wird, um der Leserschaft schmackhaft zu machen, dass auch in der Frage der Homosexualität einfach ein mutiger Schritt ohne weitere Gedanken über potentielle Konsequenzen und weiterführende Fragestellungen angesagt sei. Martin möchte uns hier mithilfe eines ‘isolierten Argumentes’ für seine Haltung gewinnen. Doch Ideen haben logische Implikationen und stehen nicht alleine da. Wer ein Argument gewinnen will, sollte den Zusammenhang zu möglichen negativen Folgen oder anderen Konsequenzen nicht von vornherein ablehnen, sondern diese mitbedenken.
Jedem, der sich auch nur ein wenig mit den Fragestellungen rund um die Ehe für alle befasst, wird schnell auf äusserst weitreichende Fragestellungen stossen. Zum Beispiel bildet die Polarität von Mann und Frau die Basis dafür, dass die Ehe als Verbindung von zwei Menschen gesehen wird. Mit der Preisgabe dieser Polarität wird auch die Zahl 2 als Grundlage für verbindliche sexuelle Beziehungen in Frage gestellt. Polyamorie ist die logische nächste Diskussion, und genau diese wird (folgerichtig) bereits in unserer Gesellschaft geführt. Genauso befeuert die Einführung der Ehe für alle auch die Forderung nach einer Legalisierung von Leihmutterschaft. Dass gleichgeschlechtliche Paare auf natürlichem Wege keine Kinder zeugen können, wird zum neuen ‘Unrecht’. Die einzige Lösung ist dabei die Entkoppelung der Fortpflanzung von der Sexualität, unter anderem durch die unsägliche Praxis der Leihmutterschaft.
Doch — da gibt es gewichtige Fragen und Forderungen. Diese liegen längst auf dem Tisch und werden von den entsprechenden Kreisen als gesellschaftliche Realitäten etabliert. Nur möchte Martin diese vielleicht nicht diskutieren. Also präsentiert er uns Petrus als grossartiges biblisches Beispiel dafür, dass wir uns doch keine Gedanken über Zukünftiges machen sollen, wenn uns der Impuls des ‘Geistes’ erreicht hat. Dabei gäbe es genügend Hinweise in der Bibel, welche uns auf die Wichtigkeit eines vorausschauenden Handelns und auf die Gefahren von Gedankenlosigkeit hinweisen (z.B. Spr 22:3; Spr 27:12).
Die Geschichte von Petrus und Kornelius dient Martin meines Erachtens dazu, um einer möglicherweise bereits von ihm beschlossenen Meinung eine scheinbar biblische Legitimation zu verleihen. Ich habe durchaus Verständnis für Martin’s pastorales Anliegen für (homosexuelle) Menschen. Doch dieses berechtigte Anliegen sollte ihn nicht dazu verleiten, die Bibel zu instrumentalisieren.
4. Wenn das Narrativ regiert
«Aufgrund dieser besonderen Situation weicht Paulus in seinem Rat von der göttlichen Eheordnung ab…» (S.164)
Beim Lesen des Buches von Martin Benz werde ich den Eindruck nicht los, dass an Schlüsselstellen seiner Argumente das gewünschte Resultat am Anfang der Argumentation steht. Dadurch entstehen meiner Ansicht nach sachliche Fehler. Wir stehen wohl alle in der Gefahr, nicht den Argumenten zu folgen, sondern diese (vielleicht auch unbewusst) so zurechtzulegen, dass sie unsere These stützen. Doch für einen Theologen, der von sich behauptet, die Bibel im Gegensatz zu den von ihm verachteten ‘Bibeltreuen’ ernst zu nehmen (S.55), geschieht dies im Buch von Benz meiner Meinung nach zu oft.
Ich möchte zur Illustration zwei Beispiele erwähnen.
Paulus und das Zölibat
Das erste Beispiel betrifft die Präsentation von Paulus als Urheber des Zölibats (S.164). Diese Aussage stimmt sachlich nicht – die Stärkung des Zölibats geht auf Jesus selber zurück, welcher bereits für eine Aufwertung des Zölibats gesorgt hat. Die Juden glaubten, dass es zwei Gründe gibt für einen Menschen, berechtigterweise zölibatär zu leben: Wenn man zur Ehe unfähig geboren wird oder von Menschen zur Ehe unfähig gemacht wird. Jesus nennt in Mt 19:12 beide Gründe und erweitert diese um einen entscheidenden dritten Grund: Von sich aus, um des Reiches Gottes willen zölibatär leben.
Mit dieser Kritik am Judentum bezüglich dessen Handhabung des Zölibats liefert Jesus das nötige Pendant zu seiner Forderung, dass Ehe zwischen einem Mann und einer Frau sein soll (Mat 19,1–11). Jesus erklärt u.a. damit, dass die im Alten Testament tolerierte Polygamie aufgegeben werden muss. Dies kann er aber nicht tun, ohne gleichzeitig das Zölibat neu als berechtigten Lebensentwurf zu etablieren. Das Judentum hatte eine zu eng gefasste Idee vom Zölibat entwickelt und ‘drängte’ damit viele in die Ehe und zum Teil in die Polygamie. Wenn Jesus möchte, dass die heterosexuelle Monogamie gelebt wird, muss er gleichzeitig die Tür weit aufmachen für das Zölibat als freiwillig gewählten Lebensentwurf, der gleichwertig ist zur Ehe. Genau dies tut Jesus in Vers 12 von Matthäus 19.
Abgesehen davon: Ledig sein – und Folge dessen keinen Sex zu haben – wird nirgends in Bibel als Sünde bezeichnet. Nirgends ist meines Wissens ein Gebot an den Menschen gegeben, Sex haben zu müssen. Jesus vollzieht mit seinen Aussagen also vor allem eine gesellschaftliche Neuordnung, welche aber eigentlich schon angelegt war in der Theologie des Alten Testaments.
Wir sehen, dass Jesus kein Problem hatte, die jüdische Gesellschaft im sexualethischen Bereich dort zu konfrontieren, wo er es für nötig sah. Spannenderweise konfrontiert Jesus das Judentum an einem Punkt nicht: in der Haltung des Judentums zur Homosexualität. Jesu Schweigen zur Homosexualität im jüdischen Kontext spricht eine laute Sprache.
Klar ist hier jedenfalls: Paulus ist nicht der Urheber des Zölibats, sondern baut weiter auf dem Fundament, welches Jesus bereits gelegt hat.
Kein Altes Testament vorhanden?
Das zweite Beispiel betrifft eine Aussage, die für Martins Argument von zentraler Bedeutung ist. Es geht um die Behauptung, dass den Heidenchristen zur Zeit von Paulus nicht nur das Neue Testament fehlte, sondern auch das Alte Testament. Dies, weil sie dessen Sprache (Hebräisch) nicht lesen konnten (S.135).
Martin gibt uns am Beispiel der neuen Christen in Ephesus zu verstehen, dass dies auch kein Problem war. Der Fokus von Paulus bei diesen jungen Christen sei auf dem Empfang des Heiligen Geistes gewesen, nicht auf dem Empfang von «Listen mit Geboten». Entscheidend sei der innere Kompass des Geistes. Dieser vermittle uns die Werte des Himmels und damit Ethik. Der Bund des Mose hingegen sei ein Bund der Moral gewesen (S.136).
Martin baut so an einer Argumentation für ein rein geistgeleitetes Leben, welches der biblischen Schriften nicht (mehr) bedarf.
Doch es stimmt gar nicht, wie von Martin behauptet, dass es den Heidenchristen aufgrund einer Sprachbarriere nicht möglich war, das Alte Testament zu lesen. Die Realität ist, dass zu jener Zeit die Septuaginta – die griechische Übersetzung des Alten Testaments – weit verbreitet war unter den Juden und den gottesfürchtigen Heiden im Römischen Reich. Die Septuaginta bildete auch die Basis für die alttestamentlichen Zitate in den entstehenden Schriften des Neuen Testaments. Die Heidenchristen hatten also durchaus Zugang zum Alten Testament.
Wir alle leben mit Lücken in unserem Wissen. Die Geschichte der Septuaginta war mir selbst bis vor kurzem auch nicht bewusst. Das Neue Testament würde uns aber auch sonst klar machen, wie wichtig die bestehenden biblischen Schriften für die Christen der ersten Generation waren, und es auch für uns sein sollten.
Sicher sehen wir in der Evangelisation immer wieder unterschiedliche Strategien. Zum Beispiel knüpft Paulus in seiner Rede auf dem Areopag in Athen sehr stark an die Lebenswelt der Athener an und knallt diesen nicht grad Bibelstellen um die Ohren. Das heisst aber nicht, dass sich die biblischen Schriften für Paulus erübrigt hätten. Im Gegenteil. Es war ihm elementar wichtig, dass die Verkündigung und das Zeugnis der Christen «nach der Schrift» — also im Einklang mit ihr war (1Kor 15: 3–4).
Paulus reiste zudem durch Gemeinden, schrieb Briefe und ermahnte die Christen seiner Zeit immer wieder, an seinem Vorbild und an der Lehre festzuhalten. Das Evangelium durfte auf keinen Fall verändert oder verfälscht werden. Wäre nur der Geist wichtig, wären solche Aufforderungen und Ermahnungen unnötig gewesen.
Wir können daraus schliessen: die Christen hatten nicht nur das Alte Testament verfügbar, sondern mündlich und ein Stückweit auch schriftlich das Neue Testament in der Lehre der Apostel, welche unter ihnen wirkten.
Natürlich ist für das richtige Verstehen der biblischen Schriften die Hilfe des Heiligen Geistes unverzichtbar. Doch der «innere Kompass» des Geistes, den Martin betont, ersetzt nicht die Orientierung an der Schrift. Das Eine darf nicht gegen das Andere ausgespielt werden.
Dies zeigt sich gerade auch am Beispiel der Epheser, welche Martin ja zur Begründung seiner These braucht. Natürlich war es für Paulus grundlegend wichtig, dass diese Epheser den Heiligen Geist empfangen (Apg 19,1–6). Doch dies hat die Heilige Schrift nicht abgewertet. Im Gegenteil. Wer den Geist empfängt muss auch das Wort Gottes ergreifen! Genau dies legt Paulus den Ephesern in seinem Brief an sie eindringlich nahe:
«Ergreift das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes.» (Epheser 6,17)
Auch ein Blick in die Missionsgeschichte würde zeigen, dass die Vision von Martin Benz eines rein geistgeleiteten christlichen Lebens, welches der Schrift nicht wirklich bedarf, nicht haltbar ist. Es lässt sich historisch belegen, dass dort, wo die Bibel nicht übersetzt wurde, wie zum Beispiel in Nordafrika unter den Berber Völkern, die Kirche vom Islam ausradiert wurde, obwohl eminente Kirchenväter zu jener Kirche gehörten, wie zum Beispiel Augustinus. Demgegenüber konnte sich das Christentum in Kulturen und Regionen halten, wo entsprechende Übersetzungen der Heiligen Schrift vorhanden waren.
Die herausragende Bedeutung der Bibel für Christen in den ersten Jahrhunderten war so auffallend, dass diese Christen im Koran sehr oft als ‘People of the Book’ – als ‘Menschen des Buches’ bezeichnet werden. Welch eine treffliche Bezeichnung! Unsere Liebe zur Bibel bedeutet nicht, dass wir zur Bibel beten, sondern wir beten den einzig wahren, dreieinigen Gott an, der sich uns durch die Bibel offenbart, und dessen Wort die Bibel ist. Wer die Bibel für entbehrbar erklärt hat ihre grundlegende Bedeutung für uns Christen nicht verstanden. Wer dies tut, wird auch ganz bestimmt keinen Aufbruch des christlichen Glaubens erfahren, sondern vielmehr ihren langfristigen Fortbestand gefährden.
Ich stelle zusammenfassend fest: Die Argumente von Martin sind an wichtigen Punkten so gelegt, dass sie in ein schon vorhandenes Narrativ passen. Mein Empfinden ist, dass Benz uns einen Paulus zeigt, der angeblich eine kreative Revision der Sexualmoral macht, damit wir dies in unseren Tagen auch tun können. Er möchte uns eine Geistesleitung vor Augen führen, welche der Rückbindung an die Schrift nicht mehr bedarf, damit wir dies in unseren Tagen auch tun können. In beiden Beispielen begeht Martin meines Erachtens sachliche Fehler.
Was kann uns helfen, diese Art von Fehler zu meiden oder zu reduzieren?
Es hilft zu wissen, dass niemand rein objektiv an eine Fragestellung herangeht – auch ich nicht. Oft denken wir in ‘Paradigmen’ – also ausgehend von bestimmten Denkvoraussetzungen. Wenn meine Denkvoraussetzungen ganz anders liegen, als jene meines Gesprächspartners, kann es anspruchsvoll werden. Noch schwieriger kann es sein, wenn er noch vor kurzem dieselben Denkvoraussetzungen teilte, wie ich, sich nun aber signifikant weiterentwickelt hat. Je bewusster sich beide Gesprächspartner ihrer Denkvoraussetzungen sind, desto besser werden sie einander verstehen können, auch wenn sie nicht einer Meinung sein werden. Wenn ich diese Grundeinstellung habe, werde ich mit offenen Ohren den besten Argumenten meines Diskussionspartners zuzuhören und werde deren Validität abschätzen. Dies will auch ich immer wieder üben. Bezüglich der Bibel ist ferner wichtig, genug des Textes ‘rundherum’ zu lesen. Das deckt immer wieder Elemente auf, die man aus vielleicht ideologischen Gründen nicht wahrnimmt, und die klärend wirken können.
5. Falsche Dilemmas
Die Bibel ernst oder wörtlich nehmen? (S.44)
Im Buch von Martin Benz begegnen mir falsche Dilemmas. Falsche Dilemmas konfrontieren den Leser mit einer limitierten Anzahl Optionen, welche sich gegenseitig ausschliessen. Meistens geht es um die Wahl zwischen 2 Optionen, aus denen nur eine ausgewählt werden kann. Zur Etablierung dieser scheinbar klaren Wahlsituation müssen aber oft weitere mögliche Optionen oder Lösungsansätze unterschlagen werden, oder es muss durch irreführende Vereinfachung und Zuspitzung ein scheinbar unüberwindlicher Kontrast hergestellt werden.
Falsche Dilemmas sind ein mächtiges rhetorisches Instrument. Durch die Etablierung von falschen oder undifferenzierten Gegensätzen schaffen sie eine Schwarz-Weiss-Situation. Der Leser, welcher dies nicht durchschaut, wird faktisch gezwungen, die als gut präsentierte Wahlmöglichkeit anzunehmen und die als schlecht präsentierte abzulehnen.
Sadistischer Gott oder liebevoller Vater?
Ein oft bemühtes falsches Dilemma im Schreiben von Martin ist dasjenige des ‘sadistischen’ Gottes der alttestamentlichen Vorstellungswelt gegenüber dem liebevollen und barmherzigen Gott, der sich im Neuen Testament in Jesus Christus offenbart. Dieses falsche Dilemma lebt davon, die unglaublich liebevollen und werbenden Aspekte des alttestamentlichen Gottesbildes auszublenden. Es lebt auch davon, im Neuen Testament die Ernsthaftigkeit menschlicher Sünde im Angesicht eines heiligen Gottes auszublenden, welches nur durch das Sühneopfer Jesu am Kreuz behoben werden konnte (vgl. 1Joh 2:2). Der ‘alttestamentliche’ Gott, der sein Volk gleichzeitig mit «ewiger Liebe» geliebt hat (Jer 31:3), ist in diesem Dilemma ebenso abwesend wie der ‘neutestamentliche’ Gott, der beispielsweise König Herodes durch seinen Engel von Würmern zerfressen lässt (Apg 12:23).
Für eine eingehende Besprechung dieser umfangreichen Thematik fehlt hier der Platz. Mir scheint aber, dass hinter diesem falschen Dilemma immer wieder die Idee steckt, dass ein liebender Gott doch nicht strafen oder zornig werden darf. Komisch! Liebe, die echt liebt, wird doch über Ungerechtigkeit zornig, sonst ist es keine echte Liebe. Gottes Zorn, auch im Alten Testament, ist immer wieder auch Ausdruck seiner Liebe. Es gibt auch Strafe, die gerecht ist, hilfreich, reinigend. Das unterschlägt Martin Benz. Auch wenn es uns vielleicht Mühe macht: Liebe und Zorn Gottes sind in der Bibel keine sich ausschliessenden Widersprüche. Sie sind auch selbstverständliche Themen im neuen Testament:
«Sieh nun die Güte und die Strenge Gottes» (Röm 11:22).
Wörtlich die Bibel lesen, oder sie ernst nehmen?
