Dieser Artikel ist Teil der 11-teiligen Serie «Die Zehn Gebote des progressiven Christentums — eine kritische Untersuchung von 10 gefährlich verlockenden Halbwahrheiten». Hier geht es zum Anfang der Serie
Wir haben schon gesehen, dass sich das