Culture Shift / II

Lesezeit: 12 Minuten
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by Peter Bruderer | 15. Dez. 2023 | 2 comments

«Des Abends sprecht ihr: Es wird ein schön­er Tag wer­den, denn der Him­mel ist rot. Und des Mor­gens sprecht ihr: Es wird heute ein Unwet­ter kom­men, denn der Him­mel ist rot und trübe. Über das Ausse­hen des Him­mels wisst ihr zu urteilen, über die Zeichen der Zeit aber kön­nt ihr nicht urteilen?» (Mt 16:3)

Vor genau 5 Jahre stosse ich online auf das Video. Pub­liziert hat­te es eine selb­sterk­lärte ‘Sex-Hexe’, die im Rah­men ein­er Feier in Nashville [USA] ins Mikro­fon singt. Da ist ein wun­der­schön klin­gen­des Lied. Da ist Brot und Wein. Es ist eine Eucharistiefeier. Die Hexe beze­ich­net diese Feier als ein ‘athe­is­tis­ches Abendmahl’. Auf der Bühne ste­ht auch der Gast­ge­ber dieses Abendmahls. Es ist nie­mand anders als Michael Gun­gor — ein Kün­stler, der kurz zuvor an meinem christlichen Musik Fes­ti­val in Frauen­feld gespielt hat­te, dem Spring­time Fes­ti­val.

Diese Ent­deck­ung, welche ich später zu meinem ersten Artikel auf Daniel Option ver­ar­beit­et habe, hat mich damals zutief­st geschockt und aufgerüt­telt. Ich kon­nte fast nicht glauben, was sich da vor meinen Augen abspielt! Es war der Moment, an dem aus einem eige­nar­ti­gen Bauchge­fühl Gewis­sheit wurde: Wenn es okay sein soll, dass ein ange­blich­er Lobpreisleit­er zusam­men mit ein­er athe­is­tis­chen Sex-Hexe ein ‘Abendmahl’ austeilt, dann bah­nen sich in meinem christlichen Umfeld grössere Verän­derun­gen an.

Kennst du die Momente im Leben, wo du auf ein­mal merkst, dass ‘etwas’ anders ist? Wech­sel­ndes Wet­ter bringt manch­mal solche Momente. Vielle­icht bist du im Som­mer im Schwimm­bad. Du liest ein Buch und schläf­st dabei ein. Du wirst von ein­er aufk­om­menden Brise geweckt und merkst: Irgen­det­was ist anders! Genau: Alle anderen um dich herum sind schon am Ein­pack­en und ver­lassen die Wiese, um irgend­wo unter einem Dach Zuflucht zu suchen. Das Gewit­ter ist nicht nur im Anzug, es ist schon prak­tisch über dir.

Auch im per­sön­lichen Leben gibt es diese Momente, an denen du merkst: etwas hat sich atmo­sphärisch verän­dert. Irgen­det­was ist anders. Diese atmo­sphärischen Verän­derun­gen, diese Ver­schiebun­gen in der Real­ität um uns herum, sind oft schwierig zu greifen. Aber es kommt der Zeit­punkt, an dem du real­isiert: es ist anders als vorher. Für mich gab es vor 5 Jahren diesen Moment. Es lag defin­i­tiv eine neue, andere Wet­ter­lage in der Luft.

Culture Shifts in der Künstlerszene

Rück­blick­end weiss ich: In der freikirchlich/evangelikalen Welt, welche mein natür­lich­es geistlich­es ‘Biotop’ ist, lagen vor 5 Jahren die Vor­boten von neuen grossen Trends in der Luft. Heute sind diese Trends deut­lich sicht­bar­er und deshalb auch greif­bar­er. Sie haben Namen bekom­men respek­tive sich selb­st Namen gegeben: «pro­gres­sives Chris­ten­tum», «Poste­van­ge­likalis­mus», «Glaubens­dekon­struk­tion», «Ex-Evan­ge­likal» und der­gle­ichen heis­sen die Stich­worte. Treiber dieser neuen geistlichen Gross­wet­ter­lage sind beson­ders Fra­gen der Sexualethik.

