Freie Liebe — Über neue Sexualmoral

Lesezeit: 6 Minuten
Lesezeit: 6 Minuten

by Paul Bruderer | 07. Nov. 2020 | 0 comments

«Der Kirche ste­ht eine bedeu­tende Trans­for­ma­tion bevor: Gott hat sie als Glücksvor­rich­tung vorge­se­hen und nicht als neu­ro­tisch-neu­ro­tisierende Heils­mas­chine». Diese erstaunlich hoff­nungsvollen Worte stam­men aus der Fed­er von Bern­hard Meuser. Meuser ist Katho­lik und hat in sein­er Jugend den sex­uellen Miss­brauch durch einen homo­sex­uellen Priester erlebt.

Die Lage der grossen Kirchen Europa’s kön­nte kaum schlim­mer sein. Sie beurteilen ihre Entwick­lung nicht mehr anhand der Zahl der Ein­tritte son­dern anhand des Tempo’s der Aus­tritte. Bei der katholis­chen Kirche liegt ein Grund dafür im kaum zu repari­eren­den Image-Schaden durch sex­uelle Miss­bräuche: Allein im Jahr 2019 wur­den nach Rom um die 1000 Miss­brauchs­fälle gemeldet.

Meuser schreibt sein Buch Freie Liebe (Fontis) als Antwort auf die halb­herzige Aufar­beitung der sex­uellen Miss­bräuche sein­er katholis­chen Kirche. Denn ja, Meuser geht noch in die Kirche, glaubt noch, trotz des Miss­brauchs den er dort erlebt hat, trotz den Auswe­ich­manövern in der Chefe­tage. Von sich und sein­er Frau beken­nt er: «Der Glaube der Kirche ist unser Glück» (S189).

Meuser’s Liebe zu sein­er Kirche zeigt sich darin, dass er ihr ein Buch schreibt! Er schreibt aber auch für die evan­ge­lis­chen Kirchen. Meuser’s Fest­stel­lung hier: Während die katholis­che Kirche eine dop­pel­bödi­ge Sex­ual­moral hat, hat die evan­ge­lis­che Kirche gar keine mehr. Im Buch will er Lösungsan­sätze für bei­de Kirchge­mein­schaften aufzeigen, und – ich glaube – auch für Freikirchen, an denen diese Entwick­lun­gen lei­der nicht spur­los vor­bei gehen. Das Prob­lem ist:

«Bei­de großen christlichen Kon­fes­sio­nen kämpfen in Wes­teu­ropa ger­ade um ihr nack­tes Über­leben… Eine beliebte Strate­gie ist jew­eils die Ver­bil­li­gung des Ange­bots, namentlich die Ent-Ethisierung des Evan­geli­ums…. Wie, wenn es ein Chris­ten­tum gäbe, in dem mehr oder weniger alles erlaubt ist?» (S12)

Fol­gt man Meuser, so geht die katholis­chen Kirche „im Hor­i­zont des Liebes- und Steuer­entzuges“ diesen Weg des Bil­lig­machens des Evan­geli­ums. Diet­rich Bon­ho­ef­fer hat­te schon vor der „bil­li­gen Gnade“ gewarnt. Auf dem soge­nan­nten „Syn­odalen Weg“ will man die Miss­brauch­skrise aufar­beit­en. In Wahrheit wer­den die Missstände noch ein­mal nach­haltiger unter den Tep­pich gekehrt. Die offizielle Kirche möchte ihre priv­i­legierte Stel­lung in der Gesellschaft nicht aufgeben. Stim­men, die nach Reini­gung, Umkehr und Wahrhaftigkeit rufen, wer­den als Störung emp­fun­den. Man fol­gt lieber den Sire­nen­klän­gen der soge­nan­nten ‘Beziehungsethik’, wie sie der inzwis­chen ver­stor­bene Moralthe­ologe Schock­en­hoff ver­trat. Die „Sünde“ spielt darin keine große Rolle mehr; meis­tens wird sie 1:1 durch das Wort „Wertschätzung“ ersetzt.

