2021 schreibt Laurel Hubbard im Gewichtheben an den Olympischen Spielen von Tokio Geschichte – und dies, ohne einen einzigen gültigen Versuch zu landen. Wie? Hubbard wurde als Mann geboren und liess sich 2012 das Geschlecht operativ anpassen. Es ist die erste Teilnahme einer Transgender-Person an den Olympischen Spielen. Hubbards Teilnahme löste eine Kontroverse aus: Sie wurde einerseits als Sieg der Transgender-Bewegung gefeiert, andererseits kommentierte eine Athletin, die in Hubbards Gewichtsklasse startet: “Für die Sportler fühlt sich das Ganze wie ein schlechter Witz an.”
Das Aufkommen der Transgender-Bewegung hat viele Fragen und Kontroversen ausgelöst. Der Theologe und Kirchenhistoriker Carl R. Trueman behauptet nicht, eine Antwort auf alle diese Fragen zu haben. Doch er möchte mit seinem Buch The Rise and Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution ein Vorwort zur Diskussion liefern. Das ist ihm auch gelungen!
Das Buch gibt es aktuell in Englisch. Die Übersetzung ins Deutsche soll 2022 erfolgen.
Eine Frau im Körper eines Mannes?
Trueman beginnt mit der Frage: Wie hat sich der Satz „Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes“ innerhalb von etwa zwei Generationen von einer Lächerlichkeit zu einer allgemein akzeptierten Position gewandelt? Was bei Truemans Grossvater noch einen Lachanfall ausgelöst hätte, darf man heute kaum noch in Frage stellen, ohne sich selbst als dumm, irrational, oder Opfer einer seltsamen Phobie blosszustellen. In welcher Weise hat sich die Gesellschaft derart verändert, dass ein Satz, der so weitreichende Implikationen hat, in einer Generation noch kaum verstanden wird, und zwei Generationen später eine Art allgemeines Dogma darstellen kann? Der reformierte Theologe und Kirchenhistoriker Carl R. Trueman startet den Versuch, diese Geschichte zu erzählen.
Will man Trueman glauben, dann geht es hier nicht nur um eine veränderte Sexualethik und einige neue Geschlechterpronomen, sondern um etwas viel Tieferes. Sogar die sexuelle Revolution der sechziger Jahre, die den jüngsten Entwicklungen vorausgegangen ist, ist in Truemans Augen nicht selber die Ursache, sondern ein Symptom. Ein Symptom dessen, dass die Gesellschaft heute eine veränderte Auffassung dessen vertritt, was es bedeutet, ein ‚Selbst‘ zu sein.
Truemans Buch ist eine Analyse dieser Veränderung, eine Antwort auf die Frage, wie es zu diesem ‚Modern Self‘ kommen konnte. Er bezieht sich dabei stark auf drei andere Denker: Den Philosophen Charles Taylor, den Psychologen und Soziologen Philip Rieff, und den Ethiker Alasdair MacIntyre. Sie alle sind, wie Trueman, der Ansicht, dass sich im Westen in den letzten Jahrhunderten das Konzept von Identität – die Frage, was ein ‚ich‘ eigentlich ist – radikal verändert hat.
Drei Thesen dieser Denker möchte ich hier, nach der Zusammenfassung von Trueman, kurz wiedergeben:
Drei wichtige Denker
Vereinfacht gesagt, bezeichnen die Worte Mimesis und Poiesis zwei Weisen, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Eine mimetische Sichtweise betrachtet die Welt als in sich selber geordnet. Der Mensch findet sich in einer Wirklichkeit wieder, die selbst bestimmten Ordnungen und Gesetzen folgt. Deshalb ist es sein Ziel, diese Ordnung zu entdecken und sich selbst danach zu richten. Poiesis dagegen betrachtet die Welt als rohes Material, welches vom einzelnen Menschen bearbeitet, und erst dadurch mit Sinn erfüllt werden kann. In seinen beiden Hauptwerken „Quellen des Selbst“ und „Ein säkulares Zeitalter“ kommt Charles Taylor zum Ergebnis: Die westliche Kultur hat sich durch einen komplexen Wandel von Mimesis zu Poiesis bewegt. Die Wirklichkeit der Welt wird vom modernen Menschen im Westen daher immer mehr als Material verstanden, das von ihm verbraucht und umgestaltet werden kann. Aber nicht nur die Welt, sondern auch der eigene Körper und die eigene Identität werden immer mehr so betrachtet, als könne man sie fast beliebig verändern und seinen Vorstellungen anpassen.
