Aufstieg und Triumph des modernen Selbst

Lesezeit: 11 Minuten
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by Claudio Canonica | 03. Okt. 2021 | 5 comments

2021 schreibt Lau­rel Hub­bard im Gewichtheben an den Olymp­is­chen Spie­len von Tokio Geschichte – und dies, ohne einen einzi­gen gülti­gen Ver­such zu lan­den. Wie? Hub­bard wurde als Mann geboren und liess sich 2012 das Geschlecht oper­a­tiv anpassen. Es ist die erste Teil­nahme ein­er Trans­gen­der-Per­son an den Olymp­is­chen Spie­len. Hub­bards Teil­nahme löste eine Kon­tro­verse aus: Sie wurde ein­er­seits als Sieg der Trans­gen­der-Bewe­gung gefeiert, ander­er­seits kom­men­tierte eine Ath­letin, die in Hub­bards Gewicht­sklasse startet: “Für die Sportler fühlt sich das Ganze wie ein schlechter Witz an.”

Das Aufkom­men der Trans­gen­der-Bewe­gung hat viele Fra­gen und Kon­tro­ver­sen aus­gelöst. Der The­ologe und Kirchen­his­torik­er Carl R. True­man behauptet nicht, eine Antwort auf alle diese Fra­gen zu haben. Doch er möchte mit seinem Buch The Rise and Tri­umph of the Mod­ern Self: Cul­tur­al Amne­sia, Expres­sive Indi­vid­u­al­ism, and the Road to Sex­u­al Rev­o­lu­tion ein Vor­wort zur Diskus­sion liefern. Das ist ihm auch gelungen!

Das Buch gibt es aktuell in Englisch. Die Über­set­zung ins Deutsche soll 2022 erfolgen.

Eine Frau im Körper eines Mannes?

True­man begin­nt mit der Frage: Wie hat sich der Satz „Ich bin eine Frau, gefan­gen im Kör­p­er eines Mannes“ inner­halb von etwa zwei Gen­er­a­tio­nen von ein­er Lächer­lichkeit zu ein­er all­ge­mein akzep­tierten Posi­tion gewan­delt? Was bei True­mans Gross­vater noch einen Lachan­fall aus­gelöst hätte, darf man heute kaum noch in Frage stellen, ohne sich selb­st als dumm, irra­tional, oder Opfer ein­er selt­samen Pho­bie blosszustellen. In welch­er Weise hat sich die Gesellschaft der­art verän­dert, dass ein Satz, der so weitre­ichende Imp­lika­tio­nen hat, in ein­er Gen­er­a­tion noch kaum ver­standen wird, und zwei Gen­er­a­tio­nen später eine Art all­ge­meines Dog­ma darstellen kann? Der reformierte The­ologe und Kirchen­his­torik­er Carl R. True­man startet den Ver­such, diese Geschichte zu erzählen.

Will man True­man glauben, dann geht es hier nicht nur um eine verän­derte Sex­u­alethik und einige neue Geschlechter­pronomen, son­dern um etwas viel Tief­eres. Sog­ar die sex­uelle Rev­o­lu­tion der sechziger Jahre, die den jüng­sten Entwick­lun­gen voraus­ge­gan­gen ist, ist in True­mans Augen nicht sel­ber die Ursache, son­dern ein Symp­tom. Ein Symp­tom dessen, dass die Gesellschaft heute eine verän­derte Auf­fas­sung dessen ver­tritt, was es bedeutet, ein ‚Selb­st‘ zu sein.

True­mans Buch ist eine Analyse dieser Verän­derung, eine Antwort auf die Frage, wie es zu diesem ‚Mod­ern Self‘ kom­men kon­nte. Er bezieht sich dabei stark auf drei andere Denker: Den Philosophen Charles Tay­lor, den Psy­cholo­gen und Sozi­olo­gen Philip Rieff, und den Ethik­er Alas­dair Mac­In­tyre. Sie alle sind, wie True­man, der Ansicht, dass sich im West­en in den let­zten Jahrhun­derten das Konzept von Iden­tität  – die Frage, was ein ‚ich‘ eigentlich ist – radikal verän­dert hat.