So sehen sie aus die Kon­turen dieser Beziehungsethik: «Beziehungs­for­men, in denen Werte wie Liebe, Fre­und­schaft, Ver­lässlichkeit, Treue, gegen­seit­iges Für-einan­der-Ein­ste­hen und Sol­i­dar­ität gelebt wer­den, ver­di­enen in moralis­ch­er Hin­sicht Anerken­nung und Respekt – unab­hängig davon, unter dem Vorze­ichen welch­er sex­uellen Ori­en­tierung sie gelebt wer­den. Umgekehrt gilt: Promiskuität, offene Mehrfach­beziehun­gen, Untreue und von vorn­here­in unter Vor­be­halt einge­gan­gene Beziehun­gen sind moralisch frag­würdig, und dies eben­falls unab­hängig von der sex­uellen Ori­en­tierung der Betrof­fe­nen.» (S141) Das klingt wie aus dem Skript der pro­gres­siv­en Sex­ual­moral unser­er All­ge­meinge­sellschaft. Meuser’s Buch ist eine inspiri­erende, bewe­gende und wuchtige Reise durch die lebens­feindlichen Kol­lat­er­alschä­den der ‘Beziehungsethik’ ein­er­seits und der lebens­be­ja­hen­den Chan­cen der ‘Leibesthe­olo­gie’ andererseits.

Wo liegt das Prob­lem? Die ‘Beziehungsethik’ tren­nt das, was natür­licher­weise zusam­menge­hört. Das führt zu ein­er frag­men­tierten Sex­u­al­ität, deren Kol­lat­er­alschä­den wir in eini­gen Jahren alle zu spüren bekom­men werden.

«Wir tren­nen männliche Wel­ten von weib­lichen Wel­ten, die Lust von der Treue, die Treue von der Liebe, die Liebe vom Kinderkriegen, das Kinderkriegen vom Mut­ter- und Vater­sein und schließlich auch noch poli­tisch die Erziehung vom Eltern­haus.» (S39)

Wer­den diese alle­samt wichti­gen Bere­iche los­gelöst von einan­der aus­gelebt, sind Miss­bräuche vorprogrammiert.

Meuser zeich­net diese frag­men­tierte und kör­per­feindliche Sex­u­al­ität an mehreren Beispie­len nach, auch am Beispiel des von ihm am eige­nen Leib erlebten Miss­brauchs: «Als homo­sex­ueller Mann war er (der Priester) nicht in der Lage, physisch Vater zu wer­den. Den­noch kam das eigentliche aus­geschlossene Ele­ment Vater­sein sehr stark in ihm zum Aus­bruch. Ich sollte «sein Sohn» sein, was im Rah­men ein­er natür­lichen Beziehungsstruk­tur nicht möglich war.» Aber «Meinem Ersatz­vater fehlte ver­ständlicher­weise die Inzes­them­mung… Die Katas­tro­phe nahm ihren Lauf, als das unter­schwellig vorhan­dene Begehren die Ober­hand über die kün­stlich her­beige­führte Vater­schaft gewann. Geil­heit siegte über Güte.» (Auss­chnitte aus S229)

Die ‘Beziehungsethik’, mit der die katholis­che Kirche aktuell flirtet und der sich die evan­ge­lis­che Kirche bere­its ver­schrieben hat, ist nichts anderes als eine post­fak­tis­che Recht­fer­ti­gungsmoral, welche das Prob­lem weit­er­führt anstatt es zu lösen.

Wer meint, Meuser sehe sich als Opfer dieses Miss­brauchs und sei auf der Suche nach Mitleid, täuscht sich. Man spürt keine Rachegelüste, keine Bit­terkeit. Im Gegen­teil sehnt sich Meuser danach, Men­schen gerecht zu wer­den, die sich ihre sex­uelle Ori­en­tierung nicht aus­ge­sucht haben:

«Homo­sex­uelle – auch homo­sex­uelle Priester – müssen in der Kirche gut leben kön­nen; sie haben ein Recht darauf, Wertschätzung zu erfahren, und sie haben es, unter der Voraus­set­zung, dass sie kein Dop­pelleben führen, nicht nötig, sich zu ver­steck­en.» (S167)

Der Weg dahin führt jedoch nicht über eine ‘Beziehungsethik’, denn diese ver­schliesst die Augen vor den wirk­lichen Problemen.