Sollen wir «die Bibel ernst nehmen oder wörtlich?» (S.44), fragt Martin den Leser. Auch diese Gegenüberstellung stellt ein falsches Dilemma dar, welches zudem eine subtile Verachtung einer bestimmten Kategorie von Menschen zum Ausdruck bringt, nämlich denjenigen, welche die Bibel ‘wörtlich’ nehmen.
Wer die Bibel ‘wörtlich’ nehmen möchte, gehört demnach eben auch in die Kategorie derjenigen, welche die Bibel ‘nicht ernst’ nehmen. Wer die Bibel ‘wörtlich’ nimmt, ist demnach irgendwie dumm, unreflektiert, gedankenlos, undifferenziert. Im Gegensatz dazu stehen diejenigen, welche es besser wissen und tiefere Erkenntnis haben. Dieses falsche Dilemma macht damit eine pauschale Kategorisierung von Menschen und nimmt sich gerade nicht die Mühe zu differenzieren.
Immerhin scheint Martin nach dem Aufwerfen des Dilemmas etwas zu differenzieren, indem er das kleine Wort ‘alles’ einfügt: «Man nimmt die Bibel gerade nicht ernst, wenn man versucht, alles in ihr wörtlich zu nehmen» (S. 48, Kindle)
Die Wirkung der Aussage bleibt meines Erachtens in abgeschwächter Form trotzdem erhalten. Weshalb wir darüber reden müssen. Mir ist diese Aussage wohlbekannt, denn sie ist fester Bestandteil der grundlegenden Überzeugungen der bekannten Online Mediathek Worthaus: »Wer die Bibel wörtlich nimmt, nimmt sie nicht ernst.«
Wer dieser Aussage auf die Spur geht, wird auch auf die Person stossen, welche dieses falsche Dilemma in unserer Zeit wohl popularisiert hat. Es ist der bekannte liberale Theologe und Bischof der Episkopalen Kirche John Shelby Spong (1931–2021). In seinem Buch «Rescuing the Bible from Fundamentalism» arbeitet Spong konsequent mit dem Kontrast zwischen dem ‘wörtlich’ und dem ‘ernst’ nehmen der Bibel. So schreibt er zum Beispiel:
«Das Wörtlich-Nehmen der Bibel stirbt überall, wo die Bibel ernsthaft studiert wird» (Rescuing the Bible, S214, Kindle, eigene Übersetzung)
Wer sich mit Spong befasst wird bald merken, dass ‘die Bibel ernst nehmen’ in seinem Fall bedeutete, die Aussagen der Bibel grundlegend abzulehnen. Spong lehnte den christlichen Theismus ab, also die Lehre das Gott die Welt erschaffen hat. Er lehnte Jesus Christus als Inkarnation Gottes ab. Er lehnte Wunderberichte oder übernatürliche Ereignisse ab, also auch Dinge wie die Jungfrauengeburt oder leiblichen Auferstehung. Er lehnte die biblische Lehre der Sünde ab. Die Idee, dass Jesus am Kreuz für die Sünde der Menschheit gestorben ist, bezeichnete er als barbarische Idee auf der Basis primitiver Ideen über Gott. Und natürlich lehnte er auch die Verbindlichkeit der Bibel in ethischen Fragenstellungen ab.
Eigentlich wollte Spong das Christentum ‘retten’, indem er es von allem befreite, was potentiell zu kritischen Anfragen aus Naturwissenschaft und historischer Wissenschaft hätte führen können. Die Realität war aber, dass seine Diözese Newark (USA) während seiner 21-jährigen Amtszeit mehr als 43 Prozent seiner Mitglieder verlor – ein Wert fast doppelt so hoch wie der durchschnittliche Mitgliederschwund im Rest seines Kirchenverbandes im selben Zeitraum.
Ich persönlich finde, das sind durchaus dubiose Hintergründe. Doch der Satz ist nun mal hier und hat sich zum festen Bestandteil des postevangelikalen Selbstverständnisses gemausert. Er taucht auch immer wieder mal in den sozialen Medien auf. Dort habe ich mal provokant in einem Kommentar nachgefragt:
«“Du sollst nicht töten.” Ernstnehmen, aber bitte nicht wortwörtlich? “Du sollst nicht ehebrechen.” Ernstnehmen, aber bitte nicht wortwörtlich? “Du sollst nicht stehlen.” Ernstnehmen, aber bitte nicht wortwörtlich?»
Damit wollte ich darauf hinweisen, wie wenig hilfreich die Aussage ist, weil sie einen Scheinwiderspruch, ein falsches Dilemma konstruiert. Denn: gewisse Dinge nimmt man eben gerade dann ernst, wenn man sie wörtlich nimmt. Die Entrüstung über meinen Kommentar war gross 😊. Ein werter Theologe stellte umgehend meine Intelligenz in Frage. Kommt uns diese herabsetzende Kategorisierung bekannt vor? Nun – der Theologe hatte zu einem späteren Zeitpunkt wenigstens die Grösse, seinen herablassenden Kommentar zu löschen und sich bei mir zu entschuldigen. Das halte ich ihm zugute.
Tatsache ist: Jeder liest die Bibel erstmal ‘wortwörtlich’. Der liberalste Christ und der grösste Fundamentalist. Ebenso versucht jeder seriöse Ansatz der Bibelauslegung, den ich kenne, eine Bibelstelle vom Kontext her zu verstehen und in der vorhandenen Textgattung, um damit die vom jeweiligen Autoren beabsichtigte Aussage herauszuschälen. Wer die Bibel ernst nehmen will, der kommt nicht darum herum, sie erstmal beim Wort zu nehmen – ihr also ihr ihre beabsichtigten Aussagen zuzugestehen.
Vorfahrensschuld oder Freiheit des Individuums?
Ich möchte noch an einem dritten und letzten Beispiel die Thematik des falschen Dilemmas aufgreifen, und zwar am Beispiel der Vorfahrensschuld, welche Martin Benz im Buch thematisiert (S.75 ff). Das Dilemma, welches Martin hier aufbaut, ist zwischen den 10 Geboten und dem Reden des Propheten Hesekiel.
Die eine Option des Dilemmas präsentiert uns Martin im ersten der Zehn Gebote (keine anderen Götter):
«Wirf dich niemals vor ihnen nieder und verehre sie auf keinen Fall! Denn ich, Jahwe, ich, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott. Wer mich verachtet und beiseitestellt, bei dem verfolge ich die Schuld der Väter noch bis zur dritten und vierten Generation.» (2Mo 20:5 NeÜ)
Diese Formulierung sieht Martin im «krassen Gegensatz» (S.77) zu einem Text im Propheten Hesekiel, aus dem er folgenden Vers als Zusammenfassung festhält:
«Nur wer sündigt, muss sterben. Der Sohn soll nicht die Schuld des Vaters tragen und der Vater nicht die des Sohnes. Die Gerechtigkeit kommt nur dem zugute, der recht vor Gott lebt, und die Schuld lastet nur auf dem Schuldigen.» (Hes 18:20 NeÜ)
Tatsächlich wirkt diese Gegenüberstellung als klarer Widerspruch. Gibt es denn nun so etwas wie eine Übertragung von Schuld über die Grenzen der Generationen hinweg oder nicht? Für Martin ist klar: in den 10 Geboten wird das «Empfinden der antiken Gesellschaft zu dieser Zeit» abgebildet (S70). Man denke immer noch in Familienverbänden, Sippen und Stämmen, wo die individuelle Schuld hinter der kollektiven Schuld zurückstehen musste. Bei Hesekiel verändere sich nun etwas Gravierendes, nämlich dass der Glaube individueller werde und damit auch Schuld und Verantwortung nun beim Einzelnen liege. Die Idee der Sippenhaftung würde damit ein «jähes Ende» finden. Für Martin ist klar, dass hier «eine ungeheure Weiterentwicklung» stattfindet, die «ihresgleichen zur damaligen Zeit sucht». Sein Fazit (S. 72, Kindle):
«Man ist gerade nicht bibeltreu, wenn man weiterhin die Aussage in den Zehn Geboten ernst nimmt, dass Kinder oder Enkel die Schuld, die okkulten Sünden oder die Flüche der Eltern tragen oder verantworten müssten.»
Das Dilemma, welches Martin dem Leser präsentiert, lautet folgendermassen: Möchte er an der ‘primitiven’ Version der Vorfahrensschuld festhalten, wie er es in den 10 Geboten entdeckt? Oder möchte er sich an der fortschrittlichen Weiterentwicklung von Hesekiel orientieren? Für Martin steht fest: Bibeltreue bedeutet den betreffenden Teil der 10 Gebote zu verwerfen zugunsten der fortschrittlichen späteren Version.
Nun kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, das Thema der Vorfahrensschuld in der nötigen Tiefe zu ergründen. Ich möchte lediglich aufzeigen, dass der «krasse Gegensatz» den uns Martin präsentiert, eben auch ein konstruierter Gegensatz ist, welcher dem Text meiner Meinung nach fremd ist. Um das zu sehen reicht es, das Buch Mose aufzuschlagen und da weiterzulesen, wo Martin aufhört zu zitieren:
«Wirf dich niemals vor ihnen nieder und verehre sie auf keinen Fall! Denn ich, Jahwe, ich, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott. Wer mich verachtet und beiseitestellt, bei dem verfolge ich die Schuld der Väter noch bis zur dritten und vierten Generation. Doch wer mich liebt und meine Gebote hält, dem schenke ich meine Gunst auf tausend Generationen hin.» (2Mo 20:5–6 NeÜ)
Das Bibelzitat von Martin hat dem Leser einen entscheidenden Bestandteil des Textes über die Vorfahrensschuld vorenthalten. Dieser im Buch nicht erwähnte Teil macht u.a. deutlich:
- Gottes Segen hat wesentlich mehr Gewicht und Tragweite als die Vorfahrensschuld. Während die Vorfahrensschuld nur wenige Generationen greift, wirkt sich der Segen über eine unvorstellbar längere Zeit aus. Gott scheint demnach viel mehr am Segen gelegen zu sein als am Fluch.
- Ob in den 10 Geboten oder bei Hesekiel: der entscheidende Punkt ist das Einhalten der Gebote. Wer Gottes Gebote hält der bewegt sich im Segenstrom Gottes. Umgekehrt ist mit dem Nichteinhalten der Gebote eine zerstörerische Wirkung auf das Leben der betreffenden Person verbunden. Hier besteht Einigkeit zwischen den Texten.
- Auch der Text der 10 Gebote macht deutlich, dass es möglich ist, sich durch das Einhalten der Gebote von den Konsequenzen der Schuld der Väter zu lösen. Schon zur Zeit der 10 Gebote ist klar: Wenn ein Individuum Gott liebt und seine Gebote hält, begibt sich diese Person in den Segensstrom Gottes hinein – und setzt damit seine Familie und Nachkommen in diesen Bereich des Segens. Dies gilt auch für Menschen, welche von einer Schuld der Väter betroffen sind. Es gibt also auch hier eine Wahlmöglichkeit zwischen Segen oder Fluch.
Diese einfachen Feststellungen werfen ein anderes Bild auf den aus Sicht von Martin scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz. Mindestens zeigen sie, dass man hier differenzierter diskutieren sollte. Das heisst nicht, dass keine offenen Fragen bleiben. Doch diese verbleibende Spannung könnte uns zu weiterem Nachdenken einer gründlichen Auslegeordnung motivieren.
Es scheint mir zum Beispiel eine Tatsache zu sein, dass gewisse Sünden wie zum Beispiel Missbrauch, Alkoholismus und dergleichen sehr wohl eine generationenübergreifende Wirkung haben können. Kinder leiden nur zu oft an den Konsequenzen des Handelns ihrer Eltern. Und immer wieder muss man feststellen, wie Opfer wiederum zu Tätern werden. Das ist aber nicht die ganze Realität. Die Möglichkeit zur Durchbrechung solcher Muster ist genauso real. Dies wird aber bereits im mosaischen Gebot klar. Gott ist kein «sadistischer Gott», sondern seine Gnade und sein Segen gilt allen, welche sich nach ihm ausstrecken und sich nach seinen Ordnungen richten wollen. Dies überstrahlt auch in den 10 Geboten die negative Wirkung der Sünde.
Ich befürchte, dass die durch Martin vollzogene Zuspitzung auf zwei sich scheinbar widersprechende Optionen bei den Lesern einen Verlust des Vertrauens in das erste Gebot bewirken und damit auch die Vertrauenswürdigkeit der 10 Gebote als Ganzes in Frage stellen. Diese werden uns nun als irgendwie unterentwickeltes Regelwerk eines eher primitiven Volk dargelegt, welches seine archaischen Gottesvorstellungen in ihren moralischen Code hinein projiziert hat.
Man muss dabei bedenken, was für eine herausragende Stellung die 10 Gebote im Alten Testament haben. Es ist der Anspruch des biblischen Berichtes, dass die 10 Gebote von Gott selbst dem Volk Israel anvertraut wurden in Form von eingravierten Tafeln (vgl. 2Mo 32:16; 2Mo 34:28). Die Gebotstafeln wurden am heiligsten Ort aufbewahrt, den das Volk Israel kannte: in der Bundeslade (2Mo 25:10–22). Martin aber säht Zweifel, ob denn die Gebote wirklich von Gott gekommen sind, ob sie wirklich kostbar sind, ob wir dem Reden Gottes durch sie wirklich vertrauen können. Martin sagt es eigentlich deutlich: gewisse Aussagen in den zehn Geboten sind minderwertig und sollten nicht mehr ernst genommen werden. Doch die Grundlage für Martins Empfehlung ist eine durch Weglassung wesentlicher Informationen verzerrte Version des ersten Gebotes.
Ich empfehle dem Leser mit einer guten Portion an kritischem Denken die diversen als unüberbrückbar dargestellten Gegensätze zu studieren, welche uns im Buch präsentiert werden. Oft reicht es, zitierte Bibelstellen im Zusammenhang zu lesen, um ein umfangreicheres und damit auch nuanciertes Bild zu bekommen, als die zwei Optionen, die einem vorgesetzt worden sind.
6. Chronologische Fehlschlüsse
«Das ist eine ungeheure Weiterentwicklung, die ihresgleichen zur damaligen Zeit sucht!» (S.76)
Der Umgang von Martin Benz mit der Vorfahrensschuld illustriert einen wichtigen Grundwert der progressiven Theologie, nämlich dass etwas besser sein muss, wenn es neu oder neuer ist. Man geht davon aus, dass eine zeitgemässe Idee eher der Wahrheit entspricht als eine vorhergehende. Auch in geistlichen und moralischen Belangen wird von einer evolutionären Höherentwicklung des Menschen ausgegangen. Martin Benz spricht beispielsweise von den «völlig veralteten und wenig durchdachten Moralvorstellungen», die wir in der Bibel vorfinden. Das Alte ist nicht durchdacht und deshalb nicht wirklich brauchbar. Es braucht scheinbar was Neues, Durchdachtes!
Dasselbe Phänomen zeigt sich, wenn Martin zwischen den Texten der Tora über Vorfahrensschuld und den Einsichten von Hesekiel «eine ungeheure Weiterentwicklung» beobachtet. Doch ist dem wirklich so?
Interessant ist, dass der Prophet Jeremia, welcher zur gleichen Zeit wie Hesekiel lebte, genau die Stelle über die Vorfahrensschuld aus den Zehn Geboten in einem Gebet zitiert und daraufhin von Gott umgehend die Bestätigung erhält, dass die kommende Einnahme der Stadt Jerusalem durch die Babylonier durchaus im Zusammenhang mit einer Schuld über Generationen hinweg stand (vgl. Jer 32:18,31). Ganz spezifisch spricht Gott auch darüber, dass sich das Volk Gottes immer wieder des Götzendienstes und damit eines Bruches des ersten Gebotes schuldig gemacht hat:
«Sie haben sogar im Tempel ihre abscheulichen Götzenbilder aufgestellt und dadurch das Haus geschändet, das mein Eigentum ist.» (Jer 32:34, GNB)
War Jeremia also einfach ein rückständiger und Hesekiel der progressive Zeitgenosse? War das Reden Gottes zu Jeremia nur eine Projektion seiner eigenen Gedanken? Oder war Gott selbst damals noch etwas ‘alte Schule’ und nicht so fortschrittlich wie Hesekiel? Ich denke nicht. Womöglich ist Martin einem chronologischen Fehlschluss erlegen. Die Erzählung im Buch Jeremia macht sehr klar, dass das Gericht Gottes über sein Volk auch eine Folge der wiederholten Missachtung von Geboten war. Und diese Gebote waren in Gottes Augen eben nicht überholt, sondern weiterhin gültig, wahr und gut.
Wenn eine Idee zeitgemäss ist, heisst das noch lange nicht, dass sie eher der Wahrheit entspricht als eine frühere Idee. Die bekannten christlichen Denker G.K. Chesterton und C.S. Lewis prägten in diesem Zusammenhang den Begriff der ‘chronologischen Arroganz’. Chronologie hat keinen Einfluss darauf, ob eine Weltanschauung oder ein Gottesbild oder eine moralische Vorstellung wahr ist oder falsch.