Ähnlich wie Taylor hat sich auch Philip Rieff Gedanken über den Wandel der Gesellschaft gemacht. Rieff kommt dazu, in der Geschichte grob vier Typen zu unterscheiden. Diese vier Typen haben alle eine unterschiedliche Vorstellung von Identität. In der griechischen Antike sieht Rieff den Typus des politischen Menschen. Dieser findet seine Identität im öffentlichen Leben der Stadtgemeinschaft, er identifiziert sich mit seiner Polis. Später, im Mittelalter, wird der politische Mensch abgelöst durch den religiösen Menschen. Dessen Selbstverständnis entsteht durch die Teilnahme an religiösen Aktivitäten, dem Gottesdienst und dem Leben der Kirche. Für eine kurze Zeit wird dieser durch den wirtschaftlichen Menschen ersetzt, der sich primär durch Handel, Produktion und die Anhäufung von Geld definiert. Der letzte Typus – und damit auch der gegenwärtige – ist, nach Rieff, der psychologische Mensch.
Es hat also immer wieder Veränderungen darin gegeben, was man unter einem ‚Selbst‘ verstanden hat. Doch der letzte Wechsel ist besonders einschneidend. Der psychologische Mensch unterscheidet sich nämlich in einem Punkt völlig von all seinen Vorgängern: Als einziger findet er Identität nicht ‚aussen‘, sondern ‚innen‘. Der alte Athener fühlte sich seiner Polis verpflichtet, der Christ im Mittelalter seiner Kirche, und der Fabrikarbeiter im 20. Jahrhundert seiner Handelsgesellschaft. Der psychologische Mensch ist anders, er fühlt sich zuallererst nur sich selbst gegenüber verpflichtet – er muss sich selbst treu bleiben. Damit wird die frühere Ordnung umgekehrt. Selbst die Institutionen, in welchen sich der psychologische Mensch bewegt, werden umgedeutet: Schule, Kirche, oder Verein sind für ihn nicht länger Orte, die er besucht, um von aussen geformt zu werden, es sind vielmehr Bühnen, welche es ihm erlauben, sich selbst auszudrücken, und das, was in ihm lebt und ihn im Innersten ausmacht, in die Gesellschaft hinaus zu tragen.
Wie sich die Identität von einem äusseren Rahmen gelöst hat, so hat es in gewisser Weise auch die Sprache. Der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre hat diese Entwicklung ‚Emotivismus‘ genannt. Was meint er damit? Mehr und mehr hat sich die Auffassung verbreitet, dass alle Urteile darüber, was gut und was schlecht ist, eigentlich nichts anderes sind als Ausdrücke von persönlichen Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen. Das macht es allerdings mehr oder weniger sinnlos, von „gut“ und „schlecht“ zu reden. Denn diese Begriffe werden nur dann sinnvoll gebraucht, wenn sie sich auf etwas Absolutes beziehen, auf etwas, was an sich gut oder schlecht ist. McIntyre beklagt in seinem Buch After Virtue, dass wir diese moralischen Begriffe weiterhin verwenden, ohne zu bemerken, dass wir dabei das Eigentliche daran verloren haben, nämlich den transzendenten Rahmen, welcher moralischen Urteilen überhaupt einen Sinn verleiht. Wenn sich die moralische Sprache aber nur noch auf Gefühle und subjektive Urteile bezieht, ist es verwirrend, und teilweise sogar gefährlich, weiterhin von ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ zu sprechen.
