In Johannes 6 lesen wir, dass die harte, nicht einfach zu verdauend Lehre Jesu eine grosse Zahl seiner Anhänger dazu veranlasste, ihn im Stich zu lassen. Nachdem diese gegangen waren, fragte Jesus seine verbliebenen Jünger: «Wollt ihr auch weggehen?» (Joh 6:67b). Ich nehme an, dass Petrus beschämt und todunglücklich darüber ist, dass so viele den verliessen, den er «Herr» nennt. Er antwortete ihm: «Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.» (Joh 6:68–69).
Das ist auf eine gewisse Art auch meine Geschichte. Ich habe beide Paar Schuhe getragen: die Schuhe derer, die weggegangen sind, und die Schuhe von Petrus, der nicht weggehen konnte, egal wie schwer es schien, bei Jesus zu bleiben. Ich war ein #exvangelical, der den Glauben seiner Jugend für das “progressive Christentum” verliess. Dann kehrte ich um. Hier ist meine #revangelical Geschichte.
Wie mein Glaube zerbrach
Die christliche Tradition, in der ich aufgewachsen bin – sie gab mir viele wunderbare Dinge – war nicht vorbereitet auf eine Generation von Kindern, die mit Zugang zu High-Speed-Internet aufgewachsen sind. Nicht, dass die Kritiken an der Bibel, die wir online entdeckten, neu waren. Aber jetzt waren sie jederzeit zur Verfügung für all diejenigen neugierigen Leute, die in behüteten evangelikalen Blasen aufwuchsen – so wie ich. Die Antworten, welche die Kirchen geben konnten, schienen schal und oberflächlich im Vergleich zu den berechtigten Kritiken, die bloss eine Google-Suche oder ein YouTube-Video weg waren.
- Was ist mit den Widersprüchen und wissenschaftlichen Ungenauigkeiten in bestimmten biblischen Geschichten?
- Wie konnten wir achselzuckend Passagen überlesen, in denen Gott Israel befiehlt, seine Feinde und deren Kinder zu schlachten?
- Wie kann ein liebender Gott seine geliebte Schöpfung zu ewiger Qual verurteilen?
- Was ist mit all den anderen Religionen? Sagen sie nicht alle im Grunde dasselbe?
Unter diesen Fragen begann die Autorität der Geschichten, die mir als Kind weitergegeben wurden, zu zerbröckeln. Ich hatte nicht nur Fragen zur Bibel, sondern auch Fragen darüber, wie sie mit der politischen Kultur meines Glaubens in Verbindung stehen:
- Warum schienen unsere Grundsätze arme und randständige Gemeinschaften besonders zu benachteiligen?
- Warum war es in der Kirche üblich zu sehen, wie Christen Immigranten abwertend betrachteten? Auch sie waren nach dem Bild Gottes gemacht und suchen einfach ein besseres Leben in meiner texanischen Stadt.
- So wichtig das Thema Abtreibung auch ist; sollten wir uns nicht auch um diejenigen kümmern, welche nach der Geburt leiden?
Ich konnte nicht anders: ich begann zu denken, dass alles komplizierter sein musste als die Geschichten, die mir früher erzählt wurden. Irgendwann verliess ich darum den Glauben ganz. Ich wollte nichts mehr mit Jesus oder der Kirche zu tun haben.
Interessanterweise war es in einer Zeit der Trauer – als ich erfuhr, dass meine Mutter, von der ich mich entfremdet hatte, gestorben war –, dass Gott begann, wieder in mein Leben einzutreten. Aber in meinem evangelikalen Umfeld fehlte eine substanzielle Theologie des Leidens. Leiden war etwas, das wir meiden oder unterdrücken sollten, kein Mittel der verändernden Gnade Gottes in unserem Leben.
Dieses Dreieck von Fragen –über die Schrift, die Politik und das Leiden – bewegte mich dazu, das progressive Christentum zu erforschen.
Rückbau ohne Wiederaufbau
Ich las die Bücher «Velvet Elvis» und «Love Wins» von Rob Bell und auch Donald Millers Buch «Blue Like Jazz». Ich erinnere mich immer noch an das eine Kapitel in «Blue Like Jazz», welches mir eine Welt der Gnade öffnete; einer Gnade, welche ich vorher nicht erlebt hatte — aber auch zu einer Welt, die von orthodoxer Lehre befreit war. Als Fan von Michael Gungor begann ich, seine neu herausgebrachten Podcasts «The Liturgists» zu hören.
