Wir verloren im Jahr 2013 unsere Tochter Evelyne durch ihren Suizid. Ich möchte euch Anteil geben an der Geschichte, die Gott mit uns in dieser Zeit schreibt. Seine Hoffnung ist in unser Leben gekommen!
Unsere älteste Tochter Evelyne war schon immer die selbständigste unserer drei Kinder. Sie wirkte verantwortungsvoll, umsichtig. Schon als Kind sagte sie (und ihre jüngere Schwester): “Ich will auch an Jesus glauben”. Das machten wir damals in einem gemeinsamen Gebet fest. Später engagierte sie sich in der Jungschar als Leiterin. Es war eine Freude zu sehen, wie sie aufblühte; je mehr Kinder um sie herum waren, desto wohler war ihr. Nach der Schule entschied sie sich für eine Lehre als Kauffrau.
Nach Abschluss der Lehre fand sie eine Stelle in einem KMU der Region am Empfang. Sie machte dort ihren Job so gut, dass ihr Chef ihr rasch mehr Verantwortung übertrug: Wenn er abwesend war, sollte sie die Jungs im Aussendienst organisieren, die Arbeiten zuteilen. Das gelang ihr. Später vertraute er ihr sogar eine neue Mitarbeiterin an, die etwas Extra-Betreuung brauchte.
Umweg Australien für die berufliche Zukunft
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Irgendwann merkte Evelyne, dass das nicht ihr Beruf fürs Leben ist. Aber was ist es denn? Mehr Umgang mit Menschen sollte her, auch mehr Abenteuer. Sie fasste den Plan, für 1 Jahr nach Neuseeland zu reisen, um dort an einer Sprachschule ihr gutes Englisch auf Business-Niveau zu hieven. Die Agentur, die solche Reisen vermittelte, bereitete sie darauf vor, dass es extrem schwierig sei, für Neuseeland eine Einreisebewilligung zu erhalten. Die Hürden seien extrem hoch. Alternativ könnte Australien in Frage kommen. Dort klappe es fast immer, aber fast immer erst im letzten Moment. Sie müsse also Geduld haben.
So kam es dann auch. In Australien genoss sie ein wunderbares, traumhaftes Jahr. Als Hilfslehrerin in einer Schule mit etwa 700 Kindern und 200 Lehrkräften sollte sie während dem Unterricht Kindern helfen. Und während der schulfreien Zeit (die Kinder wohnten die Woche über jeweils auf dem Schulcampus) sollte sie zu den Kindern schauen. Sie war ganz in ihrem Element.
Sie unternahm Reisen durch Australien, skypte mit uns und fand gegen Ende des Australienjahres die Gewissheit, dass sie nochmals eine Ausbildung machen wollte zur Kleinkindererzieherin. Trotz ihren Bemühungen, aus Australien in der Schweiz wieder Unterkunft und Arbeit zu finden, blieb das erfolglos. Inzwischen hatte sie auch herausgefunden, wie sie zu dieser gewünschten Ausbildung kommen könnte. Unterdessen mussten wir als Familie in eine kleinere Wohnung umziehen. Trotzdem beschlossen wir, dass Evelyne nach ihrer Rückkehr in die CH einfach mal bei uns wieder einziehen sollte.
Was ist mit Evelyne los?
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Sie fand Arbeit (temporär eine Stellvertretung für eine Frau im Mutterschaftsurlaub) und mit zwei Freundinnen konnte sie ein kleines zum späteren Abbruch vorgesehenes Häuschen in Wollishofen beziehen. Wir zügelten ihre Habseligkeiten und richteten ihr Zimmer dort ein — romantisch im Dachstock mit Blick über die alte Genossenschaftssiedlung. Sie hatte dort eine schöne, gute Zeit und eine gute Stelle mit einem guten Chef. Sie besuchte uns ziemlich regelmässig an den Wochenenden und wirkte immer aufgestellt und lebensfroh.