Es gibt wohl auch eine ‘umgekehrte’ chronologische Arroganz. Eine, welche die Vergangenheit verklärt und unkritisch glorifiziert. Auch dies sollte vermieden werden. Natürlich ist technologische Innovation eine Realität. Natürlich kann es auch in einer Gesellschaft ethische Entwicklungen geben, die zu begrüssen sind, die ein echter Fortschritt sind. Gerade Christen haben in den vergangenen Jahrhunderten oft zu solchen Entwicklungen beigetragen (Bsp.: Abschaffung der Sklaverei). Und natürlich sehen wir in der Heiligen Schrift auch eine fortschreitende Offenbarung Gottes, welche im Kommen Jesus ihren Höhepunkt hat. Daran hatten aber selbst die theologisch konservativen Verfasser der Chicago Erklärung keinen Zweifel (vgl. Chicago Erklärung, Kapitel V).
Doch es gilt im Bereich der Philosophie und Moral eben auch immer wieder, dass es ‘nichts Neues unter der Sonne’ gibt. Oder wie es der Prediger treffend formuliert:
»Sieh her«, sagen sie, »da ist etwas Neues!« Unsinn! Es ist schon einmal da gewesen, lange bevor wir geboren wurden.» (Pred 1:10, GNB).
Wir kämen nach meiner Ansicht weiter, wenn wir versuchten, die Hesekiel-Stelle als erhellende Exegese des ersten Gebotes zu verstehen, und nicht als Ablösung desselben.
Ein für mich hilfreiches Bild, um Entwicklungen innerhalb der Bibel zu verstehen, ist das Bild der Foto-Entwicklung im Labor. In meinen Jugendjahren hatte ich über einige Jahre hinweg freien Zugang zu einem Foto-Labor. Etwas vom Faszinierendsten war dabei, bei Rotlicht das langsame Erscheinen des Bildes auf dem belichteten Fotopapier zu beobachten. Im Belichtungsbad nahmen die Bilder erst nur schemenhaft Gestalt an, nur um immer konkreter und detailreicher sichtbar zu werden. War das schemenhafte Bild am Anfang falsch? Auf keinen Fall! Es war ein wesentlicher Bestandteil des zunehmend klar werdenden, und sich entwickelnden Gesamtbildes. Irgendwie so kann ich mir auch die Bibel und ihre Herausbildung über viele Jahrhunderte hinweg vorstellen. Die Dinge werden konkreter, das Gesamtbild und die Details treten zunehmend zutage. Dabei sind die ersten, etwas unklaren Konturen nicht unnütze oder abzulehnen, sondern wesentliche und unersetzliche Grundlagen für das fertige Bild.
7. Poetische oder faktische Wahrheit?
«Wer davon ausgeht, dass die Bibel vor allem faktische Wahrheit enthält, muss sie dauernd gegenüber kritischen Anfragen aus Naturwissenschaft und historischer Wissenschaft verteidigen. Poetische Wahrheit dagegen kann tiefe Weisheiten und Prinzipien in einer Form zum Ausdruck bringen, wie das faktische Wahrheit nie könnte.» (S.74)
«Es kommt nicht so drauf an», scheint die Botschaft von Martin Benz zu sein, wenn es um die Historizität von Ereignissen in der Bibel geht. Geschichte können wir demnach auch als ‘Geschichten’ verstehen. Wichtig sind die geistlichen Einsichten, welche wir diesen Geschichten entnehmen und weniger, ob diese tatsächlich wie in der Bibel beschrieben stattgefunden haben. Damit kann potentiellen Konflikten mit der Naturwissenschaft elegant aus dem Weg gegangen werden. Doch mit seiner Rede von «poetischer Wahrheit» fördert Martin Benz meines Erachtens eine Entwicklung, welche den christlichen Glauben seiner geschichtlichen Grundlage beraubt.
Er suggeriert uns gerade in Bezug auf das Alte Testament, dass darin wiedergegebene Geschichten möglicherweise gar nie stattgefunden haben. Gleichzeitig sieht er aber in der Person Jesus, über die das Neue Testament berichtet, das tiefste Wesen Gottes «glasklar» offenbart.
Da möchte ich fragen: Wie geht Martin Benz damit um, wenn das Neue Testament mit dem folgenden Satz eingeläutet wird (Mt 1:1): «Dies ist das Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.»? Ist es nun glasklare Offenbarung über Jesus, wenn hier Namen wie David oder Abraham auftauchen? Oder baut die Geschichte von Jesus auf fiktiven, ‘poetischen’ Personen? Wenn ja – müsste das nicht einen Schatten auf die ganze Berichterstattung über Jesus werden? Oder sogar Christus selbst irgendwie zu einer fiktiven Person werden lassen, weil seine Vorfahren nur ‘poetisch’ existiert haben?
Wo hört Poesie auf, und wo fängt historische Wahrheit an? Die Antwort auf diese Frage bleibt Martin uns schuldig. Doch nur schon der erste Vers des Neuen Testaments zeigt, dass Altes und Neues Testament grundlegend ineinander greifen, so dass sie nicht einfach mit unterschiedlichen Massstäben beurteilt werden können. Die Geschichte von Jesus kann nicht ‘glasklare’ Offenbarung Gottes sein, wenn sie auf historisch nicht haltbaren Geschichten baut.
An dieser Stelle muss ein nächster Punkt angesprochen werden: Im Zentrum des christlichen Glaubens steht mit dem Kreuzesgeschehen ein historisches Ereignis und nicht eine poetische Wahrheit.
Es geht beim christlichen Glauben eben erstmal nicht einfach um «tiefe Weisheiten und Prinzipien», sondern ganz zentral darum, dass Gott in die menschliche Geschichte eingegriffen hat – nicht poetisch, sondern ganz real.
Doch wie steht es nun um die Poesie? Natürlich finden wir in der Bibel Poesie als Textgattung. Und diese sollten wir auf alle Fälle als solche lesen und nicht als Geschichtsschreibung. Wir finden auch viele andere Textgattungen: Gesetztestexte, Weisheitsliteratur, prophetische Rede, Lieder, Gleichnisse, Apokalyptik und mehr. Es gibt auch Texte, wo die entsprechende Zuordnung der Gattung umstritten ist und diskutiert werden kann.
Aber wir finden eben auch geschichtliche Erzählung in der Bibel, und zwar viel davon. Natürlich können wir in diesen Erzählungen auch andere Deutungsebenen entdecken als nur die reine Geschichtsschreibung. Und natürlich gab es zu Zeiten des Alten Testamentes noch keine ‘wissenschaftliche’ Disziplin der Geschichtsschreibung, wie wir sie heute kennen. Da fand man noch keine Anführungs- und Schlusszeichen bei Zitaten, und keine Fussnoten in den Texten 😊. Das heisst aber nicht, dass die Menschen von damals in einer geschichtslosen Welt aus Fabeln und Mythen gelebt haben. Gerade dass wir bereits im Alten Testament eine so breit gefächerte Palette an Textgattungen und stilistischen Mitteln vorfinden, ist ein Beleg dafür, dass sehr wohl differenziert schriftlich kommuniziert wurde.
Es gilt also, die Texte erstmal möglichst so verstehen zu lernen, wie sie in ihrem historischen Kontext verstanden wurden. Und eine geschichtliche Erzählung wollte auch in alter Zeit primär als solche verstanden werden: Als Wiedergabe von geschehenen Ereignissen, als Erzählung von real durchlebten Biografien, Geschehnissen usw. Selbst in oralen Gesellschaften gab es gemäss Kenneth E. Bayley eine hohe und bewusst kultivierte Fähigkeit, Geschichten an den entscheidenden Punkten inhaltlich verlässlich weiterzuerzählen und dabei gleichzeitig eine Anwendung der Geschichte auf aktuelle Situationen zu vollziehen. Die Menschen wussten, dass man historisch auch Falsches weitergeben kann und entwickelten Mechanismen, um dieser Gefahr entgegenzuwirken. Im Fall der biblischen Geschichtsschreibung will der Text als Wiedergabe der historisch stattgefundenen Geschichte Gottes mit den Menschen verstanden werden.
Klar ist auch, dass Jesus und die Apostel die historischen Berichte des Alten Testaments nicht als ‘virtuelle’ Ereignisse verstanden, als Märchen denen man gewisse Weisheiten entlocken konnte. Vielmehr haben sie diese Geschichten immer wieder auf der Grundlage dessen gedeutet, dass diese auch stattgefunden haben.
Wenn es das Anliegen von Martin ist, dass wir von einer ‘mechanischen’ oder ‘flachen’ Lesart der Bibel dazu kommen, auch ihre schöne, affektive Wahrheit schätzen zu lernen, dann kann ich dem auf jeden Fall etwas abgewinnen. Nur schon die Gattungen zeigen, dass die Bibel alles andere als ‘flach’ ist, sondern sie ist multi-dimensional. Zudem möchte sie den Weg vom Kopf ins Herz finden. Sie darf, ja sie soll uns auch auf der Ebene unserer Gefühle und Sinne ansprechen.
Nur eben: Es sind dann die faktischen Geschichten, die uns berühren und nicht irgendwelche ‘mythologischen Allgemeinwahrheiten’. Und hier empfinde ich, dass Martin mit der einseitigen Ausnivellierung der Schrift als ‘poetische Wahrheit’ eigentlich genau das macht, was er Konservativen vorwirft: er liest die Bibel eindimensional. Dabei riskiert er auch, dass zentralste Ereignisse in der biblischen Erzählung in ihrem historischen Wahrheitsgehalt in Frage gestellt werden und damit auch die Botschaft des Evangeliums.
Wie geht denn Martin damit um, dass im Herzen der christlichen Botschaft ein historisches Ereignis samt Wundergeschehen steht? Gibt es da für ihn auch Probleme mit der «faktischen Wahrheit», wenn die Bibel davon berichtet, wie Jesus Christus gekreuzigt wurde, wie er gestorben ist, begraben wurde, und am dritten Tage wieder auferweckt wurde von den Toten?
Was haben wir von dieser Geschichte des Kreuzes zu halten, wenn die Bibel zwar ein inspiriertes Buch ist, aber faktische Wahrheiten scheinbar keine wesentliche Rolle spielen? Was denkt denn Martin Benz über die Bibel, wenn sie ihm berichtet, wie Jesus am einen Tag als Leichnam in ein Grab gelegt wurde und am andern Tag betastbar und ansprechbar seinen Nachfolgern wieder begegnete, während den Besuchern des Grabes nur gähnende Leere entgegenkam? Ist Jesus denn nur ‘poetisch’ auferstanden? War das Grab nur ‘poetisch’ leer?
Nun, ich möchte natürlich davon ausgehen, dass Martin mit den Christen aller Zeiten an die leibliche Auserstehung glaubt. Denn im Kern unseres Glaubens stehen nun mal – im Gegensatz zu vielen anderen Religionen — ein historisches Ereignis und dessen geistliche Bedeutung. Paulus macht dies überdeutlich:
«Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden.»(1Kor 15:17)
Dass Jesus nicht einfach ‘poetisch’ auferstanden ist, wird auch aus den frühesten christlichen Bekenntnistexten klar, deren Formulierung auf die Zeit unmittelbar nach Christus datiert werden. Paulus gibt ein solches Bekenntnis im Korintherbrief wieder:
«Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.» (1Kor 15: 3–5)
Für die ersten Christen war die Historizität der Ereignisse rund um Tod und Auferstehung derart wichtig, dass sie ihren Weg sehr explizit ins Apostolische Bekenntnis gefunden hat. «Gelitten unter Pontius Pilatus» — bekennen Christen aller Zeiten und Konfessionen im Apostolischen Glaubensbekenntnis. Die ersten Christen setzten das zentrale Ereignis für die Beschreibung ihres Glaubens sehr bewusst einer historischen Überprüfbarkeit aus. Ganz anders als Martin Benz, welcher «kritischen Anfragen aus Naturwissenschaft und historischer Wissenschaft» lieber aus dem Wege gehen will.
Fakten spielen eine fundamentale Rolle im Glauben eines Christen. Denn wir glauben an einen Gott, der sich dem Menschen in Raum und Zeit offenbart hat. Gott ist ein Gott der Geschichte und damit auch ein Gott der historischen Fakten. Der christliche Glaube ist ein begründeter Glaube (1Pe 3:15–16). Damit setzt sich der christliche Glaube der Gefahr aus, durch Beweise disqualifiziert zu werden. Aber nur durch dieses Risiko hat der christliche Glaube auch die Stärke, einen begründeten Glauben zu sein. Sich den kritischen und wissenschaftlichen Fragen zu entziehen ist nicht etwas, das die Bibel als erstrebenswert sieht.
Der kürzlich verstorbene emeritierte Papst Benedikt XVI bringt dieses christliche Selbstverständnis gut auf den Punkt (vgl.: «Skandalöser Realismus? Gott handelt in der Geschichte», S.10, S.44):
«Dem biblischen Glauben ist es aber wesentlich, dass er sich auf ein Handeln Gottes in der Geschichte bezieht; ein der Geschichte beraubter Glaube wäre seiner Grundlagen beraubt.»
«Geschichten sind in der christlichen Predigt nicht bloss Ornament für eine ungeschichtliche Lehre, sondern der Kern selber ist Geschichte»
Martin Benz sät mit seiner Abneigung gegenüber ‘faktischer Wahrheit’ meines Erachtens ein Misstrauen gegenüber Gottes Handeln in der Geschichte und entzieht damit dem Glauben auch die Möglichkeit, ein begründeter Glaube zu sein. Mit seiner Relativierung historischer Berichte fördert er die Verlegung des Glaubens in den Bereich der Subjektivität und der Gefühle. Nochmals der verstorbene Benedikt dazu (vgl. «Jesus von Nazareth», S.64)
«Heute wird die Bibel weithin dem Massstab des sogenannten modernen Weltbildes unterworfen, dessen Grunddogma es ist, dass Gott in der Geschichte gar nicht handeln kann – dass also alles, was Gott betrifft, in den Bereich des Subjektiven zu verlegen sei.»
Die Aussage von Benedikt XVI verdeutlicht auch, was der frühchristliche Bekenntnistext in 1. Korinther 15 bereits an den Tag legt: Zwischen der Bewahrung des Evangeliums und dem Schriftverständnis besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Die Heilige Schrift schützt und stützt das Evangelium, sowohl was dessen historische Wahrheit als auch was dessen theologischen Gehalt betrifft. Wer den Schriftmassstab in Frage stellt, wird in irgendeiner Form auch den Kern des Evangeliums in Frage stellen oder relativieren.
Was sollen wir also von der Bevorzugung von ‘poetischer’ gegenüber ‘faktischer’ Wahrheit halten, welche uns Martin nahelegt? Ich finde sie ist eine Bedrohung für den Kern des Evangeliums.
Nichts Neues unter der Sonne.
Was Martin uns hier vorschlägt ist im Grunde nichts Neues. Es ist vor allem ein wieder Aufkochen von grundlegenden Elementen der ‘guten alten’, liberalen Theologie. Sicherlich kommt diese in unserer Zeit unter einigen neuen Vorzeichen daher. Doch nach meiner Wahrnehmung scheint sich der Zugang zur Bibel von Martin Benz gar nicht so wesentlich zu unterscheiden von dem eines — gut auf seine teils auch konservative Hörerschaft eingestellten — liberalen Pastoren vor 100 Jahren.
Ich habe mich beispielsweise in die Schriften von Harry Emerson Fosdick (1878–1969) eingelesen. Der liberale Publikumsliebling in den USA argumentiert vor 100 Jahren in seinem Buch «The Modern Use of The Bible» (1926) mit einem Vokabular, welches man grad so gut im Jahre 2022 in einem progressiven Buch wie demjenigen von Martin lesen könnte: Wichtig sei die «spirituelle Hoffnung und zeitlose Inspiration», welche das «alte Buch» (die Bibel) vermittle, erörterte Fosdick. Alles andere sei der Veränderung und Neubewertung unterworfen durch «sich ablösende Weltanschauungen». Wundergeschichten der Bibel sollten «umdefiniert» und «reinterpretiert» werden und die Auferstehung in den «symbolischen Kategorien des Orients» verstanden werden.
Der theologische Liberalismus, welcher vor 100 Jahren den Glauben vor drohenden Konflikten mit den neuen Wissenschaften in Sicherheit bringen wollte, indem biblische Berichte und Wundergeschichten auf eine geistlich-spirituelle Deutung ohne historische Grundlage reduziert wurden, zeigt sich uns auch im Jahr 2022 im Buch von Martin Benz. Benz darf die Bibel so lesen, wenn er das möchte. Aus meiner Sicht ist dies nicht ein geistlicher Fortschritt, sondern ein Rückschritt.