Drei The­sen dieser Denker möchte ich hier, nach der Zusam­men­fas­sung von True­man, kurz wiedergeben:

Drei wichtige Denker

Vere­in­facht gesagt, beze­ich­nen die Worte Mime­sis und Poiesis zwei Weisen, die Wirk­lichkeit wahrzunehmen. Eine mimetis­che Sichtweise betra­chtet die Welt als in sich sel­ber geord­net. Der Men­sch find­et sich in ein­er Wirk­lichkeit wieder, die selb­st bes­timmten Ord­nun­gen und Geset­zen fol­gt. Deshalb ist es sein Ziel, diese Ord­nung zu ent­deck­en und sich selb­st danach zu richt­en. Poiesis dage­gen betra­chtet die Welt als rohes Mate­r­i­al, welch­es vom einzel­nen Men­schen bear­beit­et, und erst dadurch mit Sinn erfüllt wer­den kann. In seinen bei­den Hauptwerken „Quellen des Selb­st“ und „Ein säku­lares Zeital­ter“ kommt Charles Tay­lor zum Ergeb­nis: Die west­liche Kul­tur hat sich durch einen kom­plex­en Wan­del von Mime­sis zu Poiesis bewegt. Die Wirk­lichkeit der Welt wird vom mod­er­nen Men­schen im West­en daher immer mehr als Mate­r­i­al ver­standen, das von ihm ver­braucht und umgestal­tet wer­den kann. Aber nicht nur die Welt, son­dern auch der eigene Kör­p­er und die eigene Iden­tität wer­den immer mehr so betra­chtet, als könne man sie fast beliebig verän­dern und seinen Vorstel­lun­gen anpassen.

Ähn­lich wie Tay­lor hat sich auch Philip Rieff Gedanken über den Wan­del der Gesellschaft gemacht. Rieff kommt dazu, in der Geschichte grob vier Typen zu unter­schei­den. Diese vier Typen haben alle eine unter­schiedliche Vorstel­lung von Iden­tität. In der griechis­chen Antike sieht Rieff den Typus des poli­tis­chen Men­schen. Dieser find­et seine Iden­tität im öffentlichen Leben der Stadt­ge­mein­schaft, er iden­ti­fiziert sich mit sein­er Polis. Später, im Mit­te­lal­ter, wird der poli­tis­che Men­sch abgelöst durch den religiösen Men­schen. Dessen Selb­stver­ständ­nis entste­ht durch die Teil­nahme an religiösen Aktiv­itäten, dem Gottes­di­enst und dem Leben der Kirche. Für eine kurze Zeit wird dieser durch den wirtschaftlichen Men­schen erset­zt, der sich primär durch Han­del, Pro­duk­tion und die Anhäu­fung von Geld definiert. Der let­zte Typus – und damit auch der gegen­wär­tige – ist, nach Rieff, der psy­chol­o­gis­che Men­sch.

Es hat also immer wieder Verän­derun­gen darin gegeben, was man unter einem ‚Selb­st‘ ver­standen hat. Doch der let­zte Wech­sel ist beson­ders ein­schnei­dend. Der psy­chol­o­gis­che Men­sch unter­schei­det sich näm­lich in einem Punkt völ­lig von all seinen Vorgängern: Als einziger find­et er Iden­tität nicht ‚aussen‘, son­dern ‚innen‘. Der alte Athen­er fühlte sich sein­er Polis verpflichtet, der Christ im Mit­te­lal­ter sein­er Kirche, und der Fab­rikar­beit­er im 20. Jahrhun­dert sein­er Han­dels­ge­sellschaft. Der psy­chol­o­gis­che Men­sch ist anders, er fühlt sich zuallererst nur sich selb­st gegenüber verpflichtet – er muss sich selb­st treu bleiben. Damit wird die frühere Ord­nung umgekehrt. Selb­st die Insti­tu­tio­nen, in welchen sich der psy­chol­o­gis­che Men­sch bewegt, wer­den umgedeutet: Schule, Kirche, oder Vere­in sind für ihn nicht länger Orte, die er besucht, um von aussen geformt zu wer­den, es sind vielmehr Büh­nen, welche es ihm erlauben, sich selb­st auszu­drück­en, und das, was in ihm lebt und ihn im Inner­sten aus­macht, in die Gesellschaft hin­aus zu tragen.

