Kirchen haben die Berufung, ein Ort des barmherzigen Mitgefühls zu sein für Menschen, die Jesus nachfolgen möchten. Mit anderen Worten: Kirchen sind Räume der Gnade. Der kürzlich verstorbene Pastor und Theologe Tim Keller sagt: «Wir alle sind geliebter, als wir je glauben können. Wir alle sind kaputter, als wir je denken können.“ Wir alle brauchen ein Mass an Gnade, das unserem Leben entspricht, damit wir als Christen aufblühen.
Wir blühen auf, wenn wir verändert werden, heil werden, uns bewähren und dienen können. Damit diese Dinge beginnen, in unseren Leben stattzufinden, ist es entscheidend, dass wir lernen, in einer neuen Weise zu denken. Erst dann werden wir verändert und sind überhaupt in die Lage, beurteilen zu können, ob unser Lebensentwurf Gottes Wille ist – ob er gut ist, ob Gott Freude daran hat und ob er vollkommen ist (frei nach Römer 12:2).
Ich präsentiere in einer Serie von drei Artikeln den 3AB Weg für Kirchen, Pastoren, Seelsorger und Christen. Der 3AB Weg kann in der Beurteilung von sexualethischen Situationen helfen. Wie können wir unsere Kirche als Raum der Gnade gestalten, wenn zum Beispiel ein Mann in den Gottesdienst kommt, der polyamourös lebt? Was passiert, wenn eine Frau anklopft, die unverheiratet mit ihrem Partner zusammenlebt? Was geschieht, wenn ein verheiratetes homosexuelles Paar gemeinsam in die Kirche kommt und Kinder mitbringt? Was läuft, wenn ein Mann kommt, der sexuell sehr freizügig lebt?
Wenn ich diese Beispiele ‘einfach so’ aneinanderreihe, ist das für manche meiner Leser vermutlich bereits ein Affront. Progressiv-liberale Leser denken vielleicht: Eine treue homosexuelle Beziehung in den ‘gleichen Topf’ werfen mit einem sexuell freizügig lebenden Mann – das geht nicht!
Nun, ich lege in diesen Artikeln meine Karten mehrmals auf den Tisch. Hier tue ich das gleich zum ersten Mal: Ich schreibe über diese Fragestellungen aus Sicht des historischen Christentums. Das Christentum hat historisch nicht alles richtig gemacht, aber an manchen Punkten aus meiner Sicht schon. Wenn meine progressiv-liberalen Leser sehen möchten, wie der Raum der Gnade gestaltet werden kann aus Sicht von jemand wie ich, dann sind diese Artikel für euch eine lohnende Lektüre.
Menschen in Situationen, wie ich sie skizziert habe, sind oft an Jesus Christus interessiert, aber das Umdenken, dass für ihr Aufblühen nötig ist, hat vielleicht noch nicht stattgefunden. Vielleicht lehnen sie biblische Werte sogar bewusst ab — oder wenigstens das, was sie denken, sind biblische Werte. Natürlich ist keine Situation wie die andere und jede ist letztlich ein Einzelfall. Darum ist Vorsicht geboten, wenn ich hier von solchen allgemein formulierten Konstellationen rede. Trotzdem hilft es, sich solche Lebensentwürfe vor Augen zu nehmen und zu fragen: Wie soll die Ortskirche die Gemeinschaft gestalten, damit sie für diese Menschen ein Raum der Gnade wird?
Ich schlage vor, dass Gemeinden und Interessierte in solchen Situationen miteinander den 3AB Weg gehen. Dieser Weg ist eine Art, wie eine Lokalkirche sich selbst als Raum der Gnade gestalten kann. Ich stelle den 3AB Weg im dritten Artikel ausführlich vor. Damit der Weg verständlich wird, starte ich in Artikel 1 mit der Analyse einer konkreten Glaubensgemeinschaft zur Zeit des Neuen Testaments (mit der Gemeinde in Korinth). Im Artikel 2 leite ich daraus 9 Thesen ab. Dieser zweite Artikel ist etwas länger und enthält viel Substanz . Im Artikel 3 stelle ich dann den 3AB Weg genauer vor. Meine Artikel beantworten nicht alle Fragen, aber ich hoffe, dass eine weiterführende Diskussion einige davon beantworten werden.