Die Haltung der modernen Theologie, etwas könne ‘historisch falsch aber religiös wahr sein’, verglich der bekannte Apologet Francis Schaeffer (1912–1984) im Jahre 1950 mit dem Aufhängen von Wäscheklammern in der Luft:
«Das ist es, was wir meinen, wenn wir davon reden, dass sie eine Wäscheklammer in die Luft hängen. Sie verwerfen die Historizität der Heiligen Schrift und versuchen dennoch, an den religiösen Wahrheiten festzuhalten, die die Bibel lehrt.» (An Examination of the New Modernism, Francis Schaeffer, 1950)
Schaeffers Prognose war: Diese Art von Theologie würde sich vom Liberalismus hin zum Agnostizismus bewegen. Die theologischen Entwicklungen der darauf folgenden 20 Jahre würden ihm recht geben. Meines Erachtens sehen wir in aktuellen Entwicklungen in der evangelikalen Welt so etwas wie eine Wiederholung, wenngleich unter veränderten Vorzeichen. Wo beschlossen wird, man könne Wäsche auch ohne eine Wäscheleine in die Luft hängen, da ist auch bald keine Wäsche mehr vorhanden.
So mancher Leser mag den Ansatz von Benz als neue und aufregende Gedankenwelt empfinden. Da ist aber wenig grundlegend Neues daran. Neu sind diese Ideen höchstens für eine evangelikal geprägte Leserschaft, welche bisher einigermassen abgeschirmt gelebt hat von diesen Konzepten der liberalen Theologie und deren zersetzenden Auswirkungen auf viele Kirchen der westlichen Welt.
8. Der postmodern gezähmte Jesus
«Wenn die Geschichte vom barmherzigen Samariter ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit ist, dann ist die Geschichte der Ehebrecherin ein Plädoyer für Menschlichkeit» (S.131)
Für Martin Benz braucht es «keine weitere Offenbarung Gottes neben Jesus» (S.99). Denn in ihm zeige sich das tiefste Wesen Gottes «glasklar». Was hier gut tönt wirft bei mir dennoch Fragen auf.
Ich frage mich zum Beispiel, was Martins Bevorzugung von ‘poetischer Wahrheit’ gegenüber ‘faktischer Wahrheit’ für sein Portrait von Jesus bedeutet, denn wir kennen Jesus allem voran durch die Berichte in der Bibel.
Wendet man Martins Skepsis gegenüber «faktischer Wahrheit» auf die Person Jesu an, so wird konsequenterweise auch Jesus als historische Figur relativiert. Wenn Martin die alttestamentlichen Beschreibungen von Gott immer wieder als subjektive und zeitbezogene Gottesbilder der damaligen Menschen sieht – wie kann er dann wissen, ob die neutestamentliche Darstellung von Jesus uns nicht genauso ein verzerrtes Portrait des Messias präsentiert?
Wer den Wahrheitsgehalt der Bibel in Frage stellt, kann nicht ohne weiteres bei Jesus von einer ‘glasklaren’ Offenbarung reden. Wer die alttestamentlichen Geschichten einem Prozess selektiver Kritik unterzieht, müsste konsequenterweise bei der neutestamentlichen Berichterstattung über Jesus die gleichen Instrumente einsetzen.
Das hat die Gilde der liberalen Theologen getan – zum Beispiel das sogenannte Jesus Seminar. Diese gegenüber der Zuverlässigkeit der biblischen Schriften kritisch eingestellte Gruppe von ‘Fellows’ (Kollegen) wollte ab 1985 über die Historizität der Wunder und der Reden Jesu befinden. Per Abstimmung befanden sie über den Grad der Verlässlichkeit von Jesu Taten und Aussagen. Am Schluss blieben nach ihnen gerade mal 18 Prozent der Aussagen Jesu und 16 Prozent seiner Taten übrig.
Von einem solchen Vorgehen sehen wir bei Martin Benz nichts. Aber wir sehen anderes. Denn der Jesus, den uns Martin Benz präsentiert, erscheint mir eigenartig gezähmt.
Jesus und die Ehebrecherin
So kann Martin beispielsweise über viele Buchseiten hinweg die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin auslegen (Joh 8), ohne den für die Geschichte elementar wichtigen Schlusssatz «Sündige nicht mehr» zu reflektieren. Die Gnade wird ganz betont, obwohl Jesus in dieser Geschichte gleichzeitig Gnade UND Gebot zur Geltung bringt.
Abwesend scheint mir im Buch von Martin auch Jesus als der Retter und Erlöser. Das fundamentale Geschehen des Kreuzes wird im Buch nirgends wirklich besprochen. In den einleitenden Seiten bekundet Martin Sympathie für Leute, die mit einem «bestimmten Verständnis von Kreuz, Erlösung und Verdammnis» und der Idee des Kreuzesgeschehens als «Genugtuung für einen zornigen Gott» Mühe haben (S.37). An einem anderen Ort erwähnt er das Kreuz nebenbei als Ort des Vollzugs von Feindesliebe (S.93). Das war’s dann aber schon mit dem Kreuz.
Der Kern unseres Glaubens scheint zu fehlen, nämlich dass Jesus der Retter ist, der uns von unseren Sünden erlöst (vgl. Mt 1:22). Stattdessen wird uns Jesus als grosses Vorbild vor Augen gemalt.
Natürlich ist Jesus unser grosses Vorbild. Aber er ist weit mehr als das! Jesus TUT auch etwas, das keiner von uns tun kann und nie jemals wird tun können: Er erlöst uns von unseren Sünden (1Kor 15:3, 1Pet 2:24, Mar 10:45). Jesus ist auch jemand, den niemand von uns sein kann: Er ist unser Herr (Joh 20:28).
Nur schon die Geschichte von der Ehebrecherin würde uns diese Aspekte aufzeigen, denn sie ist eben nicht einfach nur ein Aufruf zur Barmherzigkeit, sondern sie zeigt uns auch Jesus als Person mit göttlicher Autorität als einem, der über die Sünde eines Menschen befinden kann. Davon hört man bei Martin Benz nichts.
Überhaupt: Es bleibt beim Schreiben von Martin unklar, ob nach ihm der Mensch überhaupt eines Retters bedarf. Der Eindruck, der bei mir zurückgeblieben ist, dass dem Menschen lediglich eine Inspiration zu einem guten Leben fehlt und da kein echtes Sündenproblem vorhanden ist, dessen Lösung ein gerechter Gott in seiner Liebe nur selbst bewerkstelligen konnte, indem er sich in seinem Sohn für die Menschen hingab (Joh 3:16; Rö 5:8).
Ich vermisse immer wieder entscheidende Aspekte im Portrait, welches Martin von Jesus zeichnet.
Von den umfangreichen Gerichtsreden und ‘harten’ Worten Jesu liest man im Buch auch nicht wirklich etwas. Wie steht es bei Martin um den Jesus, der zu Gewaltmitteln greift in der Tempelreinigung (Joh 2:15)? Wie steht es um den Jesus, der Bäume und Städte verflucht (Mk 11:21; Mt 11,20:24)? Wie steht es um den Jesus, der von Himmel und Hölle spricht, von einer grossen Scheidung am Ende der Zeit, von ‘Heulen und Zähneklappern’ (Mt 13:49–50)? Wie steht es um den Jesus, der das schreckliche Gericht über die Stadt Sodom zum Modell macht für kommende Gerichte Gottes (Mt 11:20,24)? Wie steht Martin zur biblischen Trinitätslehre, welche Christus von Anbeginn der Zeit ins göttliche Handeln in dieser Welt einbindet – ihn also auch zum Mitwirkenden am göttlichen Gerichtshandeln im Alten Testament macht (z.B. Jud 1:4–5; 1Kor 10:9)? Wie steht Martin zur biblischen Lehre von Jesus Christus als zukünftigem Richter über die Lebenden und die Toten (Apostolischen Glaubensbekenntnis, vgl. 1Pet 4:5). Wie steht Martin zu dem Christus, der im Buch der Offenbarung die falsche Prophetin Isebel mit dem Tod richtet, weil sie die Gläubigen zur Unzucht – also zu sexuellen Sünden – verführt hat (Offb 2:18–23?
Wenn Martin mit den Jesusberichten gleich umgehen würde, wie er mit dem Alten Testament umgeht, dann würde Martin sich angesichts solcher Bibelstellen mit folgenden Fragen aktiv und kritisch beschäftigen: Ist dieser Jesus der historisch reale Jesus oder vielleicht doch nicht? Was mache ich nur mit den ‘schwierigen’ Bibelstellen? Gehören sie zu einem antiken Denken, das heute ungültig ist? War Jesus vielleicht vom mitunter falschen Denken seiner Zeit beeinflusst? Fand dieses falsche Denken möglicherweise Eingang ins Neue Testament?
Doch eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen finden wir im Buch nicht.
Die Ursache für diese vielen Leerstellen im Portrait von Jesus liegt möglicherweise darin: Während Martin bereit ist, vieles im Alten Testament aktiv zu kritisieren, in Frage zu stellen oder zu relativieren, zeigt sich in seinem Portrait von Jesus eine andere Art der Kritik, nämlich eine Kritik durch stille Zensur. Über gewisse Dinge wird nicht mehr gesprochen. Passagen, Geschichten oder Themen werden hier ‘verworfen’, indem man sie ausblendet. Es wird ein ‘ghosting’ von bestimmten Themen, Fragestellungen und Texten vollzogen, welche aber eigentlich wesentlich wären, um ein ganzheitliches Bild von Jesus zu erhalten.
Wir alle stehen in der Gefahr, uns unseren eigenen ‘Jesus’ zu basteln. Und ich denke, dass dies auch oft unbewusst geschieht. Der Mensch sucht sich gerne das, was seine Sicht der Dinge bestätigt und nicht, was diese herausfordert oder in Frage stellt. Da bin ich selbst auf alle Fälle mitbetroffen. Nichtdestotrotz bleibt das Fazit: Martin präsentiert uns einen gezähmten Jesus. Er erlaubt diesem nur noch, in der Rolle als Verkünder und Verkörperer von Barmherzigkeit, Feindesliebe und Mitmenschlichkeit aufzutreten – mehr aber nicht.
Martin Benz stellt ins Zentrum seiner Theologie also einen Jesus der ‘guten Werte’. Martin hat diese Werte entdeckt, und möchte sie uns näher bringen. Aber die konkreten Weisungen Jesu, welche sich manchmal an gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten unserer Zeit reiben, scheinen uns nur noch bedingt etwas zu sagen haben.
Sichtbar wird dies in der Unterlassung, der Ehe-Lehre von Jesus gebührende Beachtung zu geben, wenn er über das Thema Homosexualität nachdenkt. Mit den Lippen wird Jesus zwar als die endgültige und klare Offenbarung Gottes bekannt. In der Praxis wird selektiert und Jesus als ein Lehrer behandelt, der abgesehen von seinen guten Werten und seinem vorbildlichen Verhalten irgendwie auch nur ein Kind seiner Zeit war, auf den wir nur noch bedingt hören möchten.
In der Gedankenwelt von Martin Benz scheinen wir selbst den ‘Kinderschuhen’ Jesu entwachsen zu sein. Wir sind jetzt diejenigen, welche die Dinge ordnen – neu ordnen.
9. Von der Notordnung zur Neuordnung
«Auch wenn es in der Bibel kritische Stellen zu Homosexualität gibt, eröffnet das Prinzip der Neuordnungen die Möglichkeit, mit einem veränderten Willen Gottes zu rechnen…» (S.171)
Ein wichtiges Thema von Martin sind die von ihm in der Bibel entdeckten ‘Neuordnungen’ (S. 159). Dieses Konzept ist nicht wirklich seine Idee, wie das Buch möglicherweise den Eindruck erweckt. Vielmehr ist das Konzept in der Welt der Theologie seit vielen Jahren bekannt unter dem Begriff der ‘Notordnung’ respektive ‘Notverordnung’.
Der deutsche Theologe Helmut Thielicke (1928–1986) hat diese Begrifflichkeit bereits vor Jahrzehnten in seiner Ethik verwendet, als er über das Alterskonkubinat schrieb. In der Missionstheologie wurde mit dieser Begrifflichkeit über Polygamie diskutiert, welche in gewissen Weltregionen gesellschaftlich verankert ist. Und im Jahre 2002 plädierte Valeria Hinck in ihrem Buch ‘Streitfall Liebe’ auf ganz ähnliche Weise für eine «ausserordentliche» Lösung im Falle der Homosexualität.
Tatsächlich hat Martin Benz noch bis vor kurzem selbst mit dem Begriff der ‘Notordnung’ gearbeitet. Doch in seinem Buch wird nun ‘Notordnung’ konsequent durch das völlig anders konnotierte Wort ‘Neuordnung’ ersetzt. Es stellt sich natürlich die Frage: Warum? Martin gibt uns im Buch keine Antwort darauf.
Im Begriff der ‘Notordnung’ steckt stets ein Bezug zu einer vorhandenen schwierigen Realität drin. Wir reden nicht von einem Idealfall, sondern von einer Regulierung, welche wir eigentlich gerne wieder aufheben möchten. Den Begriff der ‘Neuordnung’ hingegen verbinden wir mit bleibender Verbesserung und Fortschritt. Der Gedanke einer temporären, suboptimalen Notlösung ist da gänzlich verschwunden.
Zwar spricht Martin Benz in seinem Buch davon, dass diese ‘Neuordungen’ «etwas Vorläufiges» seien (S.160). Doch diese Formulierung kann genauso auch progressiv gedeutet werden. Mit dem stillen Wortwechsel von der ‘Notordnung’ hin zur ‘Neuordnung’ erweist sich Martin Benz jedenfalls als ein wahrhaftig Progressiver, der um die Kraft von Worten weiss, und diese einsetzt, um die Gedanken seiner Leser in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Die Gedanken der Leser lenken – dies tut er auch in den Beispielen von biblischen Notordnungen, welche er aufführt. Bei seinem Beispiel über die Einführung des Königtums in Israel ist es Martin wichtig zu betonen, dass dieses Königtum nicht nur erlaubt, sondern gar von Gott gesegnet wird. Dies lässt natürlich das Königtum eher als segensreiche Neuordnung erscheinen, denn als eine mit negativen Nebenwirkungen behaftete Notordnung für den Menschen. Doch in der von ihm referenzierten Bibelstelle (1Sam 10:25), lese ich rein gar nichts von einem Segen Gottes. Vielleicht wurde hier aus Versehen eine falsche Bibelstelle zitiert? Ich frage mich zudem: Warum erwähnt Martin in diesem Zusammenhang nicht das äusserst relevante achte Kapitel im ersten Samuel-Buch? Hier fordert Gott den Propheten ausdrücklich auf, das Volk vor den vielen negativen Folgen einer Königsherrschaft zu warnen und macht auch klar, dass der Wunsch nach einem König nichts anderes als eine Rückweisung von Gott selbst darstellt. Notordnungen in der Bibel sind eben nicht glorreiche Neuordnungen. Sie sind auch nicht der nächste Schritt in der Höherentwicklung der Menschheit. Sie sind — so meine Wahrnehmung – immer Ordnungen, welche vom göttlichen Ideal abrücken und deshalb auch nicht als Fortschritt präsentiert werden sollten. Sie sind Ordnungen, die unter Umständen wieder abgeschafft werden sollen – wie zum Beispiel Jesus die Polygamie abschafft in Mat 19.
Ein unberechenbarer Gott
Eines der grössten Probleme in der Idee von Neuordnungen liegt meines Erachtens in den Auswirkungen aufs Gottesbild. Martin schreibt von einem Gott, der in seiner Beziehung zu den Menschen immer wieder bereit ist, «Seinen Willen zu ändern oder anzupassen» (S.171).
In der Anwendung auf das von Martin gewählte Beispiel der Homosexualität zeigt sich die dramatische Wirkung seines Vorschlages auf das Gottesbild.
Martin beginnt mit dem Eingeständnis, dass es «in der Bibel kritische Stellen zu Homosexualität» gibt (S. 159). Diese Formulierung ist aber irreführend. Denn der eigentliche Punkt ist ja, dass es ist der Bibel ausschliesslich kritische Stellen zur Homosexualität gibt und Heterosexualität die einzige von Gott in der Bibel gesegnete Form sexueller Gemeinschaft ist. Dies zieht sich durch vom Alten Testament bis ins Neue hinein. Selbst namhafte liberale Theologen sehen das so. So erklärt William Loader, der aufgrund seines liberalen Bibelverständnisses für die Segnung und Trauung homosexueller Paare ist, über Paulus:
«Es ist unvorstellbar, dass Paulus mit auch nur einer homosexueller Handlung einverstanden gewesen wäre, wenn er – und davon müssen wir ausgehen — die levitischen Verbote von 18,22 und 20,13 verstand wie die Juden seiner Zeit es taten.» (William Loader, The New Testament on Sexuality, 2012, Seite 322)
Das Orientierungspapier der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) über Homosexualität aus dem Jahr 1996 sagt:
«…dass es keine biblischen Aussagen gibt, die Homosexualität in eine positive Beziehung zum Willen Gottes setzen… konstatieren, dass nach diesen Aussagen homosexuelle Praxis dem Willen Gottes widerspricht.» (EKD Orientierungspapier ‘Mit Spannungen leben’)
Man kann es sogar noch zuspitzen: Wo in den Lehren Jesu und der Apostel im Neuen Testament alttestamentliche Reinheitsvorschriften beispielsweise aufgelöst werden (Mk 7, vgl. Hebräerbrief) sehen wir im Neuen Testament in der Sexuallehre eher eine Verschärfung (vgl. Mt 5:27) und im Falle der Homosexualität auf jeden Fall eine klare Bestätigung der alttestamentlichen Haltung.