Am Sonntag, 06.01.2013 — wir waren gerade am Mittagessen, läutete das Telefon. Ich nahm ab. “Hallo Viktor”, meldete sich eine von Evelyne’s WG-Freundinnen etwas schüchtern, “ich wollte nur mal fragen, wie es Evelyne geht”. Hm?, stutzte ich und dachte gerade: warum fragst du mich das? Sie ist doch bei euch? Da bemerkte diese Freundin: “Ach, du weisst noch gar nichts?” “Ähm, was sollte ich wissen?” “Oh, Entschuldigung … die Polizei war da, hat Evelyne’s Zimmer durchsucht. Evelyne ist auf dem Polizeiposten in Zürich …” “Was?!?” …
Ich hatte das Telefongespräch noch nicht beendet, recherchierte unsere jüngere Tochter bereits selber nach. Ja, bestätigte sie dann gleich, Evelyne sei auf der Hauptwache der Polizei in Zürich. Aber mehr sagte die Polizei nicht. Kurz darauf läutete es wieder. Evelyne durfte uns persönlich anrufen. “Sali Bappi, ja, ich glaube, ich habe eine Dummheit gemacht. Ich werde jetzt in eine Klinik gebracht. Der Krankenwagen steht schon draussen.” Wohin wirst du gebracht, Evelyne?” Ich höre, wie sie die Polizisten neben sich fragt. “Kilchberg”, sagt sie. “Dürfen wir dich besuchen kommen, Evelyne?” “Ja, gerne”, höre ich ihre verunsicherte Stimme. “Gut, wir kommen, gell. Bis bald.” Und dann lassen wir alles stehen und liegen.
Die psychiatrische Klinik
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In der psychiatrischen Klinik Kilchberg angekommen, treffen wir auf die Psychologin, die eben zusammen mit unserer Evelyne aus dem Besprechungszimmer herauskommt. Evelyne ist etwas blass, macht auf uns aber einen sonst normalen Eindruck. Sie lächelt uns an, mit etwas verklärtem Blick (was mir aber erst hinterher bewusster wird). Wir erfahren, dass Evelyne von einer Autobahnbrücke in der Nähe ihres Wohnortes herunterspringen wollte (oder von einer Brücke auf die Autobahn herunter). Passanten hätten sie beobachtet, die Polizei alarmiert, und die war rechtzeitig da und konnte Evelyne dazu bewegen, da wieder herunter zu kommen — erfolgreich.
Die Psychologin meint, das sei vermutlich einfach eine Kurzschlusshandlung gewesen, gar nicht wirklich die Absicht unserer Tochter. Sie sehe das durchaus ein. Möglicherweise wäre das ganze schon überstanden. Aber sicherheitshalber möchten sie unsere Tochter noch eine Nacht zur Beobachtung hierbehalten. Wir sind alle einverstanden. Wir bleiben noch ein paar Momente bei Evelyne, bevor wir uns wieder verabschieden und nach Hause fahren (es wird langsam Abend).
Am gleichen Abend noch muss ich nochmals weg. Als ich gegen 2200 Uhr wieder nach Hause komme, fällt mir beim Betreten der Wohnung sofort auf, dass es ungewöhnlich still ist. Ich finde meine Frau und meine jüngere Tochter im Wohnzimmer niedergeschlagen auf dem Sofa sitzend. Die Klinik hätte angerufen. Evelyne hätte sich schon wieder versucht das Leben zu nehmen. Sie habe sich im WC eingeschlossen, ein Glas zertrümmert und sich mit einer Scherbe die Pulsader aufzuschlitzen versucht.
Schock!
Wir begreifen gar nichts. Die folgenden Wochen werden unglaublich anstrengend. Endlose Abklärungen und Untersuchungen laufen. Was ist bloss los mit unserer Tochter? Wir besuchen sie täglich abwechslungsweise morgens und abends. Meistens fährt am Vormittag meine Frau hin (oft mit unserer jüngeren Tochter), am Abend dann ich. Wir erleben Evelyne vorerst relativ normal, wie wir sie kennen. Wir spazieren, lachen, spielen miteinander — und haben auch viele Gespräche.