Wie sich die Iden­tität von einem äusseren Rah­men gelöst hat, so hat es in gewiss­er Weise auch die Sprache. Der Moral­philosoph Alas­dair Mac­In­tyre hat diese Entwick­lung ‚Emo­tivis­mus‘ genan­nt. Was meint er damit? Mehr und mehr hat sich die Auf­fas­sung ver­bre­it­et, dass alle Urteile darüber, was gut und was schlecht ist, eigentlich nichts anderes sind als Aus­drücke von per­sön­lichen Vor­lieben, Ein­stel­lun­gen oder Gefühlen. Das macht es allerd­ings mehr oder weniger sinn­los, von „gut“ und „schlecht“ zu reden. Denn diese Begriffe wer­den nur dann sin­nvoll gebraucht, wenn sie sich auf etwas Absolutes beziehen, auf etwas, was an sich gut oder schlecht ist. McIn­tyre beklagt in seinem Buch After Virtue, dass wir diese moralis­chen Begriffe weit­er­hin ver­wen­den, ohne zu bemerken, dass wir dabei das Eigentliche daran ver­loren haben, näm­lich den tran­szen­den­ten Rah­men, welch­er moralis­chen Urteilen über­haupt einen Sinn ver­lei­ht. Wenn sich die moralis­che Sprache aber nur noch auf Gefüh­le und sub­jek­tive Urteile bezieht, ist es ver­wirrend, und teil­weise sog­ar gefährlich, weit­er­hin von ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ zu sprechen.

Unterdrückung und Befreiung

Die Kul­tur hat sich also in eine Rich­tung entwick­elt, in welch­er sich der Einzelne von den Autoritäten und Ord­nun­gen der Ver­gan­gen­heit gelöst hat. Der Bezug zu Gott, oder irgen­dein­er Vorstel­lung ein­er heili­gen oder tran­szen­den­ten Ord­nung, fehlt zunehmend. Mit dieser Abwen­dung kommt nun eine gewisse Ten­denz auf, sich gegen die eigene Geschichte zu richt­en. Weil die eigene Ver­gan­gen­heit als Quelle von Weisheit für die Gegen­wart abgelehnt wird, entste­ht eine neg­a­tive Geschichtss­chrei­bung. Denker wie Marx lesen die eigene Ver­gan­gen­heit als eine lange Geschichte der Unter­drück­ung: Höhere Klassen unter­drück­en niedrigere, die Kirche unter­drückt die Gläu­bi­gen, und das Indi­vidu­um lei­det unter dem Druck der Gesellschaft. Noch wird Unter­drück­ung vor allem wirtschaftlich ver­standen, aber lange vor Marx wird mit Jean-Jacques Rousseau dieser Begriff stärk­er ins psy­chol­o­gis­che ver­schoben werden.

