Freie Liebe — Über neue Sexualmoral

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«Der Kirche ste­ht eine bedeu­tende Trans­for­ma­tion bevor: Gott hat sie als Glücksvor­rich­tung vorge­se­hen und nicht als neu­ro­tisch-neu­ro­tisierende Heils­mas­chine». Diese erstaunlich hoff­nungsvollen Worte stam­men aus der Fed­er von Bern­hard Meuser. Meuser ist Katho­lik und hat in sein­er Jugend den sex­uellen Miss­brauch durch einen homo­sex­uellen Priester erlebt.

Die Lage der grossen Kirchen Europa’s kön­nte kaum schlim­mer sein. Sie beurteilen ihre Entwick­lung nicht mehr anhand der Zahl der Ein­tritte son­dern anhand des Tempo’s der Aus­tritte. Bei der katholis­chen Kirche liegt ein Grund dafür im kaum zu repari­eren­den Image-Schaden durch sex­uelle Miss­bräuche: Allein im Jahr 2019 wur­den nach Rom um die 1000 Miss­brauchs­fälle gemeldet.

Meuser schreibt sein Buch Freie Liebe (Fontis) als Antwort auf die halb­herzige Aufar­beitung der sex­uellen Miss­bräuche sein­er katholis­chen Kirche. Denn ja, Meuser geht noch in die Kirche, glaubt noch, trotz des Miss­brauchs den er dort erlebt hat, trotz den Auswe­ich­manövern in der Chefe­tage. Von sich und sein­er Frau beken­nt er: «Der Glaube der Kirche ist unser Glück» (S189).

Meuser’s Liebe zu sein­er Kirche zeigt sich darin, dass er ihr ein Buch schreibt! Er schreibt aber auch für die evan­ge­lis­chen Kirchen. Meuser’s Fest­stel­lung hier: Während die katholis­che Kirche eine dop­pel­bödi­ge Sex­ual­moral hat, hat die evan­ge­lis­che Kirche gar keine mehr. Im Buch will er Lösungsan­sätze für bei­de Kirchge­mein­schaften aufzeigen, und – ich glaube – auch für Freikirchen, an denen diese Entwick­lun­gen lei­der nicht spur­los vor­bei gehen. Das Prob­lem ist:

«Bei­de großen christlichen Kon­fes­sio­nen kämpfen in Wes­teu­ropa ger­ade um ihr nack­tes Über­leben… Eine beliebte Strate­gie ist jew­eils die Ver­bil­li­gung des Ange­bots, namentlich die Ent-Ethisierung des Evan­geli­ums…. Wie, wenn es ein Chris­ten­tum gäbe, in dem mehr oder weniger alles erlaubt ist?» (S12)

Fol­gt man Meuser, so geht die katholis­chen Kirche „im Hor­i­zont des Liebes- und Steuer­entzuges“ diesen Weg des Bil­lig­machens des Evan­geli­ums. Diet­rich Bon­ho­ef­fer hat­te schon vor der „bil­li­gen Gnade“ gewarnt. Auf dem soge­nan­nten „Syn­odalen Weg“ will man die Miss­brauch­skrise aufar­beit­en. In Wahrheit wer­den die Missstände noch ein­mal nach­haltiger unter den Tep­pich gekehrt. Die offizielle Kirche möchte ihre priv­i­legierte Stel­lung in der Gesellschaft nicht aufgeben. Stim­men, die nach Reini­gung, Umkehr und Wahrhaftigkeit rufen, wer­den als Störung emp­fun­den. Man fol­gt lieber den Sire­nen­klän­gen der soge­nan­nten ‘Beziehungsethik’, wie sie der inzwis­chen ver­stor­bene Moralthe­ologe Schock­en­hoff ver­trat. Die „Sünde“ spielt darin keine große Rolle mehr; meis­tens wird sie 1:1 durch das Wort „Wertschätzung“ ersetzt.