So ist ein stür­mis­ches Wet­ter auf die freikirchlich/evangelikale Welt im West­en und deutschsprachi­gen Raum angekom­men. Die ersten Böen des Unwet­ters haben den einen oder anderen Tisch umge­blasen, einige Ziegel vom Dach gefegt und eini­gen Chris­ten und Leit­ern die Ori­en­tierung ger­aubt. Gle­ichzeit­ig scheint mir, dass auch wenn der Sturm weit­er­hin tobt, die erste Wucht des Sturmes über­standen ist. Dies ist ein guter Zeit­punkt um zurück­zublick­en und nach vorne zu schauen.

Während mein Brud­er die tief­greifend­en Verän­derun­gen ver­gan­gene Woche in Bezug auf die Sex­u­alethik reflek­tiert hat, bin ich selb­st immer sehr sen­si­bel gewe­sen im Hin­blick auf Entwick­lun­gen in der inter­na­tionalen christlichen Musik­szene, mit der ich durch meine Konz­er­tar­beit viel zu tun habe. Kün­stler wit­tern tiefer­greifende kul­turelle Entwick­lun­gen oft früher als andere und gehen sie selb­st manch­mal auch mit. Ich habe in den ver­gan­genen Jahren die Abwen­dung eines Teils der freikirchlichen/evangelikalen Welt von his­torischen Glaubenssätzen des Chris­ten­tums deut­lich an biografis­chen Entwick­lun­gen im christlichen Musikzirkus mitverfolgt.

Jon Stein­gard von Hawk Nel­son (2010 am Spring­time Fes­ti­val) vol­l­zog eine sehr öffentliche Abwen­dung vom Chris­ten­tum. Die begabte Wor­ship-Sän­gerin Audrey Assad machte sich auf die Dekon­struk­tions-Reise: Schei­dung, Dro­gen­ex­per­i­mente, Wic­ca-Zer­e­monien, jungsche Tiefenpsy­cholo­gie… die Reise ist wohl noch nicht zu Ende. Tiffany Arbuck­le (Plumb) schaffte diesen Som­mer nach end­losen Andeu­tun­gen endlich ihre erste Teil­nahme an ein­er Pride-Parade. Sie hat damit die pro­gres­sive ‘Glauben­staufe’ vol­l­zo­gen. Ich kön­nte weit­ere Namen nen­nen. Äussert beliebt ist die Iden­ti­fika­tion als “Spir­i­tu­al not Reli­gious” gewor­den. Da musst du dich mit kein­er Glaubenslehre, Glaubens­ge­mein­schaft und auch keinem Moral­code mehr iden­ti­fizieren — und kannst dir den­noch den Schein geistlich­er Erleuch­tung wahren. Aaron Gille­spie von The Almost (2012 bei uns in Frauen­feld) gehört lei­der in diese Kat­e­gorie. Die Biografien dieser Kün­stler bleiben oft stark in Bewe­gung und ver­laufen auch sehr unterschiedlich.

«Kün­stler scheinen es schwieriger zu haben, ortho­dox zu bleiben», meinte mal der zum Pas­tor umgeschulte Elek­tro-Pio­nier Ron­nie Mar­tin mir gegenüber. Da ist wohl etwas dran. Es gibt aber auch diejeni­gen Kün­stler, die genau­so fein­füh­lig sind auf die Trends, aber ihre Wurzeln tiefer in die christliche Ortho­doxe treiben. John Coop­er von Skil­let (2013 am Spring­time Fes­ti­val) ist dafür ein Beispiel. Als Kün­stler, welch­er sowohl im christlichen als auch im säku­laren Musik­markt äusserst erfol­gre­ich ist, hat er in den ver­gan­genen Jahren seine Kar­riere riskiert, als er ange­fan­gen hat, schwierige Entwick­lun­gen in der christlichen Welt anzus­prechen. Auch Marc Hall von den Cast­ing Crowns (2017 am Spring­time Fes­ti­val) hat die aktuellen Entwick­lun­gen aus dem Blick­winkel der christlichen Ortho­dox­ie kom­men­tiert. Es lohnt sich, den Song 2nd Opin­ions anzuhören, der mit fol­gen­den Zeilen beginnt:

“Well, church gath­er ‘round ‘cause we got us a prob­lemThere’s a lot of inspi­ra­tion float­ing around these daysWords that paint a pret­ty pic­ture but you won’t find them in the scrip­tureThat’s because they’re all from the book of sec­ond opinions.”