Rousseau eine Auto­bi­ografie mit dem Titel ‚Beken­nt­nisse‘ ver­fasst. Damit lehnt er sich an den Kirchen­vater und The­olo­gen Augusti­nus an, der eben­falls ‚Beken­nt­nisse‘ ver­fasst hat, und darin die Sün­den sein­er Jugend reflek­tiert und seinen Weg zu Gott beschreibt. Inter­es­san­ter­weise macht Rousseau in seinen eige­nen Beken­nt­nis­sen genau das Gegen­teil: Er beschreibt zwar seinen Werde­gang und seine Fehler, deutet diese aber als direk­te Folge von äusseren Umstän­den. Sein Meis­ter hat ihn schlecht behan­delt, also ist er faul gewor­den und hat zu lügen begonnen. Sein Vater hat ihn zu hart gemass­regelt, und so wurde er manip­u­la­tiv. Dadurch entwick­elt Rousseau, in krassem Kon­trast zu Augusti­nus, eine dur­chaus pos­i­tive Sicht der men­schlichen Natur. Der Men­sch in seinem natür­lichen Zus­tand ist gesund und gut, was ihn kor­rumpiert – zur ‚Sünde‘ ver­leit­et – ist sozialer Druck von aussen, kurz: Die Gesellschaft ist schuld. Nach True­mans Urteil wurde dieser Gedanke zu ein­er der wichtig­sten sozialen und poli­tis­chen Voraus­set­zun­gen unser­er Zeit.

Ein span­nen­des Kapi­tel von True­mans Buch unter­sucht den Ein­fluss von Rousseaus Denken auf die Poet­en Wordsworth, Blake, und Shel­ley, welche ihrer­seits eine ganze Gen­er­a­tion der Roman­tik geprägt haben. Rousseau hat den Naturzu­s­tand des Men­schen ide­al­isiert, und Wordsworth malte darauf den Lesern sein­er Werke eine Rück­kehr zum natür­lichen, ländlichen Leben vor Augen. Seine Gedichte sind geprägt von ein­er Antithese, einem Kampf zwis­chen Natur und Kul­tur, wobei die Natur das Ide­al ist, das durch den schädlichen Ein­fluss der Kul­tur zer­stört wird.

Das The­ma von Shel­leys Denken ist die innere, rohe Kraft der Natur, die den Poet­en bewegt und zu kün­st­lerischem Aus­druck befähigt. Der Dichter wird zu ein­er Art Propheten, der mit der Stimme des urtüm­lichen, absoluten und natür­lichen Lebens spricht. Damit rück­en Kun­st und Ästhetik für Shel­ley in die Nähe von Ethik und Poli­tik. Die wirk­lich wichti­gen Tugen­den kön­nen im Men­schen nur durch For­men der Kun­st erzeugt wer­den, und die Poe­sie ist es, die den Men­schen wirk­lich zum Men­schen macht und ihn zum moralis­chen Urteil befähigt. Gle­ichzeit­ig ist Shel­ley ein schar­fer Kri­tik­er des Chris­ten­tums. Gott ist für ihn ein Pro­to­typ men­schlich­er Tyran­nie, und Reli­gion ein Macht­sys­tem zur Unter­drück­ung von Minderheiten.

Wichtiger für True­mans Buch ist allerd­ings, dass bei Shel­ley eine klare Verbindung zwis­chen Reli­gion, poli­tis­ch­er Unter­drück­ung, und Restrik­tio­nen sex­ueller Aktiv­ität auf­taucht. Im Zen­trum dieses Zusam­men­hanges ste­ht die monogame Ehe. Für Shel­ley, wie auch für andere Denker sein­er Zeit, stellt sie nur ein soziales Kon­strukt dar, ein christlich­es Relikt, das geschaf­fen wurde, um den natür­lichen Instinkt der Liebe zu kanal­isieren und let­ztlich zu unter­drück­en. Der einzige Weg, um sex­uelle Verbindun­gen im Ein­klang mit der Natur wieder­herzustellen, ist daher die Abschaf­fung der Ehe. Christliche Vorstel­lun­gen von Moral und lebenslanger Ehe sind für Shel­ley Instru­mente der Unter­drück­ung, die Men­schen fort­ge­set­zt daran hin­dern, authen­tisch zu leben, sie sind daher grund­sät­zlich böse, gegen die Natur des Men­schen. Vielle­icht ist hier die erste Vorah­nung ein­er Rev­o­lu­tion zu find­en, die in ihrem tief­sten Kern sex­uell und antire­ligiös ist.