So sehen sie aus die Kon­turen dieser Beziehungsethik: «Beziehungs­for­men, in denen Werte wie Liebe, Fre­und­schaft, Ver­lässlichkeit, Treue, gegen­seit­iges Für-einan­der-Ein­ste­hen und Sol­i­dar­ität gelebt wer­den, ver­di­enen in moralis­ch­er Hin­sicht Anerken­nung und Respekt – unab­hängig davon, unter dem Vorze­ichen welch­er sex­uellen Ori­en­tierung sie gelebt wer­den. Umgekehrt gilt: Promiskuität, offene Mehrfach­beziehun­gen, Untreue und von vorn­here­in unter Vor­be­halt einge­gan­gene Beziehun­gen sind moralisch frag­würdig, und dies eben­falls unab­hängig von der sex­uellen Ori­en­tierung der Betrof­fe­nen.» (S141) Das klingt wie aus dem Skript der pro­gres­siv­en Sex­ual­moral unser­er All­ge­meinge­sellschaft. Meuser’s Buch ist eine inspiri­erende, bewe­gende und wuchtige Reise durch die lebens­feindlichen Kol­lat­er­alschä­den der ‘Beziehungsethik’ ein­er­seits und der lebens­be­ja­hen­den Chan­cen der ‘Leibesthe­olo­gie’ andererseits.

Wo liegt das Prob­lem? Die ‘Beziehungsethik’ tren­nt das, was natür­licher­weise zusam­menge­hört. Das führt zu ein­er frag­men­tierten Sex­u­al­ität, deren Kol­lat­er­alschä­den wir in eini­gen Jahren alle zu spüren bekom­men werden.

«Wir tren­nen männliche Wel­ten von weib­lichen Wel­ten, die Lust von der Treue, die Treue von der Liebe, die Liebe vom Kinderkriegen, das Kinderkriegen vom Mut­ter- und Vater­sein und schließlich auch noch poli­tisch die Erziehung vom Eltern­haus.» (S39)

Wer­den diese alle­samt wichti­gen Bere­iche los­gelöst von einan­der aus­gelebt, sind Miss­bräuche vorprogrammiert.

Meuser zeich­net diese frag­men­tierte und kör­per­feindliche Sex­u­al­ität an mehreren Beispie­len nach, auch am Beispiel des von ihm am eige­nen Leib erlebten Miss­brauchs: «Als homo­sex­ueller Mann war er (der Priester) nicht in der Lage, physisch Vater zu wer­den. Den­noch kam das eigentliche aus­geschlossene Ele­ment Vater­sein sehr stark in ihm zum Aus­bruch. Ich sollte «sein Sohn» sein, was im Rah­men ein­er natür­lichen Beziehungsstruk­tur nicht möglich war.» Aber «Meinem Ersatz­vater fehlte ver­ständlicher­weise die Inzes­them­mung… Die Katas­tro­phe nahm ihren Lauf, als das unter­schwellig vorhan­dene Begehren die Ober­hand über die kün­stlich her­beige­führte Vater­schaft gewann. Geil­heit siegte über Güte.» (Auss­chnitte aus S229)

Die ‘Beziehungsethik’, mit der die katholis­che Kirche aktuell flirtet und der sich die evan­ge­lis­che Kirche bere­its ver­schrieben hat, ist nichts anderes als eine post­fak­tis­che Recht­fer­ti­gungsmoral, welche das Prob­lem weit­er­führt anstatt es zu lösen.

Wer meint, Meuser sehe sich als Opfer dieses Miss­brauchs und sei auf der Suche nach Mitleid, täuscht sich. Man spürt keine Rachegelüste, keine Bit­terkeit. Im Gegen­teil sehnt sich Meuser danach, Men­schen gerecht zu wer­den, die sich ihre sex­uelle Ori­en­tierung nicht aus­ge­sucht haben:

«Homo­sex­uelle – auch homo­sex­uelle Priester – müssen in der Kirche gut leben kön­nen; sie haben ein Recht darauf, Wertschätzung zu erfahren, und sie haben es, unter der Voraus­set­zung, dass sie kein Dop­pelleben führen, nicht nötig, sich zu ver­steck­en.» (S167)

Der Weg dahin führt jedoch nicht über eine ‘Beziehungsethik’, denn diese ver­schliesst die Augen vor den wirk­lichen Problemen.