Flugzeuge starten gegen den Wind

Die Entwick­lun­gen der ver­gan­genen Jahre haben auch meinen ganz per­sön­lichen Fre­un­deskreis berührt. Der Sturm hat zu zwis­chen­men­schlichen Brüchen und Ent­frem­dung geführt. Gräben haben sich aufge­tan zu Men­schen, welche mir immer noch lieb sind. Wege haben sich getren­nt. Das ist nicht ein­fach. Offene Kom­mu­nika­tion­skanäle sind auch da wichtig, wo die gemein­same Grund­lage ver­loren gegan­gen ist. Manch­mal lässt man einan­der aber auch bess­er eine Weile lang in Ruhe. Aber eigentlich würde ich mir wün­schen, wir wären alle noch zusam­men in meinem Garten, bei Bier, Steak und Son­nen­schein, wie es ein­mal war.

Trotz dieser Schat­ten­seit­en hat sich in mir die Gewis­sheit ver­stärkt: Gott stellt mich ger­ade für diese Zeit da hin, wo ich bin. Er traut mir zu, dass ich auch im Sturm beste­hen kann und noch mehr – einen Beitrag für den Auf­bau seines Reich­es leis­ten kann. Was auf Felsen gebaut ist, wird der Sturm nicht wegfe­gen. Auch im Sturm gibt es Freude und Frieden zu find­en. Auch bei schwierigem Wet­ter lässt es sich arbeit­en und leben. Und wie mir ein neuer Fre­und am Woch­enende erk­lärt hat: Flugzeuge starten gegen den Wind.

In der Rückschau wird mir aber auch klar, wie ahnungs­los ich über viele Jahre hin­weg doch gewe­sen war. Die Diag­nose, welche Jesus an die Phar­isäer gestellt hat, trifft auch auf mich zu. Sie woll­ten «ein Zeichen vom Him­mel» (Mt 16:1), um ohne allzu gross­es Nach­denken über die Run­den zu kom­men. So war ich auch, bevor mir klar wurde, dass sich diese epochalen Shifts abze­ich­nen. Es reichte mir ein «ein Zeichen vom Him­mel»: Ein guter Schuss pos­i­tive Emo­tio­nen vom Gottes­di­enst am Son­ntag, welch­er mich bis zum näch­sten ‘Fix’ durchträgt — die Strate­gie von tausenden von Kirchge­mein­den und Mil­lio­nen von Chris­ten wie mir.

Ich halte diese Momente weit­er­hin für wichtig, an denen Gottes unmit­tel­bares Reden in unser Leben hinein oder eine exis­ten­zielle Erfahrun­gen mit ihm uns einen ganz beson­deren Kick geben. Aber manch­mal wäre noch etwas anderes dran als von einem geistlichen ‘Kick’ zum näch­sten zu leben. Manch­mal wäre es dran, dass wir die ein­fachen und grundle­gen­den ‘Zeichen an der Wand’ mit Gottes Hil­fe lesen ler­nen. Ich glaube, dass wir ein­er Zeit leben, in der wir das neu ler­nen müssen.

Die Grosswetterlage verstehen.