Die Ansichten, denen ich begegnete, waren aufregend. Die Wissenschaft musste nicht wegen der Bibel verworfen werden! Im Gegensatz zum Gebet, welches sich beinahe wie Münzenwerfen, wie «Kopf oder Zahl» anfühlte, bot die Mystik eine neue Art, dem Göttlichen zu begegnen! Der Glaube konnte politische Ansichten inspirieren, welche auch die Sorge für Randgruppen einschloss! Das Wichtigste aber war: als ich den Dekonstruktions-Geschichten von Michael Gungor und “Science Mike” McHargues zuhörte, hörte ich meine eigene Geschichte! In ihnen fand ich Menschen, die wussten, wie es ist, den eigenen Glauben zu dekonstruieren und dann von Grund auf neu aufzubauen.
Aber dann bin ich auf ein Problem gestossen. Als ich ihnen weiter zuhörte und noch mehr las, erkannte ich, dass ich nicht über die Werkzeuge zum Wiederaufbau verfügte – und ich erhielt auch keine Werkzeuge von ihnen. Alles was ich glaubte, hatte ich fein säuberlich zerlegt und zur Untersuchung auf dem Boden liegend ausgebreitet. Aber ich hatte keine Anleitung, wie ich das wieder zusammensetzen sollte. Menschen dabei zu helfen, ihren Glauben auseinander zu nehmen, ohne ihnen dabei zu helfen, ihn wieder zusammenzufügen, ist bequem, unverantwortlich, gefährlich und isolierend. Das Ziel dieser Dekonstruktion sollte eine grössere Treue zu Jesus sein, nicht nur die blosse Selbstfindung oder das Signalisieren der eigenen Tugendhaftigkeit.
Je länger ich den Podcasts von Michael Gungor, «The Liturgists», zuhörte, desto mehr schienen sie im Gleichschritt mit der progressiven Plattform der politischen Linken zu gehen. Es erinnerte mich daran, wie die konservativen Christen einfach mit dem übereinstimmten, was die Republikanische Partei ihnen vorgab zu glauben. Als die Präsidentschafts-Wahl 2016 endete, hatte ich eine seltsame Erfahrung; ich teilte zwar die Sorge der Progressiven um das Land, aber ich sah auch, dass sie mit denselben Lackmustests arbeiteten, die die konservativen Evangelikalen meiner Jugend benutzt hatten – jetzt einfach mit umgekehrten Vorzeichen. Wenn du an einer historischen christlichen Sexualethik festhalten wolltest, warst du ein rückwärtsgewandter Frömmler. Wenn du Abtreibung für moralisch falsch hieltest, warst du frauenfeindlich.
Die Progressiven waren genauso fundamentalistisch geworden wie die Fundamentalisten, die sie verachteten. Jetzt wurden aber nicht mehr die traditionellen Werte als Richtlinien gesehen, sondern eher die politische Korrektheit, das ‘Woke sein’. Wenn du nicht in der Linie der progressiven Orthodoxie liefst, warst du ein Aussenseiter, ein Häretiker.
‘Progressives’ Label, der gleiche oberflächliche Klang
Ich hatte von den Gefahren des moralistisch therapeutischen Deismus (MTD) gehört — der amerikanischen Standardreligion, in der Gott sich nicht weiter in dein Leben einmischt sondern einfach will, dass du ein ordentliches Leben führst und nicht traurig bist. Ich kam ursprünglich zum progressiven Christentum, um dieser Art von seichtem Glauben entgegenzuwirken. Was ich darin fand, war aber nur mehr von der gleichen, oberflächlichen Art, einfach mit neuen Definitionen versehen.
‘Wokeness’ — politische Korrektheit – das war die neue Moral. Therapie war der neue Weg zum Glück. ‘Cancel culture’ war die neue ‘Gemeindezucht’. Und wie im MTD gab es bequemerweise keinen persönlichen Gott, der in deinem Leben auf sinnvolle Weise Ansprüche stellte. In dieser ‘progressiven’ Variante des MTD ist das Einzige, was übrigbleibt ein geflügeltes Wort von Elizabeth Gilberts: «Gott wohnt in dir, als du selbst». Es gibt demnach keine Möglichkeit, zwischen uns und Gott zu unterscheiden. In diesem Denkmuster sind wir Gott.
Ich bin nicht gegen ein Bewusstsein für Gerechtigkeit oder Anti-Therapie eingestellt. Systemische Ungerechtigkeit ist real und wir brauchen die Diskussionen, welche uns die ‘Wokeness-Welle’ gebracht hat. Ich war während meines Studiums für fast zwei Jahre in Therapie, und ich denke, dass fast alle von einer Therapie profitieren können. Doch all dies ist kein hinreichender Ersatz für die ewige Liebe des dreieinigen Gottes.