Gibt es eine menschliche Natur…

Auf dem näch­sten Schritt zu dieser Rev­o­lu­tion verbinden sich zwei Dinge: Ein­er­seits eine radikale Kri­tik am Chris­ten­tum, ander­er­seits die Abschaf­fung des Konzepts ein­er men­schlichen ‚Natur‘. Die Namen Niet­zsche, Marx, und Dar­win sind für diese Phase prä­gend. Niet­zsche kri­tisiert gle­ichzeit­ig das Chris­ten­tum und die Aufk­lärung: Bei­de müssen ein­se­hen, dass ihre Ansprüche auf Wahrheit keine Aus­sagen über die objek­tive Real­ität, son­dern Vere­in­nah­mungen, Mach­tansprüche sind. Für Niet­zsche ist es ein grundle­gen­der Fehler des Men­schen, sich eine ‚Natur‘ zu geben. Er sollte über­haupt nicht mehr in tran­szen­den­ten Kat­e­gorien denken, die den Einzel­nen über­steigen. Deswe­gen richtet sich Niet­zsches Denken auf den Einzel­nen: Ihm ist die Frei­heit gegeben, sich selb­st eine Moral zu geben, sich selb­st zu erfinden.

In ähn­lichen Bah­nen denkt Marx: Er ver­tritt einen radikalen Mate­ri­al­is­mus, der von Tran­szen­denz und ein­er Bes­tim­mung des Men­schen, die über diese Welt hin­aus geht, nichts wis­sen will.

Dar­wins Evo­lu­tion­s­the­o­rie schliesslich bringt, sozusagen als Neben­pro­dukt, mit sich, dass der Men­sch nun nicht mehr so betra­chtet wird, als sei er mit einem Ziel und einem Zweck geschaf­fen. Damit ist der Schritt vol­l­zo­gen, so dass man nicht mehr von ein­er ‚men­schlichen Natur‘ aus­ge­ht. Dem Einzel­nen ist die Frei­heit, aber auch die Last gegeben, für die Gegen­wart zu leben, nach Regeln, die er sich sel­ber gibt.

…und was hat Sex damit zu tun?

Damit hat sich das Konzept des ‚Selb­st‘ schon wesentlich verän­dert. Allerd­ings fehlt noch ein Schritt auf dem Weg zur Rev­o­lu­tion. Noch wird Sex weit­ge­hend als eine nor­male Aktiv­ität des Men­schen, und nicht als abso­lut fun­da­men­tal für die men­schliche Iden­tität betra­chtet. Hier kommt Sig­mund Freud ins Spiel.

Von Freud stammt der Gedanke, dass die Befriedi­gung sex­ueller Bedürfnisse den eigentlichen Schlüs­sel zum Geheim­nis der men­schlichen Exis­tenz darstellt. Nach Freud ist der Sinn des Men­schen, glück­lich zu sein. Sein grösstes Glück find­et er aber im sex­uellen Akt. Der Men­sch muss daher als sein Leben­sziel die sex­uelle Befriedi­gung ver­fol­gen, nur so kann er zur eigentlichen ‚Men­schlichkeit‘ durch­drin­gen. Vorstel­lun­gen von Moral wer­den dabei von Freud, ähn­lich wie schon bei Shel­ley, als ein irra­tionales Hin­der­nis betra­chtet. Doch im Gegen­satz zu Shel­ley schreibt Freud keine Gedichte, son­dern ver­bre­it­et seine Gedanken in einem kühlen, objek­tiv­en wis­senschaftlichen Stil, was ihnen weite Ver­bre­itung garantiert.