In den ver­gan­genen 3 Jahren hat sich mein Forschungs­feld zunehmend geweit­et. Ich will nicht nur ver­ste­hen, was im christlichen ‘Garten’ vor sich geht, son­dern welche ‘Umwelt­fak­toren’ zum Sturm geführt haben kön­nten, der über diesen Garten hineinge­brochen ist. Ich habe ange­fan­gen, den Ide­olo­gien und Ideen nachzus­püren, welche unsere säku­lare Welt von heute prä­gen. Ich will ver­ste­hen, woher die viel­gerühmte ‘Fach­welt’ ihre Ideen hat. Mein Büch­er­schrank hat ange­fan­gen, sich mit alten ver­staubten Büch­ern zu füllen, die mir Ein­blick in die Ideen der­jeni­gen Men­schen geben, die unsere Kul­tur mass­ge­blich bee­in­flussen und die Verän­derun­gen unser­er Zeit vorantreiben. Manch­mal beze­ichne ich diesen Büch­er­schrank als ‘Giftschrank’, denn an tox­is­chen Ideen man­gelt es nicht im ide­ol­o­gis­chen Muse­um der ver­gan­genen 200 Jahre. Und wie man so schön sagt: Ideen haben Konsequenzen.

Der Pub­lizist Aaron M. Renn spricht in Zusam­men­hang mit der aktuellen geistlichen ‘Gross­wet­ter­lage’ von 3 ‘Stim­mungsphasen’ gegenüber dem Chris­ten­tum. Er spricht von den USA – aber ich denke seine Befunde kön­nen in groben Zügen auch auf unsere europäis­che Sit­u­a­tion über­tra­gen wer­den. Gemäss Renn gab es bis 1994 gesellschaftlich gese­hen in den USA eine grundle­gend pos­i­tive Ein­stel­lung gegenüber dem Chris­ten­tum. Christliche Moralvorstel­lun­gen waren auch die grundle­gen­den Moralvorstel­lun­gen der Gesellschaft. Zwis­chen 1994 und 2014 spricht Renn dann von ein­er Welt, die dem Chris­ten­tum gegenüber neu­tral eingestellt war. Das Chris­ten­tum hat in dieser Zeit keinen priv­i­legierten Sta­tus mehr, wird aber auch nicht miss­bil­ligt. Seit 2014 aber leben wir gemäss Renn in ein­er gegenüber dem Chris­ten­tum ‘neg­a­tiv­en Welt’: Als Christ bekan­nt zu sein, kann nun ein sozialer Nachteil sein, ins­beson­dere in den elitären Bere­ichen der Gesellschaft. Die christliche Moral wird aus­drück­lich abgelehnt und als Bedro­hung für das Gemein­wohl und die neue, öffentliche Moralord­nung angesehen.

Die Feind­seligkeit gegenüber dem Chris­ten­tum kommt nicht aus dem Nichts. Sie hat tiefe Wurzeln, die mir in den ver­staubten Büch­ern meines ‘Giftschrankes’ auf Schritt und Tritt begegnen.

Den­noch bleibt unsere west­liche Kul­tur vom Chris­ten­tum geprägt. Einige der Werte, die unser­er Kul­tur sehr wichtig sind, ver­dankt sie nichts anderem als dem Chris­ten­tum. Dinge, wie zum Beispiel das Bewusst­sein für die innewohnende Würde aller Men­schen und daraus abgeleit­et die uni­versellen Men­schen­rechte oder die Ein­vernehm­lichkeit für die Sex­u­al­ität. Diese im Chris­ten­tum begrün­de­ten Werte scheinen heute aber eher wie ‘heimat­lose’ Moleküle in unser­er Atmo­sphäre herumzuschwirren. Die zusam­men­hän­gende christliche Gesamtschau für unsere Welt ist abhan­den gekom­men. Trotz­dem sind diese christlichen Werte weit­er­hin ein wesentlich­er Bestandteil der Luft, die wir atmen. Aus ihrer Beheimatung in der christlichen Welt­sicht ent­fremdet, wer­den diese an sich christlichen Werte nun auch benutzt, um Prak­tiken zu recht­fer­ti­gen, welche gegen das Christliche gehen. Mein Brud­er hat dies in seinem aktuellen Artikel gut erläutert.