Martin spricht also von einem Meinungsumschwung Gottes, welcher im Widerspruch zum klaren, eindeutigen und durchgängigen Zeugnis der Heiligen Schrift steht, wo Gott immer wieder Wege sucht, die Menschen zurück auf die Wege zu bringen, die er mit ihnen schon immer haben wollte.
Dabei ist Martin Benz eigentliche derjenige der betont, es dürfe Gott nicht «in mehreren Versionen» geben (S.87,92). Denn eine solche Unberechenbarkeit zerstöre das Vertrauen.
Aber was ist denn das, was uns Martin hier präsentiert, anderes als ein unberechenbarer Gott, der seine beständigen und klaren Anweisungen an den Menschen scheinbar einfach ändern kann? Was wird dieser Gott uns morgen sagen? Wehe dem, der sich heute auf die Worte eines solchen ‘Gottes’ verlässt und sein Leben an ihnen ausrichtet. Er wird Morgen bereits wieder auf der falschen Seite der Geschichte stehen, wenn diesem Gott etwas Neues einfällt.
Wenn Gott früher ausgelebte Homosexualität ablehnte, diese aber heute aufgrund einer Meinungsänderung nun unterstützt und segnet: Wie ‘fair’ ist das gegenüber den vielen gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen aus der Zeit der Bibel? Ein solch ‚progressiver Gott‘ würde Fragen betreffend sein Gerechtigkeit wecken.
10. Wenn der Geist neue Offenbarung schenkt
«Dazu sind Entscheidungen nötig, die über die Bibel hinausgehen – aus dem einfachen Grund, weil jeder Text zwischen zwei Buchdeckeln beschränkt ist» (S. 151)
Es ist eine Tatsache, dass wir heute Fragestellungen begegnen, welche die Menschen in der Vergangenheit nicht hatten. Es ist auch eine Tatsache, dass wir zu diesen Fragestellungen dann auch keine direkten Antworten in der Bibel finden. Das heisst aber nicht, dass uns die Bibel nicht gute Grundlagen auch für die Beurteilung neuer Fragestellungen geben würde.
Hier ist es auf alle Fälle richtig, mit ethischen Prinzipien zu arbeiten, wie Martin es anregt.
Manchmal gibt es in der Bibel eine Bandbreite an Aussagen, die scheinbar in unterschiedliche Richtungen gehen. Dann gibt es Gesprächsstoff. Beim Thema der Homosexualität ist es aber so, dass sich die Bibel einheitlich und deshalb klar äussert. Doch selbst bei diesem Thema, wo der biblische Befund klar ist, möchte Martin ‘über die Bibel hinausgehen’. Der von Martin Benz geprägte Glaubenstypus des «geisterfüllten Progressiven» vermag es scheinbar, mithilfe weniger aus der Bibel herausgefilterter Werte und dem Bewusstsein der ‘Geistesleitung’, sich von einem klaren Zeugnis der Schrift und den konkreten Lehren Jesu zu verabschieden.
Grundlegend für den Progressivismus ist die Idee, dass neue Zeiten auch neue Herausforderungen mit sich bringen, bei deren Lösung uns die biblischen Ordnungen nicht mehr weiterhelfen können. Anstelle der biblischen Ordnungen braucht es dann neuen Geistes-Input.
Nun – ich persönlich sehe in der Bibel eine präzise Analyse der Menschheit auch für unsere Zeit. Ich finde, dass zum Beispiel Römer 1 immer noch top aktuell ist und es bleiben wird. Progressive werden das möglicherweise anders sehen. Sie nehmen einen von ihnen entdeckten ‘Jesus-gemässen Geist’ oder eine von ihnen entdeckte ‘Jesus-gemässe Gesinnung’ zum Anlass, den Boden der Ordnungen zu verlassen, welche Jesus und die biblischen Schriften uns vermitteln.
Ich möchte zu bedenken geben, dass dieser vorgeschlagene Weg der vertrauensvollen Art wiederspricht, mit der Jesus und auch die Apostel auf die biblischen Schriften Bezug genommen haben. Es ist meines Erachtens eine Frage des Vertrauens. Vertrauen wir Jesus wirklich, dass seine Ordnungen und Anweisungen gut sind? Wenn Ja, dann lasst uns auch die ‘Vertrauensfrage’ beachten, welche dieser Jesus seinen Zeitgenossen in Bezug auf die alttestamentlichen Schriften gestellt hat:
«Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?» Joh 5:46–47
Wer Jesus vertraut, der wird auch Mose und «seinen Schriften» vertrauen. Dieses ‘Vertrauensprinzip’ sollte für uns als Nachfolger Jesu leitend sein, sowohl was die alttestamentlichen Offenbarungen, als auch was die Lehren Jesu und der Apostel betrifft (vgl. Eph 2:20).
Wer diesem ‘Vertrauensprinzip’ folgt, der wird nicht in Widerspruch zur bereits vorhandenen Offenbarung gehen wollen, weil er um deren heilsame und lebensfördernde Wirkung weiss. Weil er dem Urheber dieser Offenbarung vertraut. Dies gilt auch im Bereich der Sexualität.
Das biblische Vertrauensprinzip
Ich glaube, dass folgende Haltung uns als Christen kennzeichnen sollte: Gott spricht zu uns durch sein Wort. Dieses Wort ist lebendig und kräftig, auch für unsere Zeit (Heb 4:12). Wenn Gott zu uns spricht, dann kann nur vertrauensvoller Gehorsam unsere Antwort sein.
Natürlich müssen wir die Bibel mit Gottes Hilfe auslegen. Und das bedeutet, auch für das Reden seines Geistes in verschiedene Situationen hinein offen zu sein. Aber der Geist Gottes wird nicht dem von ihm selbst inspirierten Wort widersprechen. Und die Liebe wird das auch nicht tun, ist sie doch in der Bibel untrennbar mit dem Wandel nach Gottes Geboten verbunden:
«Und das ist die Liebe, dass wir wandeln nach seinen Geboten.» (2Joh 1:6a)
Selbst David, der ja gerade im Bereich der Sexualität seine Herausforderungen und Fehltritte hatte, betonte die Orientierung und Hilfe, welche er in den Ordnungen Gottes fand:
«Das Gesetz des HERRN ist vollkommen und erquickt die Seele. Das Zeugnis des HERRN ist gewiss und macht die Unverständigen weise.» (Ps 19:8)
Der Psalmist betont die bleibende Aktualität und Relevanz der Ordnungen Gottes:
«Ich habe mehr Einsicht als alle meine Lehrer; denn über deine Zeugnisse sinne ich nach. Ich bin klüger als die Alten; denn ich halte deine Befehle.» (Ps 119:99–100)
Eine Person wie David hat in alttestamentlichen Geboten göttliche Korrektur gefunden, auch in Fragen der Sexualität (vgl. 2Sam 12:9; Ps 51). Martin Benz aber hält die Bibel für ungeeignet, wenn es um die Formulierung einer christlichen Sexualmoral geht (S. 154). Schade – finde ich. Denn: Worauf sollte denn der Christ seine «christliche Sexualmoral» bauen, wenn nicht auf dem Buch der Christen — dem inspirierten Wort Gottes? Lässt uns Gott denn in seinem Wort im Dunkeln, wenn es um solch elementarte Angelegenheiten des menschlichen Daseins, wie beispielsweise der Sexualität, geht? Bestimmt nicht! Er spricht deutlich genug, dass wir ihn verstehen können. Die Frage ist vielleicht eher, ob wir hören wollen.
Von ungültigen Ordnungen und Gesetzen
Als Grund für seine grundsätzliche Ablehnung der Bibel in Fragen christlicher Sexualmoral führt Martin ein Sammelsurium von gesellschaftlichen Codes und Regulierungen zum Thema Sexualität aus dem Alten Testament auf, die für uns heute wie selbstverständlich keine Gültigkeit mehr haben, weil sie «nicht Sexualität im Sinn» hatten, sondern andere gesellschaftliche Themen wie «materielle Versorgung, Schutz, Sicherheit, Familienehre oder Sippenerhalt.» (S. 147) Das ist für ihn der Anlass, ganz grundsätzlich der Bibel eine Weisungsberechtigung in Fragen der Sexualmoral abzusprechen. Es muss was Neues her!
Dazu drei Hinweise:
Erstens empfinde ich, dass es Martin immer wieder verpasst, Unterscheidungen und Differenzierungen anzuwenden, welche uns die Bibel selbst gibt. Das neutestamentliche Verständnis besagt zum Beispiel, dass die Zeremoniengesetze von Mose rund um das Opfersystem und um die rituelle Reinheit aufgelöst sind, da sie sich in Jesus Christus erfüllt haben und somit nicht länger bindend sind. Auch das volkspezifische Judizialgesetz der Juden hat für uns keine bindende Kraft mehr. Das heisst natürlich nicht, dass wir in diesen nicht-bindenden Regeln nicht auch wertvolle Erkenntnisse für Glauben und Leben entdecken können (Martin tut dies auch sehr schön in seiner Übertragung eines Gesetzes aus 3Mo 23:22 in unsere Zeit). Was aber das moralische Gesetz des Alten Testaments betrifft: Hier macht das Neue Testament deutlich, dass dieses immer noch in Kraft ist. So heisst es zum Beispiel im Hebräer 10:16, dass der Heilige Geist «Gottes Gesetz» in die Herzen der Christen schreibt (somit sind die Gesetze offensichtlich noch in Kraft), obwohl dasselbe biblische Buch uns mitteilt, dass einige dieser mosaischen Gesetze, nämlich das Zeremoniengesetz, nicht länger bindend für uns sind. Hier gibt uns die Bibel selbst wichtige Unterscheidungen vor, welche gemäss dem Theologen Tim Keller seit neutestamentlicher Zeit von allen Zweigen der Kirche vertreten werden.
Zweitens sollten wir feststellen, dass sowohl Jesus als auch Paulus ihre Ehe- und Sexuallehre nicht nur an den mosaischen Geboten und den Regulierungen für das Volk der Juden festmachen, sondern zurückbinden in die Schöpfungserzählung. Ihre Sexualethik ist also nicht einfach Rechtsordnung für ein bestimmtes Volk, sondern sie baut auf der Schöpfungsordnung auf, womit sie einen Zeit- und Volksübergreifenden Charakter bekommt. So baut Paulus seine Argumentation gegen Unzucht und für voreheliche Enthaltsamkeit auf dem Schöpfungsbericht auf (1Mo 2:24 in 1Kor 6:12–20, vgl. 1Kor 7:1–2 und 1Kor 7:8–9). Auch die Erläuterungen zur Ehe bei Jesus und Paulus basieren auf dem Schöpfungsbericht (1Mo 2:24 in Mt 19:3–9, vgl. 1Kor 7:10–16). In seiner Ablehnung von homosexueller Praxis nimmt Paulus nicht nur Bezug auf die entsprechenden Gebote Mose (1Kor 6:9 nimmt in seiner Wortwahl Bezug auf 3Mo 18:22), sondern auch auf Schöpfungsgegebenheiten (Rö 1:26 bezieht sich auf die Naturordnung).
Drittens möchte ich darauf hinweisen, dass das von Martin zurecht geschätzte ‘höchste Gebot’ der Gottes- und Nächstenliebe kein neutestamentliches Gebot ist, sondern alttestamentlichen Ursprung hat (5Mo 6:5; 3Mo 19:18). Wenn Martin diese Gebote der Gottes- und Nächstenliebe so herausstreicht, welche Jesus und Paulus unter anderem deshalb so wichtig sind, weil sie im Alten Testament etabliert werden, warum kann er das nicht auch im Bereich der Sexualethik tun, wo Jesus und Paulus genauso auf das Alte Testament zurückgreifen? Etwas provokanter formuliert: Wenn Martin eine sexualethische Bibelstelle wie 3Mo 18:22 (über Homosexualität) für uns als ungültig erklären will, obwohl ihre Gültigkeit im Neuen Testament bestätigt wird, warum erklärt er dann nicht auch das Liebesgebot ziemlich unmittelbar danach (3Mo 19:18) für ungültig? Es gibt hier einfach eine logische Inkonsistenz.
Interessanterweise ist der Vers unmittelbar vor dem alttestamentlichen Liebesgebot (3Mo 19:18) ein Aufruf, die Geschwister im Glauben zu lieben (wörtlich: nicht zu Hassen im Herzen), indem wir sie zurechtweisen, wenn sie sündigen (3Mo 19:17). Das Gebot der Nächstenliebe ist also unmittelbar verbunden mit dem Gebot zur Zurechtweisung aus Liebe. Das ist möglicherweise der Hintergrund für Jesus gewesen, die Frau die den Ehebruch begangen hat, am Schluss aufzurufen, nicht mehr zu sündigen. Es ist nicht Liebe, Gottes gute Ordnungen über Bord zu werfen oder zu ignorieren. Es ist Liebe, wenn wir einander auf diese hinweisen, weil sie zu unserem Besten dienen.
Die ‘klassische’ christliche Sicht auf diese Fragen von Ordnungen und Gesetzen ist folgende: Ja, es gibt Dinge in der Bibel, die Christen nicht mehr länger einhalten müssen. Wenn aber die Bibel für uns die letzte Autorität hat, dann ist es nur die Bibel selbst, welche uns sagen kann, welche Dinge das sind. Das Verbot homosexueller Praxis ist im Neuen Testament bestätigt (Röm 1, 1Kor 6, 1Tim 1). Die Reinigungsgesetze und Zeremonienvorschriften sind aber nicht länger in Kraft (Mar 7, Hebräerbrief).
Ich möchte an dieser Stelle zusammenfassend einfach zur Vorsicht mahnen. Die Fähigkeit guter Kommunikation ist eine grossartige Gabe. Aber es besteht immer auch die Gefahr, dass wir uns von gewinnender Rhetorik zu schnell überzeugen lassen. Martin Benz hat die geniale Gabe der Kommunikation. In seinem Buch berichtet er sehr offen von persönlicher Desillusionierung, ernsthafter Suche und letztendlich von einem neuen Reden des Geistes. Als Leser gehen wir innerlich mit. Doch nur weil uns auf gekonnte und gewinnende Art etwas Neues präsentiert wird, heisst noch nicht, dass wir das unkritisch annehmen sollten. Die Berufung auf eine Offenbarung des Geistes ist eigentlich gerade in der von Martin kritisierten «Wort-des-Glaubens-Bewegung» ein oft missbräuchlich eingesetztes Instrument. Deshalb: Nur weil sich jemand auf das Reden und das Zeugnis des Heiligen Geistes beruft, heisst das noch nicht, dass wir automatisch damit einverstanden sein sollten!
Die Bibel fordert uns heraus, neue Offenbarungen daraufhin zu prüfen, ob ihre Botschaft mit den Inhalten und Lehren der Schrift übereinstimmen (1. Kor 4:6), welche vom heiligen Geist inspiriert ist. Diese Übereinstimmung ist meines Erachtens bei der von Martin angeregten ‘Neuordnung’ nicht vorhanden. Die Offenbarung, welche Martin uns nahelegt, geht nicht nur über die Schrift hinaus, sondern widerspricht ihr auch ganz grundsätzlich.
11. Dogmatik oder Ethik?
«Viele Gemeinden und Christen sehnen sich händeringend danach, dass jemand den Mut hat, diese ethischen Prinzipien zu formulieren…» (S121)
Der Pionier, der den Mut hat, diese ethischen Prinzipien für diese Gemeinden und Christen zu formulieren, heisst natürlich Martin Benz.
Ich finde, man sollte die von Martin Benz formulierten Parameter zur Beurteilung von ethischen Fragestellungen zunächst mal dankend zur Kenntnis nehmen als Basis für eine Diskussion. Ich selber sehe mich nicht als Ethik-Spezialisten. Meine Fragen möchte ich trotzdem formulieren.