Unterdrückung und Befreiung
Die Kultur hat sich also in eine Richtung entwickelt, in welcher sich der Einzelne von den Autoritäten und Ordnungen der Vergangenheit gelöst hat. Der Bezug zu Gott, oder irgendeiner Vorstellung einer heiligen oder transzendenten Ordnung, fehlt zunehmend. Mit dieser Abwendung kommt nun eine gewisse Tendenz auf, sich gegen die eigene Geschichte zu richten. Weil die eigene Vergangenheit als Quelle von Weisheit für die Gegenwart abgelehnt wird, entsteht eine negative Geschichtsschreibung. Denker wie Marx lesen die eigene Vergangenheit als eine lange Geschichte der Unterdrückung: Höhere Klassen unterdrücken niedrigere, die Kirche unterdrückt die Gläubigen, und das Individuum leidet unter dem Druck der Gesellschaft. Noch wird Unterdrückung vor allem wirtschaftlich verstanden, aber lange vor Marx wird mit Jean-Jacques Rousseau dieser Begriff stärker ins psychologische verschoben werden.
Rousseau eine Autobiografie mit dem Titel ‚Bekenntnisse‘ verfasst. Damit lehnt er sich an den Kirchenvater und Theologen Augustinus an, der ebenfalls ‚Bekenntnisse‘ verfasst hat, und darin die Sünden seiner Jugend reflektiert und seinen Weg zu Gott beschreibt. Interessanterweise macht Rousseau in seinen eigenen Bekenntnissen genau das Gegenteil: Er beschreibt zwar seinen Werdegang und seine Fehler, deutet diese aber als direkte Folge von äusseren Umständen. Sein Meister hat ihn schlecht behandelt, also ist er faul geworden und hat zu lügen begonnen. Sein Vater hat ihn zu hart gemassregelt, und so wurde er manipulativ. Dadurch entwickelt Rousseau, in krassem Kontrast zu Augustinus, eine durchaus positive Sicht der menschlichen Natur. Der Mensch in seinem natürlichen Zustand ist gesund und gut, was ihn korrumpiert – zur ‚Sünde‘ verleitet – ist sozialer Druck von aussen, kurz: Die Gesellschaft ist schuld. Nach Truemans Urteil wurde dieser Gedanke zu einer der wichtigsten sozialen und politischen Voraussetzungen unserer Zeit.
Ein spannendes Kapitel von Truemans Buch untersucht den Einfluss von Rousseaus Denken auf die Poeten Wordsworth, Blake, und Shelley, welche ihrerseits eine ganze Generation der Romantik geprägt haben. Rousseau hat den Naturzustand des Menschen idealisiert, und Wordsworth malte darauf den Lesern seiner Werke eine Rückkehr zum natürlichen, ländlichen Leben vor Augen. Seine Gedichte sind geprägt von einer Antithese, einem Kampf zwischen Natur und Kultur, wobei die Natur das Ideal ist, das durch den schädlichen Einfluss der Kultur zerstört wird.
Das Thema von Shelleys Denken ist die innere, rohe Kraft der Natur, die den Poeten bewegt und zu künstlerischem Ausdruck befähigt. Der Dichter wird zu einer Art Propheten, der mit der Stimme des urtümlichen, absoluten und natürlichen Lebens spricht. Damit rücken Kunst und Ästhetik für Shelley in die Nähe von Ethik und Politik. Die wirklich wichtigen Tugenden können im Menschen nur durch Formen der Kunst erzeugt werden, und die Poesie ist es, die den Menschen wirklich zum Menschen macht und ihn zum moralischen Urteil befähigt. Gleichzeitig ist Shelley ein scharfer Kritiker des Christentums. Gott ist für ihn ein Prototyp menschlicher Tyrannie, und Religion ein Machtsystem zur Unterdrückung von Minderheiten.
Wichtiger für Truemans Buch ist allerdings, dass bei Shelley eine klare Verbindung zwischen Religion, politischer Unterdrückung, und Restriktionen sexueller Aktivität auftaucht. Im Zentrum dieses Zusammenhanges steht die monogame Ehe. Für Shelley, wie auch für andere Denker seiner Zeit, stellt sie nur ein soziales Konstrukt dar, ein christliches Relikt, das geschaffen wurde, um den natürlichen Instinkt der Liebe zu kanalisieren und letztlich zu unterdrücken. Der einzige Weg, um sexuelle Verbindungen im Einklang mit der Natur wiederherzustellen, ist daher die Abschaffung der Ehe. Christliche Vorstellungen von Moral und lebenslanger Ehe sind für Shelley Instrumente der Unterdrückung, die Menschen fortgesetzt daran hindern, authentisch zu leben, sie sind daher grundsätzlich böse, gegen die Natur des Menschen. Vielleicht ist hier die erste Vorahnung einer Revolution zu finden, die in ihrem tiefsten Kern sexuell und antireligiös ist.