Doch es gibt auch gegen­läu­fige Bewe­gun­gen zur schein­bar unab­wend­baren Säku­lar­isierung. Denn der Cul­ture Shift vom Christlichen weg hin zum Säkularen/Heidnischen hat reales destruk­tives Poten­tial. Das merken aufmerk­same Men­schen, welche sich selb­st wohl nicht als prak­tizierende Chris­ten beze­ich­nen. In diese Kat­e­gorie gehört beispiel­sweise die Jour­nal­istin Louise Per­ry, welche mit ihrem Buch «The Case Against the Sex­u­al Rev­o­lu­tion» eine ver­nich­t­ende Bilanz über die mod­erne sex­uelle Rev­o­lu­tion gezo­gen hat und — wie soll man es sagen – anfängt in der Luft herum­schwirrende christliche ‘Moleküle’ einz­u­fan­gen und diese wieder miteinan­der in Bezug zu setzen.

In einem inter­es­san­ten Gast­beitrag in ein­er christlichen Online-Zeitschrift legte Per­ry kür­zlich ihre eigene Per­spek­tive zur geistlichen ‘Gross­wet­ter­lage’ dar. Ihre These: Das Hei­den­tum war nie weg – es wurde lediglich zurückge­drängt. In unseren Tagen macht sich das Hei­den­tum gemäss Per­ry daran, ver­lorenes Land wieder zurück­zugewin­nen. Sie ver­gle­icht das Chris­ten­tum mit einem wun­der­schö­nen Garten mit­ten im bedrohlichen, wilden, aber eben auch faszinieren­den Wald des Hei­den­tums. Das Alle­in­stel­lungsmerk­mal dieser kul­tivierten Lich­tung ist gemäss Per­ry: der unver­stellte Blick in den Him­mel. Nun aber wür­den sich die Wurzeln des Waldes wieder aus­bre­it­en und die Triebe aus dem Boden spriessen. Da es nie­man­den mehr gibt, der den Garten pflegt, erobert sich der Wald den Boden zurück und zer­stört dabei den Garten. Darum weicht auch der Him­mel und ver­schwindet langsam wieder aus den Augen der Menschen.

Egal mit welchen Bildern wir operieren und ob wir eher zu den Pes­simis­ten oder Opti­mis­ten gehören. Der grundle­gende ‘Cul­ture Shift’ in unser­er Gesellschaft ist eine Real­ität. Und die neuen Real­itäten unser­er Zeit fordern auch eine Rekalib­rierung des christlichen ‘Modus Operandi’.

Zwei gegenläufige Trends

Wichtig für unsere aktuelle Sit­u­a­tion scheint mir, zwei gegen­läu­fige Trends wahrzunehmen.

Der eine grosse Trend — der Trend der mich vor 5 Jahren so beun­ruhigt hat — ist die ras­ante Säku­lar­isierung der Kirche. Diese hat spätestens mit dem Einzug der sozialen Medi­en auch in die bis anhin behütete freikirch­liche Bub­ble durchgeschlagen.

Wir müssen dabei ver­ste­hen, dass die Säku­lar­isierung nicht ein­fach etwas ist, was durch Ein­wirkung von Aussen an der Kirche geschieht. Vielmehr ist die aktive Selb­st­säku­lar­isierung seit Jahrzehn­ten eine bewusste Strate­gie in gewis­sen elitären kirch­lichen Kreisen. Die Kirche soll sich möglichst nahe an das anschmiegen, was die säku­lare Elite grad als ‘sexy’ definiert. Ide­al­er­weise ist die Kirche bei diesem Ansatz der Gesellschaft im Säku­lar­isierung­sprozess stets einen Schritt voraus — so geschehen in den Entwick­lun­gen rund um die Ehe für alle in der Schweiz.

Wenn sich an unseren Unis in unseren Tagen die Stu­di­engänge in «Queer Stud­ies» mul­ti­plizieren, wird es ganz bes­timmt nicht lange dauern, bis da ein­er ruft: «Gott ist Queer!». Und alle ‘From­men’, die auf keinen Fall ‘kon­ser­v­a­tiv’ oder ‘alt­back­en’ son­dern unbe­d­ingt ‘Hip’ sein wollen, stim­men in diesen Chor mit ein. Sie haben möglicher­weise keine Ahnung was für ein Lied sie da eigentlich sin­gen – aber sie wollen ganz vorne dabei sein!