Diagnose und Glaubensfragen
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Evelyne sagt mir einmal: “Ich glaube, ich habe es mit Gott vermasselt”. Ich realisiere, dass sie sich von Gott abgeschnitten, verlassen fühlt — selbst verschuldet. All mein Zureden kommt nicht an. Das tut weh. Nachdem schlussendlich alle möglichen Untersuchungen abgeschlossen sind (alles i.O.), bleibt nur noch die Diagnose: Psychose.
Schock!
Ich persönlich darf in dieser Zeit viele, viele persönliche Begegnungen mit Evelyne haben — das ist intensiv und schön. Ich kann sie in den Arm nehmen, mit ihr im Hof der Klinik in der bitteren Kälte spazieren. Ich spüre ihre Unruhe in ihr (kann ihr aber nicht helfen). Immer wieder erzählt sie uns glaubhaft, dass sie gar nicht sterben wolle. Sie wolle leben. Sie habe ja Freude am Leben, und noch viele Pläne. Irgendwann folgt wieder ein Suizidversuch in der Klinik. Sie wird aggressiv gegen das Personal. Sie leidet unter den schlimmen Nebenwirkungen der Medikamente.
Man versucht ihr in der Klinik so gut wie möglich zu helfen, Medikamente zu ändern, anzupassen, usw. Es wird so schlimm, dass man sie in die “Gummizelle” sperren muss. Man kommt ihr aber so weit entgegen (weil man ihr das glaubt, dass sie leben will), dass man die Türe zu dieser Zelle (die selber in einem abgeriegelten Sicherheitsbereich der Abteilung liegt) nicht zumacht, sondern live bewacht. Da sitzt also immer jemand vor der offenen Türe und bewacht unsere Evelyne — Tag und Nacht. Sie darf nicht mal die Türe der Toilette zu machen, wenn sie auf die Toilette muss. Was für ein entwürdigendes Dasein — Vegetieren.
Uns gestattet man ausnahmsweise, dass wir sie in ihrer Zelle besuchen dürfen. Normalerweise wird das nicht erlaubt. Uns erlauben sie es, weil sie den enormen, starken Familienzusammenhalt sehen. Und den schätzen sie in der Klinik ganz hoch. Das sei aussergewöhnlich, sagen sie uns. Niemand sonst hier bekomme täglich Besuch, schon gar nicht zweimal. Die meisten Familien würden an so was zerbrechen. Nicht wir — offenbar. Wow. Ist Gott so krass stark mit uns?
Ich besuche also unsere Tochter da in ihrer Zelle — beklemmend. Eine Matratze auf dem Boden — nur mit einem Leintuch bespannt — ohne Bettdecke, ohne Kissen. Sonst nichts in diesem Raum. ich setze mich zu Evelyne auf die Matratze. Hier liegt ein Häufchen furchtbares Elend. Wo ist die Lebensfreude unserer schönen jungen Tochter?
Ihr alle, die ihr ihn verehrt, vertraut dem HERRN! Er ist eure Hilfe und euer Schutz. (Psalm 115,11)
Die Medikamente haben sie völlig zugedröhnt, sediert, weil sie sonst zu aggressiv war. Auch jetzt noch kommen mir die Tränen ob diesem Elend. Ich halte sie einfach in den Armen, bis ich wieder gehe. Das reisst enorm am Herzen. Nach etwa 1 Woche wagt man es, sie wieder zurück auf ihr Zimmer der geschlossenen Abteilung zu bringen. Aber sie wird dort ab jetzt sofort rund um die Uhr live bewacht. Hier treffe ich sie bei einem meiner nächsten Besuche wieder an. Müde, erschöpft, fast nicht ansprechbar richtet sie sich auf und sitzt neben mir auf ihrem Bett. Sie mag nicht reden. Sie lehnt sich einfach wie ein Sack Kartoffeln an mich. Ich halte sie einfach im Arm fest und habe sie lieb. Gegenüber sitzt die Sitzwache, eine Frau mittleren Alters. Mit ihr komme ich ins Gespräch. Natürlich interessiert sie sich für unsere Tochter, für die Geschichte.