Gibt es eine menschliche Natur…
Auf dem nächsten Schritt zu dieser Revolution verbinden sich zwei Dinge: Einerseits eine radikale Kritik am Christentum, andererseits die Abschaffung des Konzepts einer menschlichen ‚Natur‘. Die Namen Nietzsche, Marx, und Darwin sind für diese Phase prägend. Nietzsche kritisiert gleichzeitig das Christentum und die Aufklärung: Beide müssen einsehen, dass ihre Ansprüche auf Wahrheit keine Aussagen über die objektive Realität, sondern Vereinnahmungen, Machtansprüche sind. Für Nietzsche ist es ein grundlegender Fehler des Menschen, sich eine ‚Natur‘ zu geben. Er sollte überhaupt nicht mehr in transzendenten Kategorien denken, die den Einzelnen übersteigen. Deswegen richtet sich Nietzsches Denken auf den Einzelnen: Ihm ist die Freiheit gegeben, sich selbst eine Moral zu geben, sich selbst zu erfinden.
In ähnlichen Bahnen denkt Marx: Er vertritt einen radikalen Materialismus, der von Transzendenz und einer Bestimmung des Menschen, die über diese Welt hinaus geht, nichts wissen will.
Darwins Evolutionstheorie schliesslich bringt, sozusagen als Nebenprodukt, mit sich, dass der Mensch nun nicht mehr so betrachtet wird, als sei er mit einem Ziel und einem Zweck geschaffen. Damit ist der Schritt vollzogen, so dass man nicht mehr von einer ‚menschlichen Natur‘ ausgeht. Dem Einzelnen ist die Freiheit, aber auch die Last gegeben, für die Gegenwart zu leben, nach Regeln, die er sich selber gibt.
…und was hat Sex damit zu tun?
Damit hat sich das Konzept des ‚Selbst‘ schon wesentlich verändert. Allerdings fehlt noch ein Schritt auf dem Weg zur Revolution. Noch wird Sex weitgehend als eine normale Aktivität des Menschen, und nicht als absolut fundamental für die menschliche Identität betrachtet. Hier kommt Sigmund Freud ins Spiel.
Von Freud stammt der Gedanke, dass die Befriedigung sexueller Bedürfnisse den eigentlichen Schlüssel zum Geheimnis der menschlichen Existenz darstellt. Nach Freud ist der Sinn des Menschen, glücklich zu sein. Sein grösstes Glück findet er aber im sexuellen Akt. Der Mensch muss daher als sein Lebensziel die sexuelle Befriedigung verfolgen, nur so kann er zur eigentlichen ‚Menschlichkeit‘ durchdringen. Vorstellungen von Moral werden dabei von Freud, ähnlich wie schon bei Shelley, als ein irrationales Hindernis betrachtet. Doch im Gegensatz zu Shelley schreibt Freud keine Gedichte, sondern verbreitet seine Gedanken in einem kühlen, objektiven wissenschaftlichen Stil, was ihnen weite Verbreitung garantiert.
Nun, da das ‚Selbst‘ sexualisiert ist, muss es noch politisiert werden. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, nach Truemans Einschätzung, die Kritische Theorie. Sie beruht auf einem relativ einfachen Set von Überzeugungen: Die Welt ist unterteilt in Machthaber und Unterdrückte. Die westliche Narrative von Wahrheit ist in Wirklichkeit nichts als ein ideologisches Konstrukt. Das Ziel der Kritischen Theorie ist daher Destabilisation: Sie will diese ungerechtfertigte Machtstruktur ins Wanken zu bringen. Wilhelm Reich, der selber nur lose mit der Frankfurter Schule in Verbindung steht, schafft eine wichtige Voraussetzung für die Kritische Theorie, indem er Elemente von Marx und Freud verbindet: Reich liest die Geschichte als eine Geschichte von ‚sexueller Unterdrückung‘, die durch die christliche Kirche ausgeübt, durch die Familie aber der nächsten Generation weitergegeben wurde. Wieder ist es die traditionelle, patriarchale Familie, die als Hindernis und als eine Einheit der Unterdrückung im Weg steht. Sie muss aufgelöst werden, wenn politische Befreiung geschehen soll. Schon 1936 ruft Reich deshalb nach einer sexuellen Revolution: Eine freie Gesellschaft muss den Raum schaffen, dass sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden können. Nicht einmal ein Kind darf moralisch zurecht gewiesen werden, sonst wird dessen sexuelle Entwicklung unterdrückt.