Wenn das säku­lare Nar­ra­tiv die Kirche als etwas beze­ich­net, das aus der Zeit gefall­en oder sog­ar tox­isch ist, dann wird der selb­st­säku­lar­isierende Flügel der Kirche auch sofort mit ein­stim­men ins Basching.

Beispiel­haft für diese Mech­a­nis­men kön­nen Ereignisse rund um die Anklage der ehe­ma­li­gen finnis­chen Min­is­terin Päivi Räsä­nen aufge­führt wer­den. Sie wurde 2019 von der finnis­chen Staat­san­waltschaft im Rah­men des Geset­zes gegen «Kriegsver­brechen und Ver­brechen gegen die Men­schlichkeit» angeklagt. Sie hat­te sich in einem Tweet kri­tisch gegenüber der Leitung ihres eige­nen Kirchen­ver­ban­des über dessen Spon­sor­ing ein­er Pride-Parade geäussert. Dabei hat­te sie ein Foto ein­er all­seits bekan­nten Bibel­stelle zum The­ma aus dem Anfang des Römer­briefes gepostet. Räsä­nen wurde in erster Instanz und nun auch in zweit­er Instanz in allen Anklagepunk­ten freige­sprochen.

Dass es zu ein­er solchen Anklage kam, ist in ein­er gegenüber dem Chris­ten­tum ‘neg­a­tiv­en Welt’ nicht ver­wun­der­lich. Inter­es­sant ist nun aber, wie Vertreter ein­er sich selb­st säku­lar­isien­den Kirche auf die Anklage reagierten. Bei uns in der Schweiz sah sich Dr. Stephan Jütte, mit­tler­weile der Ethik-Ver­ant­wortliche der Evan­ge­lis­chen Kirche Schweiz, umge­hend dazu ver­an­lasst sich zu den Mitan­klägern von Räsä­nen zu gesellen. In einem polemis­chen und zudem schlecht recher­chierten Artikel rück­te er Räsä­nen gezielt in die Ecke von Eugenikern und  “Hitlerverehrer*innen”. Dabei baute seine Argu­men­ta­tion auf fehler­haften Zitat­en, die er teil­weise wohl direkt von der Inter­net­seite ein­er Queeren Lob­by­gruppe kopierte, ohne diese weit­er zu prüfen. Wichtig ist die fol­gende Beobach­tung: Der ein­flussre­iche Chefethik­er der Evan­ge­lis­chen Kirche Schweiz hat sich ganz zum Hand­langer des säku­laren Nar­ra­tivs gemacht und seine Argu­men­ta­tion darauf aufge­baut — inklu­sive der Über­nahme unwahrer Zitierung aus ein­er vor­ein­genommen­er Quelle. [1]

Sich­er müssen Kirchen ler­nen, berechtigte Kri­tik ernst zu nehmen. Sie kön­nen dies aber machen, ohne dem säku­laren Nar­ra­tiv zu ver­fall­en. Eine Kirche die sich selb­st säku­lar­isiert ist eine Kirche die sich selb­st auflöst. Was die Kirche aber auf jeden Fall sollte, ist wieder ler­nen, wie sie fröh­lich eine lebendi­ge gegenkul­turelle Gemein­schaft in dieser Welt sein kann. Dies ist enorm wichtig, weil es auch noch einen zweit­en deut­lichen Trend gibt.

Es liegt vielle­icht ger­ade im Wahnsinn unser­er Zeit begrün­det, dass wir auf ein neues Inter­esse für die weltan­schauliche Gesamt­per­spek­tive des Chris­ten­tums hof­fen dür­fen. Denn in ein­er Zeit, in der viele ‘Fromme’ das Gefühl haben, die Ret­tung von Kirche und Glauben beste­he darin, christliche Vorstel­lun­gen in Fra­gen der [Sexual-]Ethik an den Nagel zu hän­gen, ent­deck­en andere Men­schen genau diese Werte für sich als Schatz und fan­gen an, sich auf die Suche nach ihren Ursprün­gen zu machen.

Das sind Men­schen wie die erwäh­nte Louise Perry.