Ich erzähle ihr — auch von unserem Glauben, unserer Zuversicht. Plötzlich meldet sich Evelyne wie aus ihrer Trance: “Meinst du wirklich, dass Gott mich noch liebt?” Ganz verdattert bin ich. Damit habe ich nicht gerechnet. “Garantiert, Evelyne, garantiert! Du kriegst das gar nicht hin, dass er dich nicht mehr lieben würde. Er hat dich so lieb wie niemand sonst.” Das tröstet sie, ermutigt sie. Ich merke, das kommt jetzt an — auch damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. “Soll ich mit dir beten, Evelyne?” “Ja”, jammert sie kläglich.
Ich bete mit Evelyne.
Ich merke, dass sie ganz dabei ist, auch wenn sie selber nichts formulieren kann. Wird sie tatsächlich irgendwie ruhiger? Nein, nicht einfach müde von den Medikamenten, sondern irgendwie — zuversichtlicher, geborgener? Auf jeden Fall realisiere ich, dass sie ihr Vertrauen zu Gott wieder findet. Halleluja! Macht das mich glücklich! Wieder ist die Zeit des Abschieds. In den folgenden Tagen erholt sich Evelyne. Ihr Zustand verbessert sich so weit, dass sie gerne wieder aus der Klinik austreten und in ihr gewohntes Leben zurückkehren möchte.
Auf gutem Weg
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Schliesslich dürfen wir sie tatsächlich nach Hause nehmen. Nein, in die WG zurück geht noch nicht. Auch an die Arbeit zurück geht noch nicht. Wir nehmen sie wieder zu uns. Alles sieht gut aus, nimmt einen guten Verlauf, ermutigt. Wir sind überzeugt, dass alles wieder gut kommt. Sie macht einen ersten Versuch, wieder zur Arbeit zu gehen, merkt dann aber, dass 100% noch zu viel ist. Sie reduziert das Arbeitspensum, geht aber regelmässig zur Arbeit. Eine gewisse Spannung bleibt bei uns immer. Wir sind uns bewusst, dass wir nichts in der Hand haben. Wir müssen das Gott überlassen. Irgendwann hat Evelyne auch das Bedürfnis, wieder in die WG zurückzukehren. Wir reden mit ihren Freundinnen. Wir klären, dass sie nicht verantwortlich sind für Evelyne, und dass wir keine Erwartungen oder Forderungen an sie haben und auch ein Nein verstehen und akzeptieren werden. Sie sagen zu. Also zieht Evelyne wieder in ihre WG und geht inzwischen auch wieder normal an ihre Arbeit. Inzwischen kommt auch das Ende ihres Temporäreinsatzes hier ins Blickfeld. Deshalb macht sich Evelyne wieder auf die Suche nach einer nächsten Stelle. Sie wird eine finden müssen, die es ihr ermöglicht, Teilzeit zu arbeiten, damit sie ihre gewünschte Ausbildung zur Kleinkindererzieherin (berufsbegleitend) machen kann. Sie findet eine! Sie freut sich sehr darauf. Und auch die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung hat sie inzwischen erfolgreich bestanden. Damit ist ihr Weg für die gewünschte nächste Ausbildung frei! Hurra, wir freuen uns alle mit.