Mark Sayers beschreibt die progressive Vision für die Welt als «ein Königreich ohne den König». Wir wollen alle Segnungen Gottes – aber ohne uns seiner liebevollen Herrschaft zu unterwerfen. Wir wollen Fortschritt – aber ohne seine Gegenwart. Wir wollen Gerechtigkeit – aber ohne seine Rechtfertigung. Wir wollen die (horizontalen) Auswirkungen des Evangeliums für die Gesellschaft – aber ohne die (vertikale) Versöhnung der Sünder mit Gott. Wir wollen, dass die Gesellschaft unserem Massstab moralischen Handelns entspricht – aber wehren uns gegen Gottes Massstäbe der persönlichen Heiligkeit.
Der Weg zurück zum orthodoxen Glauben
Nach der Präsidentschafts-Wahl 2016 war ich überzeugt, dass es jetzt an der Zeit ist, meinen Glauben wieder neu aufzubauen. Ein paar Monate später geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Ich begann mit meiner theologischen Ausbildung und ich verlor bei einem tragischen Unfall meinen Grossvater, der mich aufgezogen hatte. Dieser Tod stürzte mich in eine weitere Zeit intensiven Leidens, diesmal aber in einem theologisch soliden Umfeld.
Einer meiner Lehrer sagte: «Wir machen Theologie im Licht, damit wir im Dunkeln darauf stehen können». Ich habe Theologie gemacht und stand zugleich im Dunkeln auf ihr. Zum ersten Mal lernte ich, die Lehren über die Dreieinigkeit und über die die Schrift als eine einheitliche Geschichte zu verstehen. Ich lernte, wie man die Schrift als inspirierten Text liest. Mir lernte, wie scheinbar widersprüchliche Lehren – so wie der stellvertretende Opfertod und der Sieg von Jesus – einander tatsächlich brauchen, um das volle und schöne biblische Bild zu zeichnen. Ich lernte, was Einheit mit Christus bedeutet und welchen Segen die diese mit sich bringt. Ich lernte geistliche Disziplin einzuüben und die lebensspendende Freiheit, welche aus einem disziplinierten Streben nach Gott fliesst. Von hier aus öffnete sich mir eine Entdeckungsreise in die weite und reiche Welt der historischen christlichen Orthodoxie.
Meine Geschichte ist nicht einzigartig – im Gegenteil, sie kommt immer häufiger vor.
Meine zwei Bitten an Pastoren lauten deshalb:
- Erbarmt euch derer, die zweifeln (Jud 22). Begegnet Zweifeln, Fragen oder Bedenken nicht mit Härte, Abweisung oder oberflächlichen Antworten. Bleibt auch bei schwierigen Fragen geduldig und arbeitet mit euren Mitarbeitern darauf hin, umfassende und nuancierte Antworten zu finden.
- Lehrt den Reichtum der christlichen Tradition. Begnügt euch nicht mit den Wohlfühl-Plattitüden des moralistisch therapeutischen Deismus als Orientierungshilfe für ein besseres Leben. Gebt auf komplexe Fragen komplexe Antworten. Zeigt auf, wie Jesus, der brillanteste Mensch, der je gelebt hat, sich mit Mitgefühl, Liebe und Gnade zu jedem Aspekt des Lebens und der Gesellschaft äussert.
Wir brauchen mehr Theologie, mehr Nuancen, mehr Gnade, mehr Mitgefühl und mehr Verständnis in unseren Kirchen, nicht weniger. Diese Dinge werden nicht trotz, sondern durch die orthodoxe Lehre ermöglicht. Zweifel und Fragen müssen das Pendel nicht vom Glauben zum Unglauben schwingen lassen. Wenn wir uns Zweifeln und Fragen in einer gesunden und rücksichtsvollen christlichen Gemeinschaft stellen — und mit einer stabilen Verbindung zu Christus, unserem wahren Weinstock (Joh 15), können sie tatsächlich den Glauben vertiefen und die Wurzeln stärken. Dann können Zweifel und Fragen tatsächlich fruchtbringendes Leben hervorbringen, welches den stürmischen Winden unseres sekularen Zeitalters standhält.