Es sind Men­schen, welche die ver­schiede­nen roman­tis­chen Spielarten unser­er Zeit durchex­erziert haben und merken, was für eine Ver­wüs­tung das Ausleben des säku­laren Traumes zurück­lassen kann.

Es sind Men­schen, welche die Schat­ten­seit­en und Unzulänglichkeit­en aktueller Ide­olo­gien bemerken.

Es sind Men­schen, welche auf der Suche nach Bleiben­dem über Werte und Wahrheit­en stolpern, welche das Chris­ten­tum in unsere Welt einge­bracht hat.

Es sind Men­schen, die merken, dass Män­ner und Frauen ver­schieden sind und dass das gut ist so.

Es sind Men­schen, die merken, dass gewisse Sehn­süchte schlecht sind, dass Sex ohne Liebe nicht befreiend ist, dass es mehr braucht als nur Ein­ver­ständ­nis, wenn es um die Sex­u­al­ität geht, dass Ehe etwas Gutes ist.

Das sind die Men­schen, welche sich auch in unseren Tagen auf­machen, um etwas von der wun­der­schö­nen ‘Bet­ter Sto­ry’ Gottes für uns Men­schen zu ent­deck­en. Sie ent­deck­en, wie heil­sam christliche Ethik eigentlich ist. Und hof­fentlich wer­den sie am Ende ihres Weges nicht nur schätzen, was CHRISTLICH ist, son­dern wer CHRISTUS für sie sein möchte.

Es ist um Men­schen wie Per­ry und ander­er willen, dass wir als die Kirche Jesu nicht das Megaphon für jede neue Melodie der säkular/heidnischen Welt sein soll­ten. Vielmehr liegt es an uns, die her­rlich schöne und gute weltan­schauliche Gesamt­per­spek­tive des Chris­ten­tums in dieser Welt durch Wort und Tat sicht­bar zu machen. Ich bin mehr denn je überzeugt: Wir dienen der Welt am besten, indem wir Gott gegenüber treu bleiben, seine Melodie ent­deck­en und mit Freude sin­gen – ger­ade auch in stür­mis­chen Zeit­en. Nach Jahren der Schön­wet­ter­fliegerei dür­fen wir in diesen Tagen ler­nen, im Sturmwind zu fliegen. Gott traut uns das zu. Es ist ein her­aus­fordern­des Vor­recht, eine Ehre.

Culture Shift

In diesem Sinne möcht­en wir auch an die Cul­ture Shift Kon­ferenz vom Fre­itag 07. bis Sam­stag 08. Juni in Thun ein­laden. Bei dieser Kon­ferenz möcht­en wir die Denkweisen unter­suchen, die unsere Gesellschaft prä­gen und wie sich diese auf Iden­tität, Beziehun­gen und Sex­u­al­ität auswirken. Anhand der Bibel wollen wir Gottes Melodie für uns Men­schen wieder neu ent­deck­en und uns fra­gen, wie wir diese auch in stür­mis­chen Zeit­en mit Freude sin­gen kön­nen, so dass Men­schen sie hören und mit einstimmen.

Damit die Kon­ferenz speziell wird, haben wir neben viel ‘CH-Pow­er’ mit Nancey Pearcey eine der weltweit in The­men Gen­der, Sex­u­al­ität und Weltan­schau­ung wohl pro­fil­iertesten Per­sön­lichkeit­en mit an Bord. Für Pearcey wird die Kon­ferenz so etwas wie ein Heimkom­men sein, denn sie hat vor vie­len Jahren bei einem Aufen­thalt in der Schweiz zum Glauben gefunden.

Wir hof­fen und beten, dass wir in diesen 2 Tagen einen offe­nen Him­mel erleben und seine Melodie für unsere Zeit auch in Fra­gen von Gen­der und Sex­u­al­ität neu entdecken.