Als ob alles bereits fertig vorbereitet gewesen wäre …
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Dienstagabend etwa 2100 Uhr. Eine Freundin von Evelyne ruft uns an: “Du, da ist etwas komisch”, erzählt sie. “Ich bin gerade von meiner Arbeit nach Hause gekommen. Die Türe unseres Häuschens stand weit offen. In der Küche brennt das Licht, auf dem Herd steht das Nachtessen von Evelyne, aber es ist niemand da. Auch ihre Jacke ist da, ihr Handy ist da, ihre Hausschlüssel liegen da — aber sie selbst ist nicht da.” Wir beschliessen, uns nicht gleich von Angst und Panik gefangen nehmen zu lassen. Wir vereinbaren, dass wir mal zuwarten. Etwa 20 Minuten später wieder ein Anruf, die zweite WG-Kollegin und Freundin: “Du, ich halte das nicht aus …” Alles klar. “Gut, dann alarmieren wir jetzt die Polizei, gell.” “Ja, gerne”. Das tun wir. Die Polizei hört uns zu, stellt Fragen und will wissen, was wir denken und vermuten. Sie würden sich sofort auf die Suche machen und sich melden, sobald sie etwas wüssten. Als es um etwa 3 Uhr an der Türe klingelte, war mir sofort und schlagartig klar, was das hiess. Ich stand auf. An der Gegensprechanlage (wir wohnen in einem MFH im 2. Stock) meldet sich die Polizei. Ich öffne die Türe. Zwei Polizisten treten ein. Wir setzen uns mit mulmigem Gefühl. “Wir haben ihre Tochter gefunden. Es tut uns leid …”. Niemand von uns bricht zusammen. Alles bleibt ruhig, gefasst — geschockt. Wir erfahren, dass Evelyne gestern Abend um etwa 2000 Uhr vor einen Zug gesprungen ist und tot ist.
Die Polizisten verabschieden sich, nachdem sie sich offenbar sicher genug sind, dass wir wirklich zurecht zu kommen scheinen. Und wir, wir funktionieren jetzt irgendwie einfach. Am Morgen verfasse ich schon die Todesanzeige. Bereits als wir die Nachricht vom Tod unserer Tochter erhalten hatten, stand mir (und interessanterweise auch meiner Frau) sofort Römer 8,38–39 vor Augen – als ob alles bereits fertig vorbereitet gewesen wäre.
“Ich bin ganz sicher, dass nichts uns von seiner Liebe trennen kann: weder Tod noch Leben, weder Engel noch Dämonen noch andere gottfeindliche Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Himmel noch Hölle. Nichts in der ganzen Welt kann uns jemals trennen von der Liebe Gottes, die uns verbürgt ist in Jesus Christus, unserem Herrn.” (Römer 8,38–39)
Da lebt Evelyne
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Der Tag der Abdankung kommt. Unser Chrischona-Gemeindehaus wird voll mit Gästen, die an der Trauerfeier teilnehmen. Auch aus Australien wird jemand geschickt, die sowieso gerade in Europa unterwegs war! Aber vorher ist da noch die Versammlung auf dem Friedhof. Die Polizei hatte uns empfohlen, unsere Tochter nicht mehr anzuschauen. Sie sei sehr entstellt. Wir sollten sie lieber als ganzer Mensch in Erinnerung behalten. Das machten wir auch so. Und das war mit ein Grund, warum wir beschlossen hatten, sie kremieren zu lassen. So wird niemand sie zertrümmert sehen müssen.
Da steht jetzt also die Urne auf dem Friedhof. Wir sind ziemlich als erste da. Aber nach und nach treffen Leute ein, mit Tränen, umarmen uns still, legen ihre Beileidskarten hin, formieren sich zu einem Halbkreis vor der Urne.
In dieser Phase erlebe ich etwas Aussergewöhnliches: Ich stehe da und spüre und sehe gleich direkt rechts neben mir eine Nebelwand — oder so wie eine Milchglasscheibe — aber eher wie Nebel — dünn, ich könnte meinen Arm hindurchstrecken. Auf der anderen Seite dieser Nebelwand sehe ich einen Schatten, der sich bewegt, eine menschliche Silhouette, weiblich. Mehr sehe ich nicht. Ich begreife sofort und ohne Worte oder Erklärungen: Das da drüben, jenseits dieser Nebelwand, das ist die Ewigkeit; da lebt Evelyne.