Paulus war ein jüdischer ‘barmherziger Samariter’
Wir sehen in Paulus einen weisen Theologen, Seelsorger und Gründer von Ortskirchen, der Menschen jenseits jeglicher christlichen Sozialisierung in die Nachfolge von Jesus Christus führt. Paulus ist nicht der bornierte, jüdisch geprägte Theologe, als den er zuweilen dargestellt wird. Er ist getrieben von Gottes Barmherzigkeit für Menschen, sowohl jüdischer Herkunft, als auch Menschen aus einer nicht-christlichen Kultur. Er weiss, wie seine eigene Lebensgeschichte und jene anderer Christen früher aussah und verändert worden ist. In pointierten Worten, die an Tim Keller’s Worte erinnern, erklärt er:
Früher waren nämlich auch wir – wie alle anderen Menschen – ohne Einsicht und Verständnis. Wir verweigerten Gott den Gehorsam, gingen in die Irre und wurden von allen möglichen Leidenschaften und Begierden beherrscht. Bosheit und Neid bestimmten unser Leben. Wir waren verabscheuungswürdig, und einer hasste den anderen. Doch dann ist die Güte Gottes, unseres Retters, und seine Liebe zu uns Menschen sichtbar geworden, und er hat uns gerettet – nicht etwa, weil wir so gehandelt hätten, wie es vor ihm recht ist, sondern einzig und allein, weil er Erbarmen mit uns hatte. (Titus 3:3–5)
Wie kommt es zum Wechsel von diesem Leben in ‘Leidenschaften und Begierden’ zu einem aufblühenden Christenleben? Welche Rolle spielen die Ortskirche, die christliche Lehre und andere Gläubige? Es braucht gemäss dieser Bibelstelle für uns alle Gottes Güte und Erbarmen. Ich fasse diese Elemente unter dem Oberbegriff ‘Gnade’ zusammen. Ortskirchen haben die Berufung, für alle Menschen Räume der Gnade zu werden.
Wie die lokale Kirche in sexualethischen Fragen als Raum der Gnade gestaltet werden kann, sehen wir beispielhaft in Korinth. Paulus gestaltet diese Ortskirche auf eine bestimmte Art und Weise. Dabei ist er angetrieben von dieser Güte und diesem Erbarmen Gottes. Paulus ist sozusagen ein jüdischer ‘barmherziger Samariter’ für diese Menschen. Schauen wir ihm über die Schultern, wie er in 1Kor 6:12–20 den Männern begegnet, die Christen sind und zu Prostituierten gehen.
Ein ‘interessanter Fall’: Gläubig und Bordelbesucher
Ja du hast richtig gelesen: In der Gemeinde in Korinth gehen Christen ein und aus, die Sex mit Prostituierten haben! Sie werden nicht einfach aus der Kirche verbannt, sondern erleben grundsätzliche Annahme. Und dies, obwohl Paulus Bescheid weiss:
Soll ich denn nun, indem ich mich mit einer Prostituierten einlasse, Christus das wegnehmen, was einen Teil seines Leibes ausmacht, und es zu einem Teil ihres Leibes machen? Niemals! (1Kor 6:15)
Diese Männer sind ein ‘interessanter Fall’. Sie kommen zum Glauben an Jesus Christus, aber ihr Denken ist in Bezug auf ihre Sexualität noch unverändert. Vielmehr nehmen sie sogar eine Verteidigungshaltung ein und finden mehrere Argumente, warum sie als Christen angeblich weiterhin zu Prostituierten gehen dürfen. Schauen wir uns das an.
Im antiken Heidentum war es für Männer normal und üblich, Sex mit Prostituierten zu haben:
Man ging davon aus, dass römische Ehemänner Konkubinen haben und Prostituierte besuchen. Nach einer Mahlzeit war es üblich, dass der Gastgeber diese Dienste anbot. Ehefrauen, die sich darüber beklagen, wurden als wählerisch oder störend gesehen. (David Instone-Brewer, BI390 Biblical Sexual Ethics, Logos Mobile Education)
In diesem Zitat sehen wir etwas von der doppelbödigen Sexualpraxis im Heidentum. Die heidnische Gesellschaft erlaubte Männern eine grosse sexuelle Freizügigkeit, während sie von Ehefrauen die eheliche Treue verlangte. Was sexuell erlaubt war, hing in dieser Zeit davon ab, wo man in der gesellschaftlichen Hierarchie stand und welches Geschlecht man hatte. Es kann durchaus sein, dass diese gläubigen Bordellbesucher in Korinth höhergestellte Männer waren.
Letztlich sind die Männer aber normale, heidnische Männer, die zum Glauben an Jesus kommen. Sie kommen wirklich zum Glauben! Ich nehme an, dass Paulus auch über sie sagt: Ihr seid reingewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes (1Kor 6:11). Trotz dieser geistlichen Tatsache führen sie ihre doppelbödige Sexualpraxis weiter und gehen zu Prostituierten.