Iro­nis­cher­weise sieht die ‘Beziehungsethik’ die Ursache der Miss­bräuche in der ange­blich vorhan­de­nen struk­turellen Homo­pho­bie der Kirche (welche doch vie­len homo­sex­uellen Priestern ‘Zuflucht’ gewährt hat) anstatt im Prob­lem der frag­men­tierten Sex­u­al­ität zu suchen. Die näm­lich wird ger­ade in der gesamten west­lichen Welt auf Biegen und Brechen gefördert:

Der Hin­ter­grund des aufzuar­bei­t­en­den Elends in bei­den Kirchen ist ein Dog­ma der Mod­erne und die Unterze­ich­nung ein­er Ur-Akte. Das Dog­ma lautet: Sex ist niemals Sünde. Die Ur-Akte lautet: Wir wer­den nie wieder etwas Sex­uelles in Verbindung mit Sünde brin­gen. Die Evan­ge­lis­che Kirche hat diese Ur-Akte, die über Anschluss oder Nich­tan­schluss an die Mod­erne entschei­det, lange schon unterze­ich­net. Die deutsche Katholis­che Kirche ist ger­ade im Begriff, dies auch zu tun. (S17)

Die Kirche ver­sucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem sie ‘das Sex­uelle’ ver-unschuldigt — als wäre ger­ade das Paradies noch ein­mal aus­ge­brochen —  und mit Rhetorik aus der neo­marx­is­tis­chen Trick­kiste „Macht“ als Ursprung vom allem Bösen ein­führt. Anstatt von ‘gewalt­tätiger Sex­u­al­ität’ wird von ’sex­u­al­isiert­er Gewalt’ gesprochen. Meuser fasst zusam­men: «Diese Zer­gliederung liest sich ger­ade so, als habe Knaben­schän­dung mit allem zu tun, bloß nicht mit Knaben­schän­dung. Das erstaunt einen, der es erlebt hat.» (S158) Die katholis­che und die evan­ge­lis­che Kirche wer­den Miss­brauch nicht stop­pen kön­nen, solange sie ihn ´beziehungsethisch´ ver­harm­losen, statt ihm mit ein­er real­is­tis­chen Sex­u­alethik zu begeg­nen, in der Men­schen in ihrer Sex­u­al­ität zum Guten wie zum Bösen – also zu allem – fähig sind.

Meuser’s Buch ist durch­set­zt mit erschreck­en­dem Real­is­mus angesichts mon­strös­er Aus­for­mungen men­schlich­er Sex­u­al­ität; gle­ichzeit­ig lese ich die großar­tig­sten Aus­sagen über die Kirche und das Leben und Gott seit langem! Die Beschriebe des Lebens mit Gott in der Kirche strotzen von Kraft, Hoff­nung und Schön­heit. Sie weck­en grosse Freude! Die The­olo­gie des Leibes, die auf Papst Johannes Paul II zurück­ge­ht, und die damit ver­bun­dene Sicht von Kirche, ist nichts weniger als her­rlich. Der Anfang dieser lebens­be­ja­hen­den Sicht entspringt aus­gerech­net jen­er Schrift, von der sich die Kirchen im Kern zu ver­ab­schieden dro­hen, der Heili­gen Schrift:

«Wer das Neue Tes­ta­ment aufmerk­sam liest, wird ent­deck­en, dass es gar kein Sün­den­ver­mei­dungs-Hand­buch ist, eher schon ein Buch vom Glück und von der Freude.» (S266)

Hier in der Bibel find­et Meuser die Schön­heit in ein­er ‘The­olo­gie des Leibes’, ein­er Ethik des Kör­pers. Der Schlüs­sel zu dieser Ethik des Lebens ist zu erken­nen, dass unser Kör­p­er eine Sprache spricht, und zwar eine Sprache der Liebe, welche der Schöpfer Gott in uns hinein­gelegt hat:

«Ger­ade der Men­sch, der liebt, ist eine Ein­heit von Kör­p­er, Seele und Geist – oder er bleibt unter seinen Möglichkeit­en. Unser Kör­p­er hat eine Gram­matik; ja, er ist eine reiche, lei­der oft kaum in Ansätzen entwick­elte Sprache. Wenn Liebe eine wahrhafte «Vere­ini­gung von Per­so­n­en» (und nicht bloß von Kör­pern) ist, dann geschieht es unter der Voraus­set­zung, dass schon unser Kör­p­er wahrheits­fähig ist. Er kann zum sprechen­den Aus­druck unseres Wesens wer­den.» (S298)