Diese Gewissheit ist mir eigentlich nicht neu. Aber dieses Erlebnis, diese Erfahrung ist mir in einer noch nie erlebten Art eingefahren, also ob ich direkt in den Himmel hätte schauen dürfen. Ich weiss, da hat mir Gott ganz persönlich eine tröstende, stärkende Erfahrung geschenkt, die ganz persönlich und intim ist — und unbesiegbar stark. -
Ich weiss, dass ich sie wiederesehen werde
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Rückblick: Diese ganze Geborgenheit hat eigenartigerweise genau in dem Moment angefangen, als an jenem 6. Januar 2013 der Telefonanruf der Freundin kam, die sich nach dem Ergehen von Evelyne erkundigen wollte. Gleichzeitig mit dem Schock kam auch Friede und Geborgenheit ins Herz. Es war, wie wenn Zwillingsgeschwister Hand in Hand zur Tür hereinkommen: Schock und Frieden.
Und ebenfalls gleichzeitig stand die Geschichte Hiobs in meinen Gedanken, und zwar etwa folgendes: Da steht doch am Anfang des Buches Hiob, wie eines Tages der Satan in der Versammlung vor Gottes Thron auftauchte und Gott herausforderte. Und Gott bewilligte dem Satan, dass er Hiob prüfen dürfe. Genau das wurde mir klar: Das, was da jetzt mit uns passierte, hat damit zu tun, dass Gott ein Gesuch des Satans bewilligt hat — wie mit einem siegesgewissen Lächeln auf den Stockzähnen; so, also würde Gott etwa sagen: Dann mach halt mal. Aber keine Sorge, diese Familie trage ich schon auch durch. Du verlierst. Du hast keine Chance. -
Eines Tages kamen die Gottessöhne zur himmlischen Ratsversammlung und jeder stellte sich an seinen Platz vor dem HERRN. Unter ihnen war auch der Satan. Der HERR fragte ihn: »Was hast denn du gemacht?« »Ich habe die Erde kreuz und quer durchstreift«, antwortete der Satan. Der HERR fragte ihn: »Hast du auch meinen Diener Ijob gesehen? So wie ihn gibt es sonst keinen auf der Erde. Er ist ein Vorbild an Rechtschaffenheit, nimmt Gott ernst und hält sich von allem Bösen fern.« Der Satan entgegnete: »Würde er dir gehorchen, wenn es sich für ihn nicht lohnte? Du hast ihn und seine Familie und seinen ganzen Besitz vor jedem Schaden bewahrt. Du lässt alles gelingen, was er unternimmt, und sein Vieh füllt das ganze Land. Taste doch einmal seinen Besitz an! Wetten, dass er dich dann öffentlich verflucht?« Da sagte der HERR zum Satan: »Gut! Alles, was er besitzt, gebe ich in deine Gewalt. Aber ihn selbst darfst du nicht antasten!« Danach verließ der Satan die Ratsversammlung. (Hiob 1:6–12)
Dieser Friede, der da in unsere Herzen (bei mir und bei meiner Frau) einfuhr, der war und ist bis heute so stark, dass wir einfach ohne Bitterkeit sein dürfen, einfach geborgen, fröhlich trotz diesem leidvollen Abschied, trotz dem Vermissen unserer Tochter. Dieser Friede Gottes trägt uns einfach durch alles durch — bis heute. Dieser Friede hat uns nie verlassen, nie, auch in den Nächten nicht, in denen ich wach gelegen habe und mich dabei ertappt habe, wie mein Geist wie ein Scanner wie verrückt die ganze Lebenslinie von Evelyne abgesucht hat: Wo habe ich etwas übersehen, verpasst, falsch gemacht, wo, wo, wo …? Nichts gefunden, einfach nichts. Bis ich dann irgendwann mir sagen konnte: Fertig. Lass es. Überlass das Gott. Klar bin ich ein Mensch und Vater mit Fehlern. Aber darum geht es nicht. Gott weiss, was er macht. Also überlass es ihm. Und das kann ich tatsächlich auch heute noch. Das gibt so was von Ruhe, setzt frei, macht froh. Da finde ich tatsächlich keine Bitterkeit, kein Fragen nach einem Warum, nur Friede und Dankbarkeit. Klar, auch Wehmut. Auch heute kommen mir Tränen, wenn ich diese Zeilen schreibe. Ich vermisse unsere Tochter. Aber ich weiss, dass ich sie wiedersehen werde. Sie ist bei Gott gut aufgehoben. Manchmal witzeln wir in der Familie, ob sie vielleicht mit Grosvati Eile mit Weile spielt?