Mit der Sexualisierung der Revolution ist der entscheidende Schritt getan: Marx’ revolutionäre Politik hat eine sexuelle Form angenommen, und die Gesellschaft in einem Triumphzug verändert, bis zum Punkt, an welchem Sex jeden Aspekt des Lebens durchdringt.
Sex ohne Moral
Ein weiterer wichtiger Helfer dieser Entwicklung ist die Normalisierung von Pornografie in der Mainstream-Kultur. Hugh Hefners Playboy hat genau das geschafft: In einer genialen Marketing- Taktik hat er Interviews mit öffentlichen Figuren wie Orson Welles, Salvador Dalí und den Beatles mit Nacktbildern schöner Frauen verbunden. Damit hat er es geschafft, den Konsum von Pornografie von seinem sozialen Stigma zu lösen: Er wurde gesellschaftlich akzeptabel, wurde eine Lifestyle-Option.
Truemans schreibt über unterschiedliche Reaktionen auf diese Entwicklung: Frühere Generationen von Feministen verurteilten Pornografie als einen Teil der Unterdrückung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. In jüngeren Jahren gab es dagegen Stimmen, welche sich radikal für Pornografie aussprachen, weil sie der Frau zu einer neuen Entdeckung ihrer eigenen Sexualität verhelfen könne. Interessant ist es die Grundlage dieser Diskussion zu betrachten: Die moralische Frage tritt völlig in den Hintergrund. Entscheidend ist lediglich, ob das Individuum davon profitieren kann.
Trueman beschreibt den scharfen Kontrast zur traditionellen Sexualmoral, die sexuelle Aktivität nur dann als legitim beurteilt, wenn sie zwischen einem Mann und einer Frau in einer lebenslangen Partnerschaft ausgeübt wurde. Das bedeutete, dass notwendigerweise ein gewisses Mass an Respekt für die Bedürfnisse und Wünsche des Partners bei jedem sexuellen Akt vorhanden sein musste. Sexualität ging dabei über die momentane Befriedigung der Partner hinaus: Man sah im Sex eine tiefere Bedeutung, nämlich, dass die einzigartige Beziehung der Partner gestärkt und vertieft wurde. Pornografie löst die Sexualität aus diesem Kontext heraus, trennt sie von Liebe und Beziehung, und bewirkt dadurch – paradoxerweise – dass dem Sex gerade das Besondere genommen wird, dass er trivialisiert wird.
Transgender als Befreiung der Identität
Zum Schluss seines Werks kommt Trueman nochmals auf die Anfangsfrage zurück, und untersucht das Aufkommen der Transgender-Bewegung. Hier kommen die philosophischen Voraussetzungen, welchen der Autor bis in die Gegenwart gefolgt ist, zusammen. Bestimmte Voraussetzungen müssen schon gelten, damit Transgender in einer Gesellschaft überhaupt akzeptiert wird: Diese Gesellschaft muss überzeugt sein, dass die Psychologie wichtiger für die Bildung von Identität ist, als etwa der Körper oder äussere Faktoren. Eine solche Gesellschaft muss allgemein äusseren Autoritäten gegenüber kritisch eingestellt sein, ob es nun diejenigen der eigenen Biologie sind, oder die traditionellen Normen der Gesellschaft. Was den Erfolg der Bewegung erleichtert, ist ein ausgeprägter Individualismus und die Möglichkeit der Technologie, die biologische Realität zu manipulieren. Alle diese Faktoren findet Trueman in der westlichen Gesellschaft vor. An einem aktuellen Beispiel lässt sich beobachten, wie sie zusammenspielen:
Caitlyn Jenner, die als Bruce Jenner geboren wurde und sich umoperieren liess, sagte in einem Interview aus, ‚eine Lüge gelebt‘ zu haben. Die wahre Jenner – Caitlyn, nicht Bruce – sei immer da gewesen, als eine innerlich gefühlte Identität. Nur durch den Erwartungsdruck der Gesellschaft sei Bruce gezwungen worden, eine Art männliche Macho-Rolle zu spielen. Und Laurel Hubbard sagte in einem Interview 2017:
Ich bin, wer ich bin. Ich bin nicht hier, um die Welt zu ändern. Ich möchte einfach nur ich sein und machen, was ich mache. (Quelle: https://tokio.sportschau.de/tokio2020/nachrichten/Eine-Frage-der-Fairness-Erste-Transgender-Athletin-bei-Olympia-gestartet,olympia7326.html)
Ein Blick in die Zukunft
Am Ende seines Buches gibt Trueman einige Anregungen für die Zukunft. Zuerst spricht er eine Warnung an Christen aus: Sie müssen sich bewusst sein, dass sie gegenüber diesen Entwicklungen nicht immun sind. Die Kultur des ‚Modern Self‘, diese Kultur des expressiven Individualismus, die Identität als eine freie Wahl betrachtet und die Transgender-Bewegung hervorgebracht hat, ist auch unsere Kultur. Sie prägt uns. Ein Indiz dafür sieht Trueman darin, dass auch in christlichen Kreisen über Sexualität vor allem so diskutiert wird, dass persönliche Lebenserfahrungen im Zentrum stehen. Kaum einmal wird die Frage nach einem grösseren moralischen oder theologischen Rahmen gestellt. Es wäre aber dringend nötig, diesen theologischen Rahmen wieder zu entdecken!
Truemans Schlusswort an die Kirche ist daher, sie solle eine starke Gemeinschaft sein. Denn in der Gemeinschaft wird das moralische Bewusstsein geschärft. Die christliche Gemeinde im zweiten Jahrhundert war nur eine kleine Randgruppe in einer dominanten, pluralistischen Gesellschaft, noch dazu wurde sie als politisch gefährlich und moralisch verwerflich betrachtet. In gewisser Weise ist diese Welt auch unsere Welt. Das Christsein ist eine bewusste und mitunter mit Misstrauen beäugte Entscheidung. Darin kann die heutige Gemeinde aber von der Früheren lernen: Einer engen, lehrmässig gebundenen Gemeinschaft, die ihren Glauben auch gelebt hat, und der es gelungen ist, innerhalb weniger Jahrzehnte eine ganze Gesellschaft zu verändern.
Truemans Buch ist nicht unbedingt eine Strandlektüre. Über 400 Seiten Kulturanalyse müssen erst einmal gründlich verdaut werden. Trotzdem würde ich das Buch unbedingt weiterempfehlen, besonders denjenigen, die manchmal verwirrt sind von den raschen Veränderungen unserer Zeit. Trueman ist ein guter Reiseleiter durch den philosophischen Dschungel der letzten Jahrhunderte. Für ein Thema, das uns in den nächsten Jahren immer stärker beschäftigen wird, hat er mit diesem Werk einen sehr wichtigen Beitrag geschrieben.
Wow, danke für diesen fundierten Artikel! Ich freue mich auf weitere Texte von Dir!
Vielen Dank, liebe Regula! 😊
Lieber Claudio,
vielen Dank für die hilfreiche Rezension! Ich finde ebenfalls, dass dieses Buch einen substantiellen Beitrag zur Debatte leistet und viele Leser verdient.
Als junger Verlag “Verbum Medien” haben wir übrigens die Rechte an The Rise and Triumph of the Modern Self erworben und arbeiten derzeit an einer Übersetzung. Da, wie Du weißt, der Text sehr anspruchsvoll ist und auch eine gut lesbare Übersetzung viel Gespür und Fleiß erfordert, hoffen wir 2022 das Buch auf den deutschen Markt bringen zu können. Wir wünschen uns, dass durch das Werk auch in Europa der Diskurs neue Fahrt aufnimmt.
Liebe Grüße, Ron
Danke Ron — es wäre HAMMER das Buch möglichst bald auf dem deutschen Markt zu haben 👍
Vielen Dank, lieber Ron! Es würde mich auch sehr freuen, wenn das Werk auch hier im deutschsprachigen Raum Leser findet!