Nun, da das ‚Selb­st‘ sex­u­al­isiert ist, muss es noch poli­tisiert wer­den. Einen wesentlichen Beitrag dazu leis­tet, nach True­mans Ein­schätzung, die Kri­tis­che The­o­rie. Sie beruht auf einem rel­a­tiv ein­fachen Set von Überzeu­gun­gen: Die Welt ist unterteilt in Machthaber und Unter­drück­te. Die west­liche Nar­ra­tive von Wahrheit ist in Wirk­lichkeit nichts als ein ide­ol­o­gis­ches Kon­strukt. Das Ziel der Kri­tis­chen The­o­rie ist daher Desta­bil­i­sa­tion: Sie will diese ungerecht­fer­tigte Macht­struk­tur ins Wanken zu brin­gen. Wil­helm Reich, der sel­ber nur lose mit der Frank­furter Schule in Verbindung ste­ht, schafft eine wichtige Voraus­set­zung für die Kri­tis­che The­o­rie, indem er Ele­mente von Marx und Freud verbindet: Reich liest die Geschichte als eine Geschichte von ‚sex­ueller Unter­drück­ung‘, die durch die christliche Kirche aus­geübt, durch die Fam­i­lie aber der näch­sten Gen­er­a­tion weit­ergegeben wurde. Wieder ist es die tra­di­tionelle, patri­ar­chale Fam­i­lie, die als Hin­der­nis und als eine Ein­heit der Unter­drück­ung im Weg ste­ht. Sie muss aufgelöst wer­den, wenn poli­tis­che Befreiung geschehen soll. Schon 1936 ruft Reich deshalb nach ein­er sex­uellen Rev­o­lu­tion: Eine freie Gesellschaft muss den Raum schaf­fen, dass sex­uelle Bedürfnisse befriedigt wer­den kön­nen. Nicht ein­mal ein Kind darf moralisch zurecht gewiesen wer­den, son­st wird dessen sex­uelle Entwick­lung unterdrückt.

Mit der Sex­u­al­isierung der Rev­o­lu­tion ist der entschei­dende Schritt getan: Marx’ rev­o­lu­tionäre Poli­tik hat eine sex­uelle Form angenom­men, und die Gesellschaft in einem Tri­umphzug verän­dert, bis zum Punkt, an welchem Sex jeden Aspekt des Lebens durchdringt.

Sex ohne Moral

Ein weit­er­er wichtiger Helfer dieser Entwick­lung ist die Nor­mal­isierung von Pornografie in der Main­stream-Kul­tur. Hugh Hefn­ers Play­boy hat genau das geschafft: In ein­er genialen Mar­ket­ing- Tak­tik hat er Inter­views mit öffentlichen Fig­uren wie Orson Welles, Sal­vador Dalí und den Bea­t­les mit Nack­t­bildern schön­er Frauen ver­bun­den. Damit hat er es geschafft, den Kon­sum von Pornografie von seinem sozialen Stig­ma zu lösen: Er wurde gesellschaftlich akzept­abel, wurde eine Lifestyle-Option.

True­mans schreibt über unter­schiedliche Reak­tio­nen auf diese Entwick­lung: Frühere Gen­er­a­tio­nen von Fem­i­nis­ten verurteil­ten Pornografie als einen Teil der Unter­drück­ung von Frauen in ein­er patri­ar­chalen Gesellschaft. In jün­geren Jahren gab es dage­gen Stim­men, welche sich radikal für Pornografie aussprachen, weil sie der Frau zu ein­er neuen Ent­deck­ung ihrer eige­nen Sex­u­al­ität ver­helfen könne. Inter­es­sant ist es die Grund­lage dieser Diskus­sion zu betra­cht­en: Die moralis­che Frage tritt völ­lig in den Hin­ter­grund. Entschei­dend ist lediglich, ob das Indi­vidu­um davon prof­i­tieren kann.