Jeder Glaubensweg ist kurvenreich und komplex. Aber Gott ist Gott und sein Weg bleibt, auch wenn wir eine Zeit lang von diesem Weg abgekommen sind. Es gibt mehr Wege als je zuvor in der heutigen Welt – mehr Optionen für «spirituelle Erleuchtung» oder persönlich kuratierte Glaubens-Variationen. Es führt aber kein anderer Weg zu wahrem Glück und ewigem Leben ausser Jesus allein (Joh 14:6). Dieser Weg mag schmaler sein als uns lieb ist (Mt 7:13), aber er ist weitaus erfüllender als wir uns vorstellen können (Ps 16:11).
Auf meinem Weg entdeckte ich mit Petrus:
Alles, was zum Leben und zur Frömmigkeit dient, hat uns seine göttliche Kraft geschenkt durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Kraft. (2Petr 1:3)
In Christus haben wir alles, was wir brauchen. Warum sollten wir um Leben zu finden die Grenzen des Glaubens verlassen «der ein für alle Mal den Heiligen anvertraut ist»? (Jud 3)
Jesus hat die Worte des Lebens. Er ist das Leben, die Wahrheit, der Weg. Wohin sonst sollten wir gehen?
Ich bin christlich aufgewachsen, aber es ist noch Mal etwas komplett anderes, selbst von Neuem geboren zu werden… (das hab ich erst mit 20 erlebt)
Ich glaube, dass Gott uns da abholt, wo wir stehen. Er liebt uns und hat auf unsre Fragen eine Antwort. Er schätzt es, wenn wir komplett ehrlich mit ihm sind und ihm auch sagen, was wir nicht verstehen / wo wir Zweifel haben.
Er möchte sich mächtig in unserem Leben erweisen.
Sei gesegnet und hab vielen Dank für deine Geschichte…
Ich kann als deutscher evangelikaler Christ Dave nur zustimmen, was die Differenzierung zwischen dem us-amerikanischen und dem bei uns verbreiteten Verständnis angeht. Der Abschnitt “Wir brauchen mehr Theologie, mehr Nuancen, mehr Gnade, mehr Mitgefühl und mehr Verständnis in unseren Kirchen, nicht weniger. Diese Dinge werden nicht trotz, sondern durch die orthodoxe Lehre ermöglicht.” wäre für mich in den ersten Jahren meines Glaubenslebens nicht ad hoc zu verstehen gewesen. Ich bin erst im Laufe der Jahre dahinter gekommen, nachdem ich mich immer mehr mit der Bibel in ihrer Rigidität auseinandergesetzt habe. Daher ist eine Begleitung derjenigen, die in ihrer ersten Begeisterung alles aufsaugen und fast blind umsetzen, meines Erachtens sehr wichtig. Eine Hilfe dabei kann die genauere Betrachtung der Person des Petrus sein, insbesondere auch im Verhältnis zu Jesus (Gespräche, Reaktionen beider, Jesu Einwirken auf Petrus, Petrus in der Apostelgeschichte) sein, um alle Facetten eines Glaubenslebens besser zu verstehen. Damit kann das zuweilen schroff wirkende Verständnis besser vermittelt werden.
Eine interessante Lebensgeschichte, danke! Ich habe gesehen, dass der Autor aus den USA stammt. Dies zu wissen wäre für die Einordung seiner persönlichen Erfahrungen sicher hilfreich. Der US-Evangelikalismus ist ja doch nochmals anders geprägt als der hierzulande verbreitete Evangelikalismus, entstanden aus Pietismus und Heiligungsbewegung anfangs des 20. Jh. Eine Übersetzungsleistung an unsere Verhältnisse wäre damit m.E. bei einem solchen Artikel erforderlich. Hat Ian diesen Beitrag für euren Blog geschrieben oder ist es eine Übersetzung eines bestehenden Artikels von ihm? Falls es eine Originalquelle gibt, wäre ich für meine Studien dafür dankbar.
Ich lese aktuell ein Buch, das für dich Paul sicher sehr aufschlussreich wäre: Noll, Bebbington, Marsden 2019. Evangelicals: Who they have been, are now, and could be. Eerdmans Pub.
Es handelt sich um eine wiss. Auseinandersetzung mit dem US-Evangelikalismus durch namhafte Grössen mit unterschiedlichen Einstellungen zum Evangelikalismus, alle aber mit Innenperspektive. Obigen Beitrag auf dem Hintergrund dieser Beiträge zu lesen, ist für mich höchst aufschlussreich.
Lieber Gruss, Dave.
Danke für deine Hinweise Dave. Wir werden das Autorenprofil noch ergänzen.
Hier das Original:
https://www.thegospelcoalition.org/article/progressive-christianity-shallower-evangelical-faith-i-left/
Super, danke für den Link.