Ein hoher — zu hoher — Preis bezahlt?
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Und was dann in der Folge noch geschah? Ich muss ein bisschen ausholen. Unsere jüngere Tochter Michèle riss 2 Wochen vor ihrem 18. Geburtstag von zu Hause aus (das war im Jahr 2007). Sie brach mit einer wilden, rabiaten Art sämtliche Kontakte zu uns und allen Verwandten ab. Sie hatte via chatten einen Mann in Deutschland kennengelernt. Zu diesem zog sie. Wir Eltern wurden von ihr bzw. eher von ihrem “Freund” aufs Übelste unter aller Gürtellinie beschimpft, bedroht, erpresst — erfolglos. Wir Eltern merkten, dass wir hier nichts mehr machen konnten und überliessen auch das einfach Gott, der sie ganz sicher im Auge behalten würde (einfacher gesagt als gelebt). Ich wusste damals nicht, ob ich sie jemals in diesem Leben wieder sehen würde; und wenn, dann wie? Tot? Ermordet? Missbraucht? Als alleinerziehende Mutter und Sozialhilfeempfängerin? Oder als erfolgreiche Managerin eines KMU? Oder gerät sie in ein Milieu von Drogen, Kriminellen, Radikalen? Das tut weh, sehr weh. Wir hörten nichts mehr von ihr.
Gott kann unendlich viel mehr an uns tun, als wir jemals von ihm erbitten oder uns ausdenken können. So mächtig ist die Kraft, mit der er in uns wirkt. (Epheser 3,20)
Irgendwann später zog Michèle wieder bei uns ein. Und jetzt, einige Zeit nach dem Tod ihrer Schwester, die sie sehr mochte, litt sie mal unter einer Auseinandersetzung mit ihrem jüngeren Bruder. Als ich mich mit ihr über diese Auseinandersetzung unterhalte, erzählte sie mir, dass sie durch den Tod ihrer Schwester Evelyne eigentlich erst definitiv wieder zurück zum Vertrauen und zum Glauben an Jesus Christus gefunden habe. Ich habe geweint vor Freude (und tue das auch heute wieder). “Das ist ein sehr hoher Preis, den wir da zahlen”, meinte Michèle auch im Blick auf den Tod ihrer Schwester, der zu ihrer eigenen Rückkehr zu Jesus geführt hatte. “Ja, der ist hoch, das stimmt. Aber weisst du: wir haben mehr gewonnen als verloren. Wir haben dich wieder gefunden. Und Evelyne haben wir nicht wirklich verloren. Wir werden sie wiedersehen. Sie lebt in Gottes Gegenwart.” Da sind wir uns einig und dankbar mit einem unerschütterlichen tiefen Frieden und Geborgenheit.
Aus Michèle ist eine wunderbare, aufgeschlossene Frau geworden. In und an ihr erleben wir, wie Gott aus Scherbenhaufen Gold macht!