Iro­nis­cher­weise sieht die ‘Beziehungsethik’ die Ursache der Miss­bräuche in der ange­blich vorhan­de­nen struk­turellen Homo­pho­bie der Kirche (welche doch vie­len homo­sex­uellen Priestern ‘Zuflucht’ gewährt hat) anstatt im Prob­lem der frag­men­tierten Sex­u­al­ität zu suchen. Die näm­lich wird ger­ade in der gesamten west­lichen Welt auf Biegen und Brechen gefördert:

Der Hin­ter­grund des aufzuar­bei­t­en­den Elends in bei­den Kirchen ist ein Dog­ma der Mod­erne und die Unterze­ich­nung ein­er Ur-Akte. Das Dog­ma lautet: Sex ist niemals Sünde. Die Ur-Akte lautet: Wir wer­den nie wieder etwas Sex­uelles in Verbindung mit Sünde brin­gen. Die Evan­ge­lis­che Kirche hat diese Ur-Akte, die über Anschluss oder Nich­tan­schluss an die Mod­erne entschei­det, lange schon unterze­ich­net. Die deutsche Katholis­che Kirche ist ger­ade im Begriff, dies auch zu tun. (S17)

Die Kirche ver­sucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie ‘das Sex­uelle’ ver-unschuldigt — als wäre ger­ade das Paradies noch ein­mal aus­ge­brochen —  und mit Rhetorik aus der neo­marx­is­tis­chen Trick­kiste „Macht“ als Ursprung vom allem Bösen ein­führt. Anstatt von ‘gewalt­tätiger Sex­u­al­ität’ wird von ’sex­u­al­isiert­er Gewalt’ gesprochen. Meuser fasst zusam­men: «Diese Zer­gliederung liest sich ger­ade so, als habe Knaben­schän­dung mit allem zu tun, bloß nicht mit Knaben­schän­dung. Das erstaunt einen, der es erlebt hat.» (S158) Die katholis­che und die evan­ge­lis­che Kirche wer­den Miss­brauch nicht stop­pen kön­nen, solange sie ihn ´beziehungsethisch´ ver­harm­losen, statt ihm mit ein­er real­is­tis­chen Sex­u­alethik zu begeg­nen, in der Men­schen in ihrer Sex­u­al­ität zum Guten wie zum Bösen – also zu allem – fähig sind.

Meuser’s Buch ist durch­set­zt mit erschreck­en­dem Real­is­mus angesichts mon­strös­er Aus­for­mungen men­schlich­er Sex­u­al­ität; gle­ichzeit­ig lese ich die großar­tig­sten Aus­sagen über die Kirche und das Leben und Gott seit langem! Die Beschriebe des Lebens mit Gott in der Kirche strotzen von Kraft, Hoff­nung und Schön­heit. Sie weck­en grosse Freude! Die The­olo­gie des Leibes, die auf Papst Johannes Paul II zurück­ge­ht, und die damit ver­bun­dene Sicht von Kirche, ist nichts weniger als her­rlich. Der Anfang dieser lebens­be­ja­hen­den Sicht entspringt aus­gerech­net jen­er Schrift, von der sich die Kirchen im Kern zu ver­ab­schieden dro­hen, der Heili­gen Schrift:

«Wer das Neue Tes­ta­ment aufmerk­sam liest, wird ent­deck­en, dass es gar kein Sün­den­ver­mei­dungs-Hand­buch ist, eher schon ein Buch vom Glück und von der Freude.» (S266)

Hier in der Bibel find­et Meuser die Schön­heit in ein­er ‘The­olo­gie des Leibes’, ein­er Ethik des Kör­pers. Der Schlüs­sel zu dieser Ethik des Lebens ist zu erken­nen, dass unser Kör­p­er eine Sprache spricht, und zwar eine Sprache der Liebe, welche der Schöpfer Gott in uns hinein­gelegt hat:

«Ger­ade der Men­sch, der liebt, ist eine Ein­heit von Kör­p­er, Seele und Geist – oder er bleibt unter seinen Möglichkeit­en. Unser Kör­p­er hat eine Gram­matik; ja, er ist eine reiche, lei­der oft kaum in Ansätzen entwick­elte Sprache. Wenn Liebe eine wahrhafte «Vere­ini­gung von Per­so­n­en» (und nicht bloß von Kör­pern) ist, dann geschieht es unter der Voraus­set­zung, dass schon unser Kör­p­er wahrheits­fähig ist. Er kann zum sprechen­den Aus­druck unseres Wesens wer­den.» (S298)

Was die Mod­erne aus der Welt geschafft hat, sollte die Kirche unbe­d­ingt wieder auf­suchen: ein Denken von der Tele­olo­gie her – von den „natür­lichen Zie­len“ (der Philosoph Robert Spae­mann) in der Natur und im Kör­p­er des Men­schen. Mit anderen Worten for­muliert: Unser Kör­p­er erk­lärt, wie wir Sex­u­al­ität leben sollen. Dies führt dazu, dass die Bere­iche der Liebe und des Lebens nicht von einan­der getren­nt gelebt wer­den sollen:

«Frei­heit wird schön, indem sie aus Frei­heit dem Leben dient, sich in Frei­heit von der Liebe binden und führen lässt und darin zur Lust befre­it wird.» (S72)

Eine Kirche, welche nicht bere­it ist diese bib­lis­che Sicht des Lebens zu leben und zu erk­lären, kom­pro­mit­tiert in let­zter Kon­se­quenz unseren Schöpfer und wird deshalb ihre Entwick­lung nur noch in der Menge der Aus­tritte messen kön­nen. Diese Kirche ver­dun­stet in der Irrelevanz:

«Eine Kirche aber, die aus Feigheit und Pop­ulis­mus ihren prophetis­chen Dienst ver­weigert und dem Gott des Lebens entkom­men möchte, wird wie Jona über Bord gewor­fen.» (S383)

Die Kirche hinge­gen, welche mit Zuver­sicht ihren prophetis­chen Dienst lebt, erlebt eine Trans­for­ma­tion. Diese Trans­for­ma­tion schafft nicht nur einen Weg aus dem Miss­brauchsskan­dal, son­dern lädt die Men­schen ins Leben ein. Die Kirche ist dann jene Glücksvor­rich­tung, von der am Anfang dieser Rezen­sion die Rede war:

«Sie wird aber eben­so unprä­ten­tiös wie stand­fest auf die offen­baren Optio­nen Gottes hin­weisen; sie wird das Evan­geli­um über die wilden Köpfe aller hal­ten und in das leuch­t­ende Ganze der Liebe ein­laden… Sie wird dafür bekan­nt sein, dass man mit ihrer Hil­fe in eine mitreißende Dynamik der Liebe kommt und einen Weg in die per­sön­liche und soziale Seligkeit find­et.» (S24)

Mit Bern­hard Meuser äussert sich endlich jemand, der per­sön­lich zutief­st betrof­fen ist von den Unruhen unser­er Zeit und gle­ichzeit­ig mit gross­er Klarheit sieht. Dies ist eine unver­hoffte Erfrischung in ein­er Zeit, in der das Meiste, was wir im Moment in kirch­lichen Kreisen aufgetis­cht bekom­men, irgen­deine Vari­ante des faulen Kom­pro­miss­es ist. Lei­der lebt der kom­pro­mit­tierende Geist von Jona nicht nur in den katholis­chen und evan­ge­lis­chen Kirchen, son­dern auch mit­ten in den evan­ge­likalen Freikirchen. Meuser’s Buch zu lesen ist deshalb ein Muss für alle Leit­er von Ver­bän­den, Pas­toren, Seel­sorg­er, The­olo­gen und Chris­ten, die sich für das Heil der Chris­ten­heit und der Gesellschaft interessieren.

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Alle Bilder: Peter Bruderer

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