Nichts Neues
Erstens ist das Unterfangen von Martin Benz, ethische Prinzipien zu formulieren, nichts Neues. Das Fach Ethik ist auch an evangelikalen und pietistisch geprägten Bibelschulen seit vielen Jahrzehnten etabliert. Teils umfangreiche Werke wurden geschrieben. Im deutschsprachigen Raum heissen die Autoren Bockmühl, Schirrmacher, Burkhardt, Huntemann, usw.
Ich für mich muss auch sagen: Ich empfinde die Arbeiten dieser Autoren als gründlicher und ausgereifter als das, was uns Martin Benz in den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Seiten präsentiert. Ich weiss ehrlich nicht, wie ich die Selbstinszenierung Martins als mutiger Pionier der Ethik verstehen soll. Vielleicht passen die Inhalte der oben genannten Autoren für Martin nicht? Dann sollte man das aber auch sagen und konkret begründen, weshalb man zu anderen Schlüssen kommt.
Eine christliche Ethik?
Zweitens wird nie wirklich klar, ob Martin uns eine Ethik für die christliche Gemeinde oder eine allgemeine Ethik präsentiert, welche für die gesamte Gesellschaft umsetzbar sein soll. Martin spricht zwar von einer «christlichen Ethik», von einer «christlichen Moral» und von «Werten des Himmels». Er spricht von Gemeinden und Christen, welche sich nach guten ethischen Prinzipien sehnen.
Aber die ethischen Prinzipien, welche er aus der Bibel herausdestilliert, sind doch sehr allgemein formulierte Grundsätze, welche ohne Rückhalt in der Heiligen Schrift zu einer grossen Bandbreite an Ergebnissen führen können – genauso wie ein allgemeines ‘Liebesprinzip’ das vom konkreten Verständnis der Bibel von Liebe abgelöst wird zu einer grossen Bandbreite an Ergebnissen führen kann. Solche Ergebnisse können durchaus den in der Schrift festgehaltenen klaren Anweisungen bezüglich persönlicher Lebensführung widersprechen. Beispiel: Neuordnung betreffend Homosexualität.
Kann sich denn eine christliche Ethik so stark vom Buch der Christen, der Bibel, ablösen? Warum führt die Ethik von Martin Benz in gewissen Fällen zu Ergebnissen, welche dem durchgängigen Zeugnis der Bibel widersprechen? Müsste sich der Christ auf der Grundlage seiner Erlösung und in der Kraft des Heiligen Geistes nicht an einer höheren Ethik orientieren, als man es einem Nichtchristen, der ohne diese göttliche Kraftquelle lebt, zumuten kann?
Die Geschichte des reichen Jünglings (Mk 10, 17ff) beispielsweise zeigt, dass der Mensch sehr wohl moralische Massstäbe aus eigener Kraft erfüllen kann, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Aber ohne die Hilfe Gottes wird er dennoch in entscheidenden Punkten versagen.
Wie weit kann dem Menschen ohne Gott die Einhaltung einer wahrhaft christlichen Ethik zugemutet werden? Oder ist es möglicherweise andersherum: dass wir dem Christen unserer Tage eine wahrhaft christliche Ethik nicht mehr zumuten und ihm lieber eine ‘Light-Version’ präsentieren?
Hier vermisse ich nötige Differenzierungen und Klärung.
Wie ist das Zusammenspiel?
Drittens wünschte ich in den Erörterungen von Martin mehr Informationen darüber, wie seine ethischen Leitsätze denn nun zusammenspielen sollen.
Es wird zum Beispiel wenig darüber gesagt, ob und wie die Leitsätze einer inneren Hierarchie unterworfen sind oder nicht. Ein tendenziell hierarchieloses System kommt dann an seine Grenzen, wenn es zum Konfliktfall kommt. Wenn man dann die Bibel mit ihren klaren Aussagen eher nicht als Autorität anerkennen möchte, bleiben einem immer noch ein paar andere Möglichkeiten. Man kann einen formellen oder informellen ‘Papst’ haben, der entscheidet. Man kann irgendeine Form von Konsenspolitik betreiben, ‘diplomatische’ Lösungen suchen. Man kann auch in ein individualisiertes Laisser-Faire verfallen.
Mein Punkt: auch hier besteht Klärungsbedarf.
Ethik oder Dogmatik?
Viertens äussert Martin im Zusammenhang mit seiner Ethik an verschiedenen Stellen eine gewisse Abneigung für Dogmatik. Das empfinde ich als problematisch. Unter anderem äussert sich Martin unzufrieden, dass sich das Christentum von den Anfängen über die Reformation hinweg und bis vor kurzem «kaum mit Ethik befasst» habe. Ich halte diese Aussage für übertrieben, auch wenn sie möglicherweise eine gewisse Berechtigung hat.
Ethik – also wie wir handeln sollen — scheint Martin wichtiger zu sein als Dogmatik – was wir Glauben sollen.
Ich stimme Martin zu, dass Ethik wichtig ist. Aber ich empfinde es als falsch, Dogmatik und Ethik als sich konkurrenzierende Disziplinen zu sehen, welche einander quasi im Wege stehen. Das ist aber der Eindruck, der zumindest mir beim Lesen der Ethik-Kapitel im Buch entstanden ist.
In einer Grafik im Buch (S.114) werden die beiden Disziplinen bezugslos nebeneinander dargestellt:
Dieser Darstellung fehlt meines Erachtens etwas Entscheidendes, nämlich eine Verbindung zwischen den beiden Bereichen. Wir sollten Dogmatik und Ethik als einander zugeordnet sehen.
Schon das Studium der Bibel müsste uns klarmachen, dass Dogmatik und Ethik untrennbar miteinander verbunden sind. Folgende Bibelstellen zeigen beispielhaft, dass die Bibel ethische Anweisungen gibt aufgrund einer dogmatischen Aussage über Gott: Eph 5:1, 1Pe 1:15–16, Kol 3:3–10, Rom 15:7, Eph 4:20–32. Die Gebote des Dekalogs wurzeln in der Selbstoffenbarung Gottes (2Mo 20:2). Die ethischen Anweisungen im Römerbrief (Kap 12–15) bauen auf der dogmatischen Grundlage der Kapitel 1–11 auf. Auch in diversen weiteren Briefen des neuen Testaments finden wir die gleiche Struktur. Ethik steht nicht neben der Dogmatik, sondern ist in ihr gegründet. Deshalb können grosse ethische Veränderungen ein Indikator dafür sein, dass sich im Hintergrund auch eine andere Theologie eingenistet hat. Es ist nicht gut, dass wir das eine gegen das andere ausspielen. Es ist auch nicht gut, dass wir beide gleichsam voneinander entkoppelt präsentieren, wie die Graphik von Benz es tut.
12. Wort-des-Glaubens-Bewegung
«Aber als ich nach zehn Jahren Bilanz zog, musste ich ernüchtert feststellen, dass ich persönlich noch nie eine nachweisbare Heilung oder ein Wunder erlebt habe.» (S.24)
Es lässt sich nicht bestreiten, dass es im weiten Feld der evangelikal geprägten Christenheit in den vergangenen Jahrzehnten auch problematische Entwicklungen gegeben hat. Martin Benz nennt eine davon: die «Wort-des-Glaubens-Bewegung».
Vor Jahren durfte ich persönlich nach Gebet am eigenen Leib eine echte, spontane Heilung erleben. Doch ich finde die Vorstellung der Wort-des-Glaubens-Bewegung problematisch, dass Gesetze, welche angeblich die Kraft des Glaubens regieren, unabhängig von Gottes übergeordneten Willen funktionieren. Der Glaube droht damit zu einer Kraft der Selbstverwirklichung zu werden. Der Mensch wird Gott, und Gott wird Mittel zum Zweck.
Ich kann mir vorstellen, dass ich da und dort durchaus mit den Diagnosen von Martin Benz über diverse Strömungen und Missstände in der evangelikalen Welt einig wäre, wenn wir diese miteinander besprechen würden. Nur bin ich bezüglich der von ihm vorgeschlagenen ‘Therapien’ skeptisch.
Für Martin scheint die Desillusionierung und Enttäuschung in der Wort-des-Glaubens-Bewegung mit ein Grund gewesen zu sein, dass er einen Glaubensweg gewählt hat, der meines Erachtens von einer eher pauschalen Ablehnung von ihm empfundener «konservativ-evangelikalen oder fundamentalistischen» Denkmuster lebt. Ich finde: Hier hätte für Martin auch einen anderen Weg gegeben. Denn da wären durchaus die theologisch konservativen Stimmen vorhanden, welche ihm nützliche Hinweise für einen kritischen Umgang mit dieser Bewegung hätten geben können. Pfarrer Jürgen Neidhart zum Beispiel gibt einer solchen Stimme Ausdruck. Er nennt in einem Artikel über die Unterscheidung der Geister ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung von theologischen Lehren und geistlichen Strömungen:
«Wird einseitig ein christliches Leben voller Triumph, Sieg und Wohlergehen abgebildet – oder wird der christliche Weg durch Leiden zur Herrlichkeit aufgezeichnet (Theologie des Kreuzes)?»
Dieses Kriterium hätte zu Fragezeichen gegenüber der ‘Wort des Glaubens’ Bewegung führen müssen. Ein durchaus theologisch ‘konservatives’ Kriterium. Hier wäre guter Rat gewesen!
Martin mag die Lehre der Wort-des-Glaubens-Bewegung richtigerweise ablehnen, weil sie den Segen Gottes stark mit materiellem Wohlstand und persönlichem Erfolg verbindet. Gleichzeitig bleibt bei mir der Eindruck zurück, dass Martin trotz dieser Ablehnung an einem der wichtigen Merkmale festgehalten hat. Es geht um die Angewohnheit der «Wort-des-Glaubens-Bewegung», dank persönlichen ‘göttlichen’ Offenbarungen genau zu wissen, was der ‘Herr’ will, und diese Offenbarung auch mal höher zu gewichten als die Schriftoffenbarung – oder die Schriftoffenbarung durch unsachgemässe Auslegung passend zu machen.
Vielleicht sollte sich Martin auch von solchen Elementen dieser Bewegung noch distanzieren?
Fazit
Martin Benz präsentiert sich in seinem Buch als Umzugshelfer. Er möchte uns helfen, einen für uns passenden Glauben zu finden. Er möchte die Menschen in die «Weite», in die «Freiheit» begleiten.
Ich begrüsse das grundsätzliche Anliegen von Martin, Menschen auf ihrem Weg zu begleiten. Auch ich wünsche mir einen Glauben, der keine Angst vor der Zukunft hat, Gott entdecken möchte und zu einem aufblühenden Leben führt (vgl. Einleitungstext zum Buch), auch in veränderten Lebenswelten der modernen Zeit.
Ich möchte am Schluss dieser langen Reflexion seines Buches darauf hinweisen, dass Martin weit mehr als ein geistlicher Umzugshelfer ist. Er möchte uns auch eine ganz bestimmte neue Wohnung vermieten. Er weiss genau, welche Wohnungen aus seiner Sicht untauglich sind, und in was für eine Wohnung wir einziehen sollten.
Die Reisebegleiter, welche Martin zum Schluss seines Buches den Lesern empfiehlt, sind allesamt in der Nische des Postevangelikalismus zu finden. Rob Bell? Thorsten Dietz? Brian McLaren? Brian Zahnd? Diese Figuren mögen ihre inhaltlichen Nuancen haben. Aber letztendlich führen sie alle ins gleiche geistliche Quartier. Das Buch von Martin Benz liest sich an vielen Stellen denn auch wie ein Sammelsurium der Gedanken dieser Autoren.
Dabei gäbe es durchaus andere mögliche Routen und Destinationen für einen geistlichen Umzug. Diese Optionen gibt es in der Welt von Martin aber scheinbar nicht.
Da gibt es zum Beispiel die geistliche Reise des jungen Theologiestudenten Ian Harber, welcher auf seiner Reise ins progressive Christentum nur «mehr von der gleichen, oberflächlichen Art» fand, welche ihn in seiner bisherigen Gemeinde abgestossen hatte. Hier geht es zu seiner Geschichte.
Oder da gibt es die Geschichte des bekannten Theologen Thomas C. Oden (1931–2016), der seinen Platz in der theologischen Avantgarde der 50er und 60er Jahre geräumt hat, weil er im historischen, klassischen Christentum so viel mehr fand als in der liberalen Theologie seiner Tage. Hier geht es zu seiner bewegenden Biografie.
Es gibt auch meine Geschichte. Denn auch mein Glaube ist in Bewegung. Und das Buch von Martin Benz war für mich eine willkommene Möglichkeit, mich mit meinen eigenen Glaubensüberzeugungen auseinander zu setzen.
Ich hoffe sehr, dass mein umfangreicher Text eine Ressource sein kann für Leser, welche sich vertieft auseinandersetzen möchten mit dem Inhalt des Buches von Martin. Auch ich bin keineswegs vor Irrtümern gefeit. Es ist deshalb gut, wenn auch mein Schreiben geprüft wird. Mir ist auch bewusst, dass ich in meiner Reflexion einen kritischen Ton angeschlagen habe. Das mag man wiederum kritisieren. Ich hoffe trotzdem, der Leser konnte meinem Schreiben entnehmen, dass es mir um die Sache geht. Denn Martin und auch seiner Familie wünsche ich von Herzen alles Gute.
Wohin führt die progressive christliche Reise? Vor rund 4 Jahren habe ich Martin diese Frage gestellt, erst im privaten Rahmen, dann in meinem vielgelesenen Artikel über den Künstler Michael Gungor. Ich respektiere den Wunsch von Martin, Menschen mittels ‘progressiver Glaubensreise’ in die «Weite», in die «Freiheit» zu führen. Mir ist in den vergangenen Jahren in der progressiven Welt, wie sie sich mir erschlossen hat, aber kein erhöhtes Mass an «Weite» und «Freiheit» begegnet. Eher bin ich einer Bewegung von Menschen begegnet, welche doch auch sehr stark von Abgrenzung lebt und genauso ihre moralischen Codes pflegt, welche sie oft in gesetzlicher Weise vertritt. Darauf einzugehen, wäre aber nochmals ein weiterer Artikel.
Ich stelle fest: Ich werde nicht in die Wohnung einziehen, die mir in diesem Buch schmackhaft gemacht wird. Sie ist weder so neu wie sie den Anschein macht, noch weist sie die Bausubstanz auf, welche ich mir für eine langfristige Wohnlösung wünsche. Mit frischer Farbe lässt sich so mancher Mangel überdecken, mit gutem Marketing manch ein Interessent überzeugen, eine Miete anzutreten, welche er später bereuen wird.
Ich stelle auch fest: Ich bin ganz neu froh und dankbar in einem zeitlosen ‘Klassiker’ wohnen zu dürfen. Dieser ist für die Ewigkeit gebaut und hat so machen Sturm schon überstanden. Kein Wunder, hat er doch als Fundament die Apostel (NT) und die Propheten (AT) und als Eckstein Jesus Christus (Eph 2:20). Zugegeben: Ihre Schönheit entdeckt man vielleicht erst auf den zweiten Blick. So mancher wollte an diesem Haus schon die Abrissbirne anlegen. Doch dieser Klassiker wird noch stehen, wenn morgen die Trends von heute abgelöst worden sind. Die Erschütterungen der Zeit können diesem Klassiker nichts anhaben. Er ist ein Universum für sich. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich dieses Haus gefunden habe, oder dieses Haus mich. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich dieses Haus gestalte, oder dieses Haus mich. Es ist das Haus des Glaubens, welches «ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist» (Jud 3). Das Schöne: Ich muss hier nicht Mieter sein, sondern ich darf Miterbe sein. Das Haus gehört meinem Vater. Es gibt hier noch so viele Räume zu entdecken. Es hat Platz. Es hat Aussicht. Auf keinen Fall möchte ich hier ausziehen. Dies ist mein Zuhause.
Ressourcen
Hier noch einige interessante Ressourcen zu diversen in meinem Text behandelten Themen:
Kritisiert Jesus das Alte Testament?
Artikel von Benjamin Kilchör, Professor für Altes Testament an der STH Basel. Kilchör geht der Frage nach vor dem Hintergrund der Argumentation von Martin Benz in seinem Buch «Wenn der Glaube nicht mehr passt».
Wahre Geschichte? — Zur Schicksalsfrage der Theologie.
Video mit Dr. Fabian Graßl
Wie unterscheidet sich der historische Wahrheitsanspruch der Bibel von unserem Wahrheitsverständnis?
Video mit Prof. Dr. Armin Baum
Wahrer Gott? — Jesu Selbstverständnis als ultimative Herausforderung.
Video mit Dr. Fabian Graßl
Der werfe den ersten Stein — Ethik zwischen Gesetz und Gnade.
Video mit Prof. Dr. Dr. Roland Werner
Können wir den Evangelien vertrauen?
Video mit Dr. Peter J. Williams:
Sexuelle Orientierung in der Antike und im Neuen Testament.