Was die Mod­erne aus der Welt geschafft hat, sollte die Kirche unbe­d­ingt wieder auf­suchen: ein Denken von der Tele­olo­gie her – von den „natür­lichen Zie­len“ (der Philosoph Robert Spae­mann) in der Natur und im Kör­p­er des Men­schen. Mit anderen Worten for­muliert: Unser Kör­p­er erk­lärt, wie wir Sex­u­al­ität leben sollen. Dies führt dazu, dass die Bere­iche der Liebe und des Lebens nicht von einan­der getren­nt gelebt wer­den sollen:

«Frei­heit wird schön, indem sie aus Frei­heit dem Leben dient, sich in Frei­heit von der Liebe binden und führen lässt und darin zur Lust befre­it wird.» (S72)

Eine Kirche, welche nicht bere­it ist diese bib­lis­che Sicht des Lebens zu leben und zu erk­lären, kom­pro­mit­tiert in let­zter Kon­se­quenz unseren Schöpfer und wird deshalb ihre Entwick­lung nur noch in der Menge der Aus­tritte messen kön­nen. Diese Kirche ver­dun­stet in der Irrelevanz:

«Eine Kirche aber, die aus Feigheit und Pop­ulis­mus ihren prophetis­chen Dienst ver­weigert und dem Gott des Lebens entkom­men möchte, wird wie Jona über Bord gewor­fen.» (S383)

Die Kirche hinge­gen, welche mit Zuver­sicht ihren prophetis­chen Dienst lebt, erlebt eine Trans­for­ma­tion. Diese Trans­for­ma­tion schafft nicht nur einen Weg aus dem Miss­brauchsskan­dal, son­dern lädt die Men­schen ins Leben ein. Die Kirche ist dann jene Glücksvor­rich­tung, von der am Anfang dieser Rezen­sion die Rede war:

«Sie wird aber eben­so unprä­ten­tiös wie stand­fest auf die offen­baren Optio­nen Gottes hin­weisen; sie wird das Evan­geli­um über die wilden Köpfe aller hal­ten und in das leuch­t­ende Ganze der Liebe ein­laden… Sie wird dafür bekan­nt sein, dass man mit ihrer Hil­fe in eine mitreißende Dynamik der Liebe kommt und einen Weg in die per­sön­liche und soziale Seligkeit find­et.» (S24)

Mit Bern­hard Meuser äussert sich endlich jemand, der per­sön­lich zutief­st betrof­fen ist von den Unruhen unser­er Zeit und gle­ichzeit­ig mit gross­er Klarheit sieht. Dies ist eine unver­hoffte Erfrischung in ein­er Zeit, in der das Meiste, was wir im Moment in kirch­lichen Kreisen aufgetis­cht bekom­men, irgen­deine Vari­ante des faulen Kom­pro­miss­es ist. Lei­der lebt der kom­pro­mit­tierende Geist von Jona nicht nur in den katholis­chen und evan­ge­lis­chen Kirchen, son­dern auch mit­ten in den evan­ge­likalen Freikirchen. Meuser’s Buch zu lesen ist deshalb ein Muss für alle Leit­er von Ver­bän­den, Pas­toren, Seel­sorg­er, The­olo­gen und Chris­ten, die sich für das Heil der Chris­ten­heit und der Gesellschaft interessieren.

Artikel als PDF herunterladen

Über den Kanal

Paul Bruderer

Paul Bruderer, Jahrgang 1972, als Kind von Missionaren in Afrika aufgewachsen, 1998 Gründungsmitglied der erwecklichen ‹Godi›-Jugendarbeit in Frauenfeld. Seit 2001 Pastor in der Chrischona Gemeinde Frauenfeld. Paul lebt mit seiner Familie in Frauenfeld, Schweiz.

Werde Teil der Diskussion

Kommentare zu diesen Beitrag

0 Comments

Submit a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt weiterstöbern

Mehr Blogposts entdecken

Archäologie der Ideologie

Archäologie der Ideologie

«Die Alternative ist, dass es einen Gott gibt - einen Gott, der zu seiner Zeit wieder große Männer hervorbringen wird, um seinen Willen zu tun, große Männer, die der Tyrannei der Experten widerstehen und die Menschheit wieder in die Reiche des Lichts und der Freiheit...

Eine K‑Bombe auf das prüde Amerika

Eine K‑Bombe auf das prüde Amerika

Vor 75 Jahren erschien mit Sexual Behavior in the Human Male die erste der berühmt-berüchtigten Kinsey-Studien. Die ‚Mutter aller Sexstudien’ hat eine moralische Revolution losgetreten. Mit ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und einem Overkill an erhobenen Daten...