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Bilder: iStock

Fuss­note:

[1] Der Artikel von Stephan Jütte baut auf einem Zitat auf von Dr. Räsä­nen und benutzt dieses Zitat dann, um sie in die Ecke von Eugenikern und «Hitlerverehrer*innen» zu stellen. Räsä­nen habe in einem Inter­view Homo­sex­u­al­ität als mögliche «genetis­che Degen­er­a­tion» beze­ich­net. Hat Dr. Räsä­nen eine solche Aus­sage gemacht? Sie selb­st sagt nein und hat dabei das Gericht auf ihrer Seite. Ich habe bei Räsä­nen per­sön­lich nachge­fragt, In ihrer Antwort auf meine Anfrage liefert sie gle­ich den entsprechen­den Auszug aus der Urteils­be­grün­dung mit:

“Last year, the Helsin­ki Dis­trict Court gave its rul­ing on my case and stat­ed in its rul­ing that I have not said what the Pros­e­cu­tor Gen­er­al has claimed in the appli­ca­tion for sum­mons: “No such alle­ga­tion appears in the radio pro­gramme. Räsä­nen has not claimed in the pro­gramme that homo­sex­u­al­i­ty is a genet­ic degen­er­a­tion and a genet­ic inher­i­tance which caus­es dis­ease and impair­ment.”  The Helsin­ki Court of Appeal stat­ed the exact same this autumn, as the Court ruled that all the charges against me have been dis­missed, and that no such state­ments have been made by me.”

Auf­grund mein­er Inter­ven­tion beim Autor wurde der Artikel vor eini­gen Tagen ger­ingfügig abgeän­dert. Anführungs- und Schlussze­ichen wur­den ent­fer­nt, etwas Kos­metik gemacht. Die neue Sach­lage hätte aber eine trans­par­ente Kom­mu­nika­tion der Verän­derung benötigt und vor allem auch eine Anpas­sung der polemis­chen Botschaft des Artikels, der nun die argu­men­ta­tive Basis fehlt. Wer den ursprünglichen Wort­laut des Artikels lesen will kann dies über die Inter­net Archiv­funk­tion machen.

Über den Kanal

Peter Bruderer

Peter Bruderer, Jahrgang 1974, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, seit 1986 in der Schweiz. 1998 war Peter Gründungsmitglied der erwecklichen 'Godi'-Jugendarbeit in Frauenfeld, welche er bis 2013 prägte. Heute arbeitet er als Projektleiter im kirchlichen und gemeinnützigen Bereich. Ein zweites Standbein ist die Arbeit als Architekt. Peter lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

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Kommentare zu diesen Beitrag

2 Comments

  1. Tom Lehmann-Gurrado

    Lieber Peter
    danke dir und Paul für diese Web­site (Danieloption.ch), für euer Rin­gen um die Wahrheit, um Dif­feren­zierung, um Beziehung (nicht Verurteilen) zu Anders-Denk­enden. All das ermutigt, inspiri­ert und begeis­tert mich.
    Vie­len Dank für Eure Arbeit.
    Im Zusam­men­hang mit “…ent­deck­en andere Men­schen genau diese Werte für sich als Schatz und fan­gen an, sich auf die Suche nach ihren Ursprün­gen zu machen.…” möchte ich noch auf die inter­es­sante Arbeit von ARC (www.arcforum.com) hin­weisen (nicht alles sind Chris­ten), die den erwäh­n­ten Gegen­trend exakt bestätigen.
    Euch in eurem Dienst weit­er­hin viel Freude, Ideen und Kreativ­ität. Lieber Gruss, Tom

    Reply
    • Peter Bruderer

      Vie­len Dank Tom. Ja ich bin über ARC auf dem Laufend­en (Wäre sog­ar ein­ge­laden gewe­sen an die Kon­ferenz). Es ist auf jeden Fall ermuti­gend, wenn in der Bibel begrün­de­tete Werte wieder ent­deckt wer­den und Men­schen sich auf die Suche machen. Per­sön­lich bleibe ich aber auch vor­sichtig. Das Chris­ten­tum ist nicht per Se ein­fach kon­ser­v­a­tiv. Ich denke du weisst was ich damit meine… Eine gute Analyse der ARC Kon­ferenz und der Ansprache von Peter­son macht Glen Scriven­er: https://www.youtube.com/watch?v=omNdy1hDq70
      Ganz Her­zliche Grüsse und es guets Neus!

      Reply

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