Video mit Prof. Dr. Armin Baum:
Vom biblischen Text zum ethischen Urteil.
Video mit Prof. Dr. Christoph Raedel:
Die Bibel wörtlich nehmen?
Video mit Dr. Guido Baltes
Artikel auf “Mind of Matt”:
Martin Benz und die Bibel #1: Wider die Bibeltreuen
Martin Benz und die Bibel #2: Was ist Wahrheit?
Benz und Bibel 3#a: Trendsetter progressive Hermeneutik. Die Bibel progressiv lesen
Benz und Bibel 3#b: Trendsetter progressive Hermeneutik. Die Bibel progressiv anwenden
Weitere Artikel auf Daniel Option:
War das Alte Testament Jesus peinlich?
Wie kann man nur an einen zornigen Gott glauben? (1/2)
Wie kann man nur an einen zornigen Gott glauben? (2/2)
Geisterunterscheidung — eine vergessene Tugend
Ankern — Eine Verteidigung der biblischen Fundamente in postmodernen Gewässern.
Buch von Alisa Childers.
Buch von Markus Till
3 Monate nach Publikation meiner Buchbesprechung hat Martin Benz in einem Livenet-Talk sich zur Diskussion um sein Buch geäussert: https://www.youtube.com/watch?v=tp2Uv2Ktf24&t=34s
Zum Gespräch gebe ich gerne folgende Rückmeldung:
Nachdem ich vor 3 Monaten mit meiner umfangreichen Buchbesprechung die Diskussion rund um das aktuelle Buch von Martin Benz angestossen habe, habe ich mir das Livenet-Gespräch mit Interesse angeschaut. Im Interview ist mein Name gefallen und es wurde über meine Buchbesprechung gesprochen. Deshalb erlaube ich mir ein Feedback.
Wie ich schon in meinem Artikel betont habe, wünsche ich Martin und auch seiner Familie von Herzen alles Gute. Es ging mir stets nur um die Sachfragen und um meinen persönlichen Versuch, die Theologie, welche Martin in seinem Buch entwickelt, besser zu verstehen.
Ich habe mich gefreut, dass Martin nun im Livenet-Gespräch zumindest in Ansätzen auf einige der Anfragen an sein Buch eingegangen ist. Der Fokus bleibt dennoch bei seiner zugegebenermassen gewinnenden Rhetorik und dem Beschwören einer leidenschaftlichen Begeisterung für Jesus, welche er nach seinen eigenen Worten entfachen will. Viele Sachfragen bleiben unbeantwortet.
Ich finde es schade, dass Martin seine rhetorischen Fähigkeiten auch dazu einsetzt, Menschen wie mich, die konkrete Anfragen an seine Theologie äussern, Haltungen und Glaubensüberzeugungen zuzuschreiben, welche wir (oder wenigstens ich) gar nicht haben. Ehe man sich’s versieht, ist man plötzlich irgendwie derjenige geworden, der scheinbar unbarmherzig ist oder jemand, der respektlos die authentischen Glaubenserfahrungen anderer Christen und möglicherweise gar ihr Heil in Frage stellt. In meiner Buchbesprechung habe ich in keiner Weise solche Dinge geäussert.
Es wäre schön, wenn Benz zeigen würde, wie aus meinem Text solche Aussagen begründet abgeleitet werden könnten. Der Bezug zu persönlichen Gesprächen oder einem Eindruck, wie es allgemein um die christliche Szene steht, ist heikel in einem solchen Interview. Man sollte sich auf öffentlich zugängliche Unterlagen beziehen, wie z.B. der Text meines Artikel’s. Es ist zu leicht, andere zu framen, wenn man auf sich nicht auf konkrete Aussagen bezieht, sondern mit Allgemeinplätzen arbeitet. Ich kann die Hörer dieses Video nur ermutigen, meinen Text auf Daniel Option zu lesen und selbst zu prüfen, was meine Haltung und meine Argumente sind:
Martin hat verschiedentlich angetönt, dass er seine Lehr- und Beratungstätigkeiten gerne ausbauen möchte. Da ist es nur richtig, wenn Leiter, (Frei-) Kirchen, Verbände und Organisationen, welche mit der progressiven Theologie von Martin beglückt werden sollen, etwas genauer hinschauen, was er ihnen lehren will. Das Gespräch und die Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene zu behalten wäre wichtig und durchaus problemlos möglich.
Ich möchte nicht die Authentizität der Glaubenserfahrung von Martin oder seine guten Absichten anzweifeln. Ich möchte nicht in Frage stellen, dass Martin im Glauben resignierten oder enttäuschten Menschen helfen will. Dem ist bestimmt so. Es ist aber auch möglich, dass man sehr authentisch und mit guten Absichten in die Irre geht. Das zeigt ein Blick in die Geschichte nur zu gut. Darum möchte ich für mich genauer hinschauen.
Die Theologie, welche uns Martin schmackhaft macht, ist von der Stossrichtung her im Endeffekt ein Neuaufguss liberaler Theologie unter neuen Vorzeichen. Das sehe nicht nur ich so, sondern das wird auch aus der Rezension von Prof. Benjamin Kilchör auf Livenet klar. Diese Theologie mag attraktiv und vielversprechend daherkommen (das tat sie auch damals bei ihrer Entstehung). Doch neu sind diese Ideen allerhöchstens für eine evangelikal geprägte Leserschaft, welche bisher einigermassen abgeschirmt gelebt hat von diesen Konzepten der liberalen Theologie. Diese Theologie kann auf eine Wirkungsgeschichte von über 200 Jahre zurückblicken – es ist leider eine Geschichte von sich leerenden Kirchen und sich in Luft auflösendem Glauben. Da muss man sich schon überlegen, ob man sich auf diesen Weg begeben will. Marin Benz möchte mit seiner progressiven Theologie die Kirchen wieder füllen will. Da habe ich meine begründeten Zweifel.
In der Schweiz hat die liberale Theologie im 19. Jahrhunderts im Rahmen des „Apostolikumsstreits“ zur Gründung vieler Freikirchen geführt durch bekenntnistreue Pfarrer und Gläubige, welche den Irrweg der liberalen Theologie erkannten. Nun klopft diese Theologie erneut laut an den Türen genau dieser Kirchen und Gemeinschaften, welche damals in Treue zu Gott und seinem Wort entstanden sind.
Martin beteuert nun, dass er nach wie vor jeden Satz aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis unterschreiben kann. Das ist grundsätzlich erfreulich. Die Frage ist natürlich, was er damit meint. Viele liberale Theologen unserer Tage sprechen das Apostolikum gerne mit und glauben dennoch nur die Hälfte, was darin steht. Oder sie sprechen es als Akt eines liturgischen Ereignisses. Sie sehen das Sprechen des Apostolikum’s als bedeutungsvoll nicht in Bezug auf die darin transportierten Inhalte, sondern als liturgischer Akt der Gemeinde. Diese Dinge möchte ich Martin nicht unterstellen.
Ich sehe aber eine Problematik im Wahrheitsverständnis, welches er im Gespräch wiederholt betont. Benz sagt mehrfach, dass er lediglich seine persönliche (bescheidene) Meinung sagt, und dass diese Stückwerk sei. Deshalb sei er demütig in Sachen der Erkenntnis. Damit gewinnt er bestimmt die Zustimmung vieler Zuhörer. Doch im gleichen Atemzug macht er eine umfassende und absolut daherkommende Wahrheitsbehauptung die scheinbar für alle im Diskurs gilt und meiner Meinung nach seiner soeben getroffene Aussage widerspricht (Zeitmarker 42:00):
«wenn jemand den Wahrheitsanspruch für sich reklamiert, dann kommt das Gift rein. Weil man dann automatisch wertet, abwertet und verschiedene Schubladen aufmacht von ‘richtig’ und ‘falsch’, ‘schwarz’ und ‘weiss’, von ‘biblisch’ und ‘unbiblisch’, von ‘errettet’ und ‘verloren’».
Bestimmt ist das, was Benz hier sagt, manchmal korrekt. Aber ist es automatisch (sein Wort) immer so? Und macht Benz mit dieser Aussage nicht genau das, was er mit dieser Aussage ablehnt? Er reklamiert mit dieser Aussage einen allgemeinen Wahrheitsanspruch für sich in dem Sinne, dass er glaubt, etwas Wahres ausgesagt zu haben, das angeblich für alle gilt. Ist diese Aussage von Benz überhaupt in der Bibel begründet? Vielleicht in der Bibelstelle, die von ‘Stückwerk’ spricht in Bezug auf Erkenntnis? Doch meint die Bibel dort und insgesamt das, was uns Benz hier über Wahrheit sagt? Wie steht es dann um die Stellen, wo die Bibel durchaus ausschliessend redet in Bezug auf theologische Aussagen, die nicht stimmen? Ich habe hier bei der Erkenntnislehre von Benz einige grössere Fragen, die inhaltlich diskutiert werden sollten.
Martin wirft die Frage auf, ob das Apostolikum denn wirklich unsere gemeinsame Basis sein kann oder ob es nicht eine scheinheilige Diskussion sei, bei der man sich hinter dem Glaubensbekenntnis verstecke, während man gleichzeitig trennende Themen ins Feld zu führe, die im Glaubensbekenntnis nicht einmal erwähnt sind. Ich muss ehrlich sagen, dass dies eine gute und berechtigte Frage ist. In anderen historischen Bekenntnissen – nicht zuletzt in solchen, die im NT zu finden sind – sind aber Aussagen enthalten, die Benz im Apostolikum vermisst, auch sexualethische Aussagen (z.B. im Resultat des ersten apostolischen Konzil in Apostelgeschichte 15,20, im zweiten Helvetischen Bekenntnis, Westminster Bekenntnis, Schmalkadischen Artikel). Ebenfalls finden wir im vermutlich ältesten frühchristlichen Bekenntnis (1Kor 15:3–5) eine klare Ansage zum Schriftverständnis.
In diesem Zusammenhang tritt im Interview einmal mehr eine eigenartige Beziehungslosigkeit zwischen Dogmatik und Ethik zutage, welche ich im Buch von Martin festgestellt habe und in meiner Buchbesprechung erwähne. Dabei wäre genau die enge Verzahnung des Glaubensbekenntnisses mit den gelebten Werten der ersten Christen eine wichtige Beobachtung. Denn das Apostolische Bekenntnis spannt sozusagen den theologischen Hintergrund auf, vor dem sich die ethische DNA der ersten Christen entwickelt hat. Die Überzeugung bezüglich Gott als Vater und Schöpfer von Himmel und Erde, zusammen mit dem Glauben an die Auferstehung des Leibes, bilden den Hintergrund für das positive Menschenbild und Körperverständnis der ersten Christen. Das Verständnis der kultur- und Geschlechter-übergreifenden gleichen Wertes aller Menschen, der leidenschaftliche Einsatz für den Schutz des Lebens, die soziale Zuwendung zu den Armen und Kranken und auch die revolutionäre Sexualethik der ersten Christen bauen auf den Überzeugungen, die das Apostolikum uns mit möglichst wenigen Worten vor Augen malt: dass der Mensch als von Gott geschaffenes Wesen wertvoll ist und sich dieser Wert angesichts der leiblichen Auferstehung auch auf den Körper bezieht. In ihrem Erlöser Jesus, der unter Pontius Pilatus gelitten hat, finden sie die Kraft für ihre eigene gewaltlose Feindesliebe. Wem solche Werte ein Anliegen sind, der tut gut daran, dem Nährboden Sorge zu tragen, auf denen sie gewachsen sind. Es sind Glaubenssätze, wie sie uns im Apostolikum wiedergegeben sind und welche untrennbar mit einer revolutionären Ethik verbunden sind, die auch für unsere Zeit von zentraler Bedeutung ist. Wer die Glaubenssätze als unwichtig weglegt, der wird über kurz oder lang sich auch die Sinnhaftigkeit bestimmter ethischer Prinzipien nicht mehr sehen. Genau dies geschieht bei Martin Benz im Bereich der Sexualethik. Da gäbe es noch mehr zu diesem Thema zu sagen. Ich belasse es mal dabei.
Ebenfalls erstaunt haben mich die Aussagen Martins über das Kreuzesgeschehen. Martin Benz ereifert sich, dass man ihm unterstelle, er glaube nicht mehr ans Kreuz. Das sei eine infame Unterstellung. Nun – von mir stammt diese Aussage nicht. Vielleicht kann Martin uns aufklären, wer diese Aussage gemacht hat… Was ich in meinem Text aber sehr wohl festgestellt habe ist, dass Jesus als Retter und Erlöser im Buch von Martin abwesend scheint, dass das fundamentale Geschehen des Kreuzes im Buch nirgends wirklich besprochen wird. Dieser Kern des Glaubens scheint in seinem Buch zu fehlen.
Nun, Martin stellt im Interview klar, dass er an das Kreuz glaubt, und zwar «viel breiter als viele Evangelikale, weil das Neue Testament verschiedene Deutungsmöglichkeiten liefert.» Trotzdem scheint er sichtlich darum bemüht zu sein, den Hörern klarzumachen, wie unwichtig das Kreuz doch in der Verkündigung der Apostel war. Die Art wie er das macht, ist zu zählen, wie oft das Wort ‘Kreuz’ vorkommt. Ich habe in der theologischen Ausbildung noch gelernt, dass Worte alleine nicht ein zuverlässiger Indikator sind für das Vorhandensein einer theologischen Wahrheit. Man muss auch schauen, worauf sich ein Wort (hier das Wort ‘Kreuz’) bezieht und dann schauen, wo im Text dies zu finden ist, ohne dass das Wort selbst als Referenz dafür benutzt wird. Benz erwähnt im Interview zurecht, dass es nicht nur um das Kreuz geht, sondern um den Gekreuzigten. Der Gekreuzigte kommt aber in der Apostelgeschichte häufig vor in (ich meine in allen oder nahezu allen Predigten der Apostel z.B Pfingstpredigt Apg 2:23; 2:36; 2:38 / Tempelrede: Apg 4:10 / Cornelius: Apg 10:39 usw.).
Benz wirft Menschen im evangelikalen Umfeld vor, ein ‘magisches Kreuzesverständnis’ zu haben in dem nicht der Gekreuzigte, sondern das Kreuz die Erlösung bewirke. Das ist meines Erachtens eine haltlose Unterstellung. Evangelikale haben ein durchaus breites Kreuzesverständnis, denn sie bejahen im Gegensatz zu Martin, dass Jesus am Kreuz uns nicht nur etwas ZEIGT, sondern auch etwas für uns TUT. Martin hingegen misst — gemäss seiner eigenen Erläuterung zu einem aktuellen Movecast — dem Geschehen am Kreuz keine erlösende oder versöhnende Wirkung bei, sondern sieht im Kreuzesgeschehen nur Sichtbarmachung des Wesens Gottes. Ich lasse mich gerne korrigieren, wenn ich das, was er schwarz auf weiss geschrieben hat, hier falsch verstanden habe. Mir scheint aber, dass er mit dieser Aussage gefährlich nahe an die Aussage kommt, das Kreuz wäre nicht wirklich nötig gewesen – es hätte auch anders gehen können. Damit scheint er tatsächlich einen wesentlichen Teil des christlichen Bekenntniskerns abzulehnen, nämlich das Jesus FÜR unsere Sünden gestorben ist (1Kor 15:3, Vgl. Mk 10:45). Damit beraubt er das Kreuzesgeschehen des für den Menschen entscheidenden Elementes, nämlich dass so Erlösung GESCHAFFEN wurde für uns, und nicht einfach nur FESTGESTELLT (Vgl Heb 9:26–28). Ich glaube, dass es Martin ist, der ein reduktionistisches Verständnis des Kreuzes zu haben scheint, und zwar ein entscheidendes. Wie gesagt: Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.
Nun belasse es vorerst bei diesen Zeilen. Ich finde: Während jeder Mensch heute frei seinen Glaubensweg gestalten kann, so sind doch Leiter von Gemeinschaften und Organisationen angehalten, das, was auf dem ‘Markt der Theologien’ angepriesen wird, zu prüfen und mit Weitblick zu entscheiden, wem sie ihre Podien und Kanzeln anvertrauen.
Die Zeiten, wo man frisch und fröhlich in einer einigermassen geschlossenen ‘evangelikalen Bubble’ abfeiern konnte, ohne dass die eigenen Glaubensüberzeugungen gross in Frage gestellt wurden, sind vorbei. Vielleicht ist das gar nicht mal so schlecht. Die Frage ist vielmehr, ob unsere freikirchliche Leiter verstanden haben, dass die Zeit spätestens jetzt angebrochen ist, ihre Schäfchen in biblischem Unterscheidungsvermögen anzuleiten. Ich jedenfalls hoffe, dass meine Auseinandersetzung mit der Theologie von Martin ein sachlicher Beitrag dazu sein kann.