Da bist du zu Hause
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Fazit: Wir sind so gesegnet, dass es trotz allem Leid einfach unfassbar grossartig ist. Nein, wir möchten das alles nicht nochmals durchmachen. Es hat uns extrem Kraft gekostet und tut es heute noch. Aber wir sind darin auch unglaublich gereift, haben die Gemeinschaft, die Freundschaft, die Treue, die Kraft, die Liebe des verborgenen, geheimnisvollen, allmächtigen und schöpferischen und heilsamen Gottes in einer Art und Weise erlebt, die man nie plausibel erzählen kann. Es ist so persönlich, intim, stärkend — da willst du einfach nur noch hin. Da bist du zu Hause, in seines Vaters Haus. In mir ist trotz unbeantworteten Fragen einfach Ruhe, Friede, Freude, Zuversicht, Dankbarkeit. Und eine störrische Hoffnung in aktuellen schwierigen Lebensumständen 😊!
Lieber Viktor, liebe Yvonne und Familie
Eurer Geschichte zu lesen hat mich sehr aufgewühlt, traurig berührt und trotzdem Mut gemacht. Auf der einen Seite, machtlos mitzuerleben ein geliebtes Kind zu verlieren und andererseits trotzdem einen tiefen Frieden im Herzen zu haben. Gleichzeitig stärkt die Geschichte die Sehnsucht und den Glauben an Gott. Auch wenn wir nicht immer alles verstehen, können wir darauf vertrauen, dass er einen guten Plan hat.
Vielen Dank für das Teilen eurer Geschichte.
“Es gibt nichts, was die Abwesenheit eines geliebten Menschen ersetzen kann. Je schöner und voller die Erinnerung, desto härter die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.” Dietrich Bonhoeffer
Lieber Jürg
Das ist ein treffendes Zitat von Dietrich Bonhoeffer. So empfinde ich das tatsächlich auch. Trotzdem bleibt es für mich ein Geschenk Gottes, dass wir das so erleben dürfen. Für mich ist das nicht selbstverständlich, sondern — hm, wie soll ich sagen — wie einfach eine “zeugnishafte Demonstration der Kraft und Allmacht Gottes”, der solche Geschichten und Menschen mit solchen Geschichten durchaus zu tragen, zu segnen, zu trösten vermag. Das ist aus meiner Sicht nicht menschliche Leistung, sondern einfach Gnade, Barmherzigkeit, Güte — ohne Anspruch darauf, dass man daraus eine Gesetzmässigkeit ableiten könnte. Gott bleibt unfassbar schöpferisch und gestaltet mit jedem Menschen die Geschichte immer persönlich — aber immer voll mit seiner unfassbaren Macht der Liebe gestaltet. Bhüet di Gott, Jürg.
Zutiefst Berührt und in tiefer Dankbarkeit.
Gottes reichen Segen und Jesu Liebe uns allen alle Zeit bis in Ewigkeit.
Amen
Danke gleichfalls 🙂
Vielen Dank dass Sie das teilen!
Ja finde ich auch. Mutig, sehr wichtig, und hilfreich!
Lieber Frank, gern geschehen. Ich teile ja nur, was ich geschenkt bekommen habe. Ich wünsche Ihnen Gottes starken Segen.
Das kann ich voll unterstützen.
Lieber Viktor Pfister, Ihre Geschichte hat mich zu tiefst berührt. Sie macht Hoffnung, dass aus schmerzhaftesten Erfahrungen Gutes entstehen kann und dass ein Leben mit Gott das erstrebenswerteste auf dieser Welt ist.
Lieber Viktor, was sagt man zu so einer Geschichte? Ich auf jeden Fall: Danke! Danke für ein weiteres Mal erzählen, Emotionen zulassen, auszuhalten, weiter zu vertrauen. Ihr seid mir zu einem lebendigen Beispiel geworden, dass das Leiden nicht das letzte Wort hat.