Gemäss der doppelbödigen Sexualpraxis der damaligen Kultur machen diese Männer lediglich das Normalste der Welt. Paulus hingegen beurteilt die Situation komplett anders. Er würde gemäss Titus 3:4–5 sagen: Ihr werdet von ‘Leidenschaften und Begierden beherrscht’. Diese mitunter komplett unterschiedliche Einschätzung der Situation kann auch heute in vielen Kirchen die Ursache von Spannungen sein zwischen der Leitung einer Kirche und der Person, die neu dazustossen möchte. Umso mehr Grund zu schauen, wie der ‘barmherzige Samariter’ Paulus mit dieser Spannung umgeht und in ihr agiert. Schauen wir Paulus über die Schulter!
Die halb-christlichen Argumente der Freier
Zur Rechtfertigung ihrer Besuche bei Prostituierten artikulieren diese Christen zwei Argumente:
Argument 1: Alles ist mir erlaubt! (1Kor 6:12)
Argument 2: Das Essen ist für den Bauch, und der Bauch für das Essen. Beides hat Gott zur Vergänglichkeit bestimmt. (1Kor 6:13)
Ich finde es spannend, dass Paulus diesen Argumenten nicht kategorisch widerspricht. In Bezug auf Argument 1 weiss Paulus, dass insbesondere das jüdische Gesetz für Christen nicht in allen Belangen verbindlich ist. Diese Christen, die zu Prostituierten gehen, nutzen also gewissermassen ein ‘christliches’ Argument. Wenigstens denken sie, es sei christlich. Oder sie wollen so denken. Es ist auf jeden Fall kein komplett nicht-christliches oder anti-christliches Argument! Nennen wir das Argument der gläubigen Bordellbesucher deshalb ein ‘halb-christliches’ Argument.
Wie wir im Verlauf des Textes sehen, führt dieses ‘halb-christliche’ Argument zur Rechtfertigung einer Praxis, die biblisch gesehen komplett und kategorisch abzulehnen ist:
Soll ich denn nun, indem ich mich mit einer Prostituierten einlasse, Christus das wegnehmen, was einen Teil seines Leibes ausmacht, und es zu einem Teil ihres Leibes machen? Niemals! (1Kor 6:15)
Das Argument der Männer klingt zwar ein bisschen ‘christlich’, aber trotz der ‘christlichen’ Elemente führt es die Männer in die komplett falsche Richtung. Paulus erklärt ihnen, dass sie ‘Alles ist mir erlaubt’ einseitig nutzen. ‘Alles ist mir erlaubt’ muss in Verbindung gebracht werden mit anderen Elementen. Hier konkret mit der Frage, ob eine Handlung gut für mich sei, sowie mit der Frage, ob die Handlung anfängt, mich zu beherrschen. (Vers 12)
Das Argument 2 klingt ‘christlicher’ als das Argument 1, da es explizit ein Element zu integrieren versucht aus der (wohl missverstandenen) christlichen Endzeitlehre: Der Körper ist der Vergänglichkeit bestimmt. Auch beim Argument 2 widerspricht Paulus nicht allem, was die frommen Freier behaupten. Doch weil es noch etwas direkter auf die Förderung des sexuellen Fehlverhaltens der Männer gerichtet ist, widerspricht ihm Paulus schärfer als dem Argument 1.
Im weiteren Verlauf von 1 Korinther 6:12–20 sehen wir, wie Paulus die ‘halb-christlichen’ Argumente widerlegt. Er tut dies, indem er ein gutes theologisches Argument aufbaut. Dazu identifiziert er das Grundproblem in den halb-christlichen Argumenten der Männer: Sie verstehen die wahre Bedeutung ihres Körpers nicht. Daraufhin zeigt er ihnen, wie sie aus Sicht ihrer Vereinigung mit Christus richtig über ihren Körper denken sollten. Wir schauen uns das an.
Das christliche Argument von Paulus
Paulus stellt Sexualität in den Rahmen der gesamten Schöpfung. Der Kosmos mit dessen Schöpfer und Erlöser, und nicht die Gesellschaft, ist gemäss Paulus der richtige Bezugsrahmen für das christliche Verständnis von Sexualität. Während das Heidentum Sexualität im engen Rahmen der eher patriarchalen gesellschaftlichen Vorgaben denkt, stellt hier die Bibel Sexualität in den viel grösseren Rahmen der Schöpfung, des Kosmos. Ich kann hier nur kurz skizzieren, was dies im konkreten Fall der gläubigen Bordellbesucher bedeutet.
Da der gesamte Kosmos auf Christus hin erschaffen und von ihm aus der Verlorenheit erlöst ist, müssen diese Männer verstehen, welche Auswirkungen ihre Verbindung mit Jesus Christus hat. Weil sie Christus angehören, ist ihr Körper nun ein sakraler Raum im Universum geworden (1Kor 6:19 spricht vom Körper als Tempel). Darum sollen die Männer ihren Christus geweihten Körper nicht durch Sex mit Prostituierten entweihen.