Auch nach diesen Zeilen gilt immer noch, dass ich Martin nur das Beste Wünsche. Ich freue mich über eine auf die theologischen Inhalte gerichtete Diskussion und über Beiträge von vertiefter Fachkompetenz, wie demjenigen von AT-Prof Benjamin Kilchör auf Daniel Option. Wer sich weiter mit der Thematik progressiver Theologie auseinandersetzen möchte, dem Empfehle ich zudem die Lektüre der Artikelserie «Die 10 Gebote des Progressiven Christentums» auf Daniel Option.
Frauenfeld, 19.05.2023, Peter Bruderer
Lieber Peter
Ich staune immer wieder über deine Energie mit der du dich in das Thema reinhängst. Da ist viel Herzblut drin. Merci! Ich bin motiviert das Buch von Benz noch selbst zu lesen.
Deine Gedanken lösen auch selbstkritische Stimmen in mir aus. Wieso sind so viele Christen an einem Umzug interessiert? Was haben wir in unseren Gemeinden versäumt? Wo haben wir unsere blinden Flecken? Ich habe das Vorrecht in einen schönen Haus zu leben. Jedes Umzugsangebot lässt mich total kalt, dasselbe gilt für mein geistliches Zuhause. Wo kein Bedarf ist, da verfangen auch Angebote nicht. Warum aber fühlen sich so viele Leute von dem Umzugshelfer angesprochen?
Eins scheint mir da schon deutlich geworden: ungesunde theologische Grundlagen (z.B. Word of Faith) führen oft wie in einem Pendelschlag zu weiteren ungesunden theologischen Verlagerungen. Das lädt ein, die eigene Theologie immer wieder darauf zu prüfen, ob sie wirklich den „ganzen Ratschluss Gottes“ umfasst oder allenfalls einseitig geworden ist oder zu werden droht.
Merci Daniel.
Vielen Dank für diese total wertvolle, seelsorgerlich wichtige und faire Betrachtung. Ich bete, dass viele diesen Beitrag lesen, durchdenken und den Mut aufbringen, neu “vor dem Wort zu zittern” (Jesaja 66,2). Ich wünsche Ihnen Gottes reichen Segen.
Herzlichen Dank für das Lesen und die Ermutigung, lieber Jürgen.
Hallo Peter, herzlichen Dank für deine umfangreiche Arbeit und ihre gute, verständliche Struktur. Ich habe das Buch von MB vor einiger Zeit gelesen und war recht angetan. Nun habe ich deinen langen Artikel langsam und betend gelesen und gebe dir in vielem recht. Ich selbst sehe mich mit einem Fuß in der evangelikalen Bewegung und mit dem anderen in der postevangelikalen Bewegung, mal wird der eine Fuß belastet mal der andere. Umgezogen bin ich noch nicht, aber in Bewegung. Dein Artikel und auch deine Links, die ich sorgfältig anschauen werde, zum Teil schon habe, veranlassen mich, langsam und vorsichtig zu sein. Ich empfinde deinen Artikel als tüchtigen Schuss vor den Bug. Danke für deinen Mut. Ich empfinde aber doch zwei Schwächen in deinen Ausführungen. Erstens: Du führst, ähnlich wie Martin Benz auf seine Weise, wie viele “Evangelikale” in ein Dilemma, in ein Entweder-Oder, ohne irgendwelche Zwischenpositionen zuzulassen. Und das betrifft die historische Glaubwürdigkeit der Bibel. Ich verstehe dich so: Entweder jede Geschichte oder jeder Bericht in der ganzen Bibel ist genauso passiert wie es dasteht oder alles ist in Frage gestellt, alles ist beliebig. Du erwähnst öfter als für dich wichtiger Zeuge Joseph Ratzinger. Er hat der Evolutionlehre nicht grundsätzlich widersprochen, sondern nur deren Philosophie und Anspruch, die Welterklärung zu liefern. Für ihn ist die Schöpfung nicht in sieben Tagen passiert. Und auch die Noahgeschicht ist sicher nicht genau so passiert für ihn, wie es dasteht. Dietrich Bonhoeffer ein weiteres Beispiel — er erkannte die Heilsgeschichte, erkannte die wesentlichen Fakten, blieb aber in vielem liberal. Du lässt keinen Raum für Zwischentöne. Ich persönlich glaube zum Beispiel an einen historischen Kern der Exodusgeschichte, einen soliden historischen Kern. Ich glaube, dass Gott faktisch sein Volk aus Ägypten befreit und ins verheißene Land geführt hat. Wenn man aber alle Einzelheiten der Geschichte wirklich wörtlich nimmt — dann wäre Ägypten nicht mehr existent! Das müssen wir einfach auch mal ehrlich sein und nicht drüber wegwischen. Oder wenn in Levitikus Mose die ganze Gemeinde an den Eingang der Stiftshütte versammelt um die Vorschriften Gottes mitzuteilen, obwohl die sich in Levitkus selbst dann zum Teil ändern, zum Teil wiederholen — dann wäre die Versammlung bei 9 Personen pro Qm2 (maximale Dichte) 49 Fußballfelder groß. Und da sind die Frauen und Kinder nicht einmal dabei. Und da gibt es viele Beispiele. Ich persönlich möchte mich diesen Entweder-Oder von dir nicht anschließen. Wir haben doch auch einen “gesunden Menschenverstand”. Und es ist doch einfach so, dass die Dokumente des Neuen Testaments in ihrer Dichte und der Art ihrer Schilderung und in ihrer zeitlichen Nähe zu den Geschehnissen einfach doch viel glaubwürdiger sind und einheitlicher. Sollten wir da keinen Unterschied machen dürfen? Kann es sein, dass ich, wenn ich eine weltweite Flut in Frage stelle, damit genauso die historische Glaubwürdigkeit der Auferstehung potenziell antaste? Diesem Gedankengang verweigere ich micht. Hier führst du Leute in die Enge, denke ich, in eine unnötige Enge.
Zweitens: Beim Thema Homosexualität kommt bei dir der Betroffene letztlich nicht vor in seiner Not. So kommt es mir vor. Ich habe zehn Jahre an dieser Frage gearbeitet, biblisch und in Begegnungen, unzählige Bücher und Dokumente gelesen, auch Vicky Beeching, und bin zu anderen Ergebnissen gelangt als du. Ich glaube, du hast recht, wenn du den Ersatz des Begriffes “Notordnung” durch “Neuordnung” problematisierst. Doch “Notordnung” hat bei mir Platz. Wenn ich nun feststelle, wiederholt, dass des tatsächlich homosexuelle, nicht zölibatäre Menschen gibt, die tatsächlich den Heiligen Geist empfangen haben und mit Jesus leben und die zehn Gebote halten und Jesus lieben — dann ist das für mich nicht Schall und Rauch und dann weist das tatsächlich in die Richtung von Apg 10. Vielleicht kommt aber die Zeit, dass die Notordnung aufgehoben werden kann, weil die Kraft Gottes in einem für uns zur Zeit noch nicht bekanntem Maß in die Gemeinde zurückommt… Soviel mal für heute.
Lieber Jens. Danke für deine Rückmeldung. Ich muss mir etwas Zeit finden für eine Antwort. Melde mich aber in den kommenden Tagen. Gruss, Peter
Alles klar, es hat Zeit. Ich denke, ich muss auch noch mal in Ruhe darüber gehen. Deine Rezension hat viel in mir angestellt in ihrer Wucht, in der Geschlossenheit deiner Argumentation, in der Unerbittlichkeit. Ich „blute“ immer noch. Das hängt wohl auch mit einer Lebensberufung zusammen: Mitten drin zu stehen, zu vermitteln, zu verstehen, Brücken zu bauen.
Liebe Grüße Jens
Lieber Jens,
Danke für den Kommentar, der mir so aus dem Herzen spricht. — ich leide fest an diesem Entweder Oder, Schwarz Weiss. Und ich fühle mich tatsächlich in die Enge getrieben. Muss ich mich denn immer entscheiden zwischen Meinungen gemäss MB ODER solchen gemäss PB? Das macht mich fertig (obwohl der Artikel nur an Männer gerichtet ist)…. Als wäre es heilsnotwendig.
Liebe Grüsse Marie-Therese
Ach ich kanns gerade nicht lassen das zu schreiben :). Vielleicht auch um hier einen “kommentativen Gegenpol” zu setzen ;).
Ich habe Martins Buch gelesen — mit viel Gewinn und Genuss. Mir gefällt die neue Wohnung sehr gut. Nein, ich nehme nicht alles für bare Münze (ich kann, darf und soll ja selbst denken) und ich zügle viele viele Dinge mit in die neue Wohnung.
Vielleicht hinkt das Bild auch… Ich habe nicht grundsätzlich das Gefühl, dass ich eine Wohnung verlasse und in eine neue Einziehe. So im finalen Sinne von “Wohnung A ist weg, Wohnung B ist jetzt meine”. Viel mehr fühlt es sich so an, dass ich Möbel austausche, neue Bilder aufhänge, ja vielleicht auch die eine oder andere Wand raus reisse, einen neuen Raum erschliesse, ausbaue, … aber ich ziehe nicht um. Der gleiche Gott, die gleiche Bibel, der gleiche Glaube, der gleiche Erlöser Jesus Christus, die gleiche Hoffnung.
…aber mehr Freiraum zum Denken, zum Leben, zum Fühlen und schlussendlich zur leidenschaftlichen Nachfolge. Das hats bei mir ausgelöst, und dafür bin ich Martin Benz sehr dankbar.
Liebe Grüsse
Michael
Sali Michael.
Danke für dein Votum. Wie ich selber geschrieben habe, bin ich mir sicher, dass viele Leser dieses Buch als wegweisend für ihre eigene geistliche Entwicklung empfinden werden. Ich kann die Attraktivität des Weges, den Martin beschreibt, ja ein Stück weit nachvollziehen. Warum ich ihn nicht gehe — warum ich der Ansicht bin, dass er in die Irre führt — das habe ich in meinem Artikel ausführlich und sachlich dargelegt. Deshalb verzichte an dieser Stelle darauf, mich zu wiederholen :-). Alles Gute, Peti
Lieber Paul
Vielen Dank für diese sehr gut formulierte Rezession.
Mir fällt immer mehr auf, dass in unserer christlichen Kultur die Gabe der „Unterscheidung“ fehlt. Dies im ganzen Spektrum zwischen progressivem Glauben bis „word of faith“ Theologie. Das gibt mir zu denken.
Kann es sein, dass wir unser heiliges Buch nicht mehr kennen und ernst nehmen? Kann es sein, dass einst solide Gemeinden anstelle von fundiert exegetisch geprägten Predigten zu ichsegetischen Methoden gegriffen haben? Kann es sein, dass viele unserer Gottesdienste nicht mehr viel mit Gott dafür mehr mit uns zu tun haben und wie ich es leider selber erfahren habe zu „sozial-therapeutischen Wohlfühl-Sitzungen“ verkommen sind?
Kann es sein, dass wir in unseren Freikirchen einen Mangel an intellektuell gut ausgebildeten Lehrer haben?
Dies sind einige selbstkritische Fragen die ich in das Lager der klassisch Evangelikalen einbringen möchte. Es scheint mir wichtiger denn je, dass unsere Gemeinden zurück zu einer gesunden Lehre finden damit ein Buch wie dasjenige von Martin Benz keiner so genauen Rezession bedarf, sondern schon vom „Laien“ als fataler Trugschluss erkannt wird.
(Ich stelle tragischerweise fest, dass diese Einsicht z.T. sogar gebildeten Pastoren von guten Gemeinden fehlt)
Ich habe es wie du — ich werde nicht in diese Wohnung einziehen. Ich freue mich täglich durch Gottes Wort Dimensionen eines Schöpfers zu entdecken, die meinen Glauben stärken und mich nicht mit mehr Fragen als Antworten zurücklassen.
Nochmals, herzlichen Dank für deine Bemühungen.
Erwin
Lieber Erwin.
Peter hier — der Autor des Artikels, und nicht mein Bruder Paul (der mich natürlich beim Feinschliff unterstützt hat).
Herzlichen Dank für deine Rückmeldung. Ich teile leider deine Diagnose bezüglich mangelnder Unterscheidungsfähigkeit in unseren Kirchen und auch Kirchenleitungen. Die diagnostischen Fragen, welche du stellst, sind die Fragen, welche auch ich mir seit einiger Zeit stelle. Ich selbst habe in den vergangenen 2–3 Jahren versucht umzulernen. Ich bin ja, anders als mein Bruder, kein Berufspastor. Aber in den sporadischen Predigten die ich halten darf, versuche ich mich heute viel stärker diszipliniert an einen Predigttext zu halten, diesen Sprechen zu lassen. Es ist ein Gebot der Stunde finde ich, in unseren Gemeinden nicht einfach die Gefühle der Glieder ‘aufzupolieren’, auch nicht einfach ‘Wissen’ zu vermitteln, sondern zum eigenständigen biblischen Denken anzuleiten. Das muss ich erst mal selber üben.
Ein Stückweit ist dies auch mein Punkt in einem meiner letzten Artikel:
https://danieloption.ch/featured/die-suende-ueber-suende-zu-reden/
Herzlich
Peter Bruderer
Lieber Peter
Entschuldige meine falsche Anschrift — ich merkte es erst nachdem ich den Kommentar schon abgeschickt hatte 🙈
Den Artikel über Sünde finde ich auch sehr passend.
Es freut mich, dass ich hin und wieder Ressourcen wie diese finde, wo sich Denker anspruchsvollen Themen annehmen.
Ich werde danieloption nicht das letzte mal besucht haben 🙂 und wünsche euch viel Weisheit und Kraft für diesen wertvollen Dienst. Leider wohne ich viel zu weit von Frauenfeld entfernt — sonst würde ich eure Gemeinde gerne mal Besuchen.
Sei gesegnet — Erwin
Lieber Peti, danke für deine Klarstellungen! Wirklich grossartig gemacht! Da hast du dich unglaublich ins Zeug gelegt. Ich hatte das Buch von Martin Benz auch gelesen — mit vielen Fragezeichen…! Deine Rezension spricht mir aus dem Herzen.
Herzlichen Dank Stefan. Ich freue mich das der Text für viele hilfreich ist.
Mit Interesse hatte ich das Buch von M. Benz gelesen. Am Ende war ich nicht überzeugt von den dargebotenen “Umzugshilfen”. Danke für eine fundierte Erwiderung der ich gut folgen konnte. Ich freue mich an der Schönheit meiner “Altbauwohnung” 🙂
Grüezi Herr Pohl. Herzlichen Dank für die Rückmeldung und das sie sich die Zeit genommen haben, den langen Artikel zu lesen.
Kompliment, da hast du dich aber hineingekniet. Wow, welches Wissen du da zusammenbringst. Ja, mit Pluralismus (und auch Beliebigkeit) öffnet man die Türen, um Gott und die Welt zu erklären… Am Schluss findet man sich nicht mehr zurecht. Du hast mE sorgfältig deine ‘Liebe zur Sache’ dargelegt. — Der Glaube ist eine Entdeckungsreise, wo wir Gott und uns selber immer tiefer kennen und lieben lernen. Um frei zu werden von Zwängen und um offene Augen für die Schönheit des Lebens zu erhalten. Und das Leben ist im Wort — in Jesus, wie wir es in der Bibel lesen.
Hallo Wolfgang. Vielen Dank fürs lesen und die Rückmeldung. Ich hatte am Schluss noch 2–3 Soufleure, die mir über die Ziellinie geholfen haben. Diesen sei damit auch gedankt.
Eine gesegnete Woche dir.
Lieber Peter
Wau! Ich war länger dran als die voraussichtlichen 60 Minuten. Aber es hat sich für mich gelohnt.
Zu Beginn dachte ich an einer Stelle, dass es aber schon noch weitere Themen gibt neben den Standpunkten zur Homosexualität. Das wurde ja dann auch ausgeführt. Eindrücklich, ausführlich, verständlich.
Ja — es ist weit mehr als eine Buchbesprechung. Es ist eine klare Gegensprache. Profan würde man wohl von einem weitgehenden „Verriss“ reden.
Eine Entgegnung von Martin Benz würde ich in jedem Fall auch lesen.
Lieber Heinz. Vielen Dank für deine Rückmeldung und das du dir die Zeit genommen hast, das lange Dokument zu lesen. Martin hat den Entwurf vor Publikation erhalten. Wir werden sehen, ob er darauf reagieren möchte. E gueti Wuche.
Danke Peter für deine Worte, du sprichst mir aus dem Herzen! “Nicht mein Glaube, sondern ich muss mich verändern!” — I love it. Freu mich schon auf die Wohnung mit Sicht auf die neue Erde:-)!
Hoi Manuel. Vielen Dank für deine Rückmeldung und das du dir die Zeit genommen hast, das lange Teil durchzulesen. Herzlich, Peti