True­man beschreibt den schar­fen Kon­trast zur tra­di­tionellen Sex­ual­moral, die sex­uelle Aktiv­ität nur dann als legit­im beurteilt, wenn sie zwis­chen einem Mann und ein­er Frau in ein­er lebenslan­gen Part­ner­schaft aus­geübt wurde. Das bedeutete, dass notwendi­ger­weise ein gewiss­es Mass an Respekt für die Bedürfnisse und Wün­sche des Part­ners bei jedem sex­uellen Akt vorhan­den sein musste. Sex­u­al­ität ging dabei über die momen­tane Befriedi­gung der Part­ner hin­aus: Man sah im Sex eine tief­ere Bedeu­tung, näm­lich, dass die einzi­gar­tige Beziehung der Part­ner gestärkt und ver­tieft wurde. Pornografie löst die Sex­u­al­ität aus diesem Kon­text her­aus, tren­nt sie von Liebe und Beziehung, und bewirkt dadurch – para­dox­er­weise – dass dem Sex ger­ade das Beson­dere genom­men wird, dass er triv­i­al­isiert wird.

Transgender als Befreiung der Identität

Zum Schluss seines Werks kommt True­man nochmals auf die Anfangs­frage zurück, und unter­sucht das Aufkom­men der Trans­gen­der-Bewe­gung. Hier kom­men die philosophis­chen Voraus­set­zun­gen, welchen der Autor bis in die Gegen­wart gefol­gt ist, zusam­men. Bes­timmte Voraus­set­zun­gen müssen schon gel­ten, damit Trans­gen­der in ein­er Gesellschaft über­haupt akzep­tiert wird: Diese Gesellschaft muss überzeugt sein, dass die Psy­cholo­gie wichtiger für die Bil­dung von Iden­tität ist, als etwa der Kör­p­er oder äussere Fak­toren. Eine solche Gesellschaft muss all­ge­mein äusseren Autoritäten gegenüber kri­tisch eingestellt sein, ob es nun diejeni­gen der eige­nen Biolo­gie sind, oder die tra­di­tionellen Nor­men der Gesellschaft. Was den Erfolg der Bewe­gung erle­ichtert, ist ein aus­geprägter Indi­vid­u­al­is­mus und die Möglichkeit der Tech­nolo­gie, die biol­o­gis­che Real­ität zu manip­ulieren. Alle diese Fak­toren find­et True­man in der west­lichen Gesellschaft vor. An einem aktuellen Beispiel lässt sich beobacht­en, wie sie zusammenspielen:

Cait­lyn Jen­ner, die als Bruce Jen­ner geboren wurde und sich umoperieren liess, sagte in einem Inter­view aus, ‚eine Lüge gelebt‘ zu haben. Die wahre Jen­ner – Cait­lyn, nicht Bruce – sei immer da gewe­sen, als eine inner­lich gefühlte Iden­tität. Nur durch den Erwartungs­druck der Gesellschaft sei Bruce gezwun­gen wor­den, eine Art männliche Macho-Rolle zu spie­len. Und Lau­rel Hub­bard sagte in einem Inter­view 2017:

Ich bin, wer ich bin. Ich bin nicht hier, um die Welt zu ändern. Ich möchte ein­fach nur ich sein und machen, was ich mache. (Quelle: https://tokio.sportschau.de/tokio2020/nachrichten/Eine-Frage-der-Fairness-Erste-Transgender-Athletin-bei-Olympia-gestartet,olympia7326.html)