Wenn sie diese Bedeutung ihres Körpers in diesem neuen, kosmischen Bezugsrahmen sehen, werden die Männer erkennen, dass sie bisher ihren Körper wie auch die Körper der Prostituierten (!) unter dessen eigentlicher Würde behandelt haben. Ihr Körper ist kein Wegwerfartikel, der am Ende vernichtet wird, wie sie in Argument 2 behaupten. Vielmehr wird ihr Körper wegen ihrer Verbindung mit Christus eine zwar geheimnisvolle, jedoch reale Überführung in die Ewigkeit erfahren (siehe 1Kor 15:35–49). Ihr Körper hat Ewigkeitswert, denn Gott wird an ihrem Körper dasselbe vollziehen, wie er an Jesus Christus vollzogen hat! (1Kor 6:14) Der kosmische Bezugsrahmen der Bibel wertet den Körper dieser Männer auf, während der gesellschaftliche Rahmen ihn abwertet.
Kurz gesagt: Paulus erklärt den Männern, dass sie lernen müssen, auf christliche Weise über ihren Körper zu denken: Ihr Körper hat grosse Würde wegen dessen Ewigkeitswert. Es wäre für den Theologen und Seelsorger Paulus schlicht unbarmherzig, den Männern dieses Wissen über ihre Würde vorzuenthalten.
Die Kirche in Korinth als Raum der Gnade sehen
Wir sehen in diesen Darstellungen bereits, wie die Konturen einer konkreten lokalen Kirche aussehen können, um für normale Menschen, die zum Glauben kommen, zu einen Raum der Gnade zu werden. Die Kirche wertet die Sexualität und die Körperlichkeit nicht ab, sondern massiv auf. Der Körper hat Ewigkeitswert. Der Körper ist der christlichen Ethik heilig. Es wäre ungnädig, den Menschen diese Information vorzuenthalten. Es ist ein Teil der Gnade Gottes, wenn Menschen das zu hören bekommen und lernen, es zu verstehen .
Der Theologe und Gründer der christlichen Gemeinschaft L’Abri, Francis Schaeffer, schreibt:
Ich bin überzeugt, dass die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert nicht zuhören werden, wenn wir zwar die richtige Lehre und richtige Kirchenordnung haben, aber keine Gemeinschaft zeigen. (zitiert in Andrew Fellows The Church Before the Watching World: Francis Schaeffer’s Burdens)
Fellows sagt, dass Schaeffer «sogar so weit ging, unsere Demonstration der liebenden Gemeinschaft als ‘die letzte Apologetik’ zu bezeichnen — eine Demonstration dessen, was wir wirklich sind, vor einer beobachtenden Welt». Schaeffer implementierte eine ‘doppelte’ Orthodoxie:
Orthodoxie der Lehre und Orthodoxie der Gemeinschaft inmitten der sichtbaren Kirche, einer Gemeinschaft, die die Welt sehen kann. Durch die Gnade Gottes muss die Kirche also gleichzeitig für ihre Reinheit der Lehre und die Realität ihrer Gemeinschaft bekannt sein. (Schaeffer zitiert in Andrew Fellows The Church Before the Watching World: Francis Schaeffer’s Burdens)
Um diese doppelte Orthodoxie geht es mir, wenn ich die Kirche als Raum der Gnade beschreibe. Wie kann diese doppelte Orthodoxie aussehen, konkret und real? Im nächsten Artikel formuliere ich 9 Thesen, was dies für uns heute bedeuten könnte um anschliessend im dritten Artikel den 3AB Weg zu beschreiben. In der Zeit bis zu deren Veröffentlichung ermutige ich meine Leser, selber zu überlegen, was meine obigen Beobachtungen für lokale Kirchen bedeuten könnten, die den Menschen Gottes Gnade erfahrbar machen wollen.
Bilder: Old South Meeting House, Boston (iStock)
Grüess di Paul
Seit vielen Jahren bewegt mich dieses Thema und ich versuche auf mancherlei Art und Weise, unsere Lokalkirche in diese Richtung zu bewegen. Deine Darstellung und Argumentationslinien helfen mir dabei sehr. Danke vielmals. Ich bin gespannt auf Artikel 3, möchte das gerade (einmal mehr) in die Predigt vom 22. Oktober einfliessen lassen.
Danke und bis riich gsägnet
david
Hi David, danke! Ich schicke dir den Artikel 3 schon mal damit du etwas mehr Vorlauf hast. Wegen deiner anderen Anfrage: ich habe sie erhalten und antworte dir am Montag ok?
Hoi Paul
Ich lese auch diesen Artikel mit Freude, Begeisterung und Interesse. Er bereichert mich und lenkt, korrigiert meine Gedanken in guter Weise. Danke.
Vielen Dank Heinz 🙏