Ein Blick in die Zukunft

Am Ende seines Buch­es gibt True­man einige Anre­gun­gen für die Zukun­ft. Zuerst spricht er eine War­nung an Chris­ten aus: Sie müssen sich bewusst sein, dass sie gegenüber diesen Entwick­lun­gen nicht immun sind. Die Kul­tur des ‚Mod­ern Self‘, diese Kul­tur des expres­siv­en Indi­vid­u­al­is­mus, die Iden­tität als eine freie Wahl betra­chtet und die Trans­gen­der-Bewe­gung her­vorge­bracht hat, ist auch unsere Kul­tur. Sie prägt uns. Ein Indiz dafür sieht True­man darin, dass auch in christlichen Kreisen über Sex­u­al­ität vor allem so disku­tiert wird, dass per­sön­liche Lebenser­fahrun­gen im Zen­trum ste­hen. Kaum ein­mal wird die Frage nach einem grösseren moralis­chen oder the­ol­o­gis­chen Rah­men gestellt. Es wäre aber drin­gend nötig, diesen the­ol­o­gis­chen Rah­men wieder zu entdecken!

True­mans Schluss­wort an die Kirche ist daher, sie solle eine starke Gemein­schaft sein. Denn in der Gemein­schaft wird das moralis­che Bewusst­sein geschärft. Die christliche Gemeinde im zweit­en Jahrhun­dert war nur eine kleine Rand­gruppe in ein­er dom­i­nan­ten, plu­ral­is­tis­chen Gesellschaft, noch dazu wurde sie als poli­tisch gefährlich und moralisch ver­w­er­flich betra­chtet. In gewiss­er Weise ist diese Welt auch unsere Welt. Das Christ­sein ist eine bewusste und mitunter mit Mis­strauen beäugte Entschei­dung. Darin kann die heutige Gemeinde aber von der Früheren ler­nen: Ein­er engen, lehrmäs­sig gebun­de­nen Gemein­schaft, die ihren Glauben auch gelebt hat, und der es gelun­gen ist, inner­halb weniger Jahrzehnte eine ganze Gesellschaft zu verändern.

True­mans Buch ist nicht unbe­d­ingt eine Stran­dlek­türe. Über 400 Seit­en Kul­tur­analyse müssen erst ein­mal gründlich ver­daut wer­den. Trotz­dem würde ich das Buch unbe­d­ingt weit­erempfehlen, beson­ders den­jeni­gen, die manch­mal ver­wirrt sind von den raschen Verän­derun­gen unser­er Zeit. True­man ist ein guter Reise­leit­er durch den philosophis­chen Dschun­gel der let­zten Jahrhun­derte. Für ein The­ma, das uns in den näch­sten Jahren immer stärk­er beschäfti­gen wird, hat er mit diesem Werk einen sehr wichti­gen Beitrag geschrieben.

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Kommentare zu diesen Beitrag

5 Comments

  1. Regula Lehmann

    Wow, danke für diesen fundierten Artikel! Ich freue mich auf weit­ere Texte von Dir!

    Reply
    • Claudio Canonica

      Vie­len Dank, liebe Regula! 😊

      Reply
  2. Ron Kubsch

    Lieber Clau­dio,

    vie­len Dank für die hil­fre­iche Rezen­sion! Ich finde eben­falls, dass dieses Buch einen sub­stantiellen Beitrag zur Debat­te leis­tet und viele Leser verdient. 

    Als junger Ver­lag “Ver­bum Medi­en” haben wir übri­gens die Rechte an The Rise and Tri­umph of the Mod­ern Self erwor­ben und arbeit­en derzeit an ein­er Über­set­zung. Da, wie Du weißt, der Text sehr anspruchsvoll ist und auch eine gut les­bare Über­set­zung viel Gespür und Fleiß erfordert, hof­fen wir 2022 das Buch auf den deutschen Markt brin­gen zu kön­nen. Wir wün­schen uns, dass durch das Werk auch in Europa der Diskurs neue Fahrt aufnimmt.

    Liebe Grüße, Ron

    Reply
    • Paul Bruderer

      Danke Ron — es wäre HAMMER das Buch möglichst bald auf dem deutschen Markt zu haben 👍

      Reply
    • Claudio Canonica

      Vie­len Dank, lieber Ron! Es würde mich auch sehr freuen, wenn das Werk auch hier im deutschsprachi­gen Raum Leser findet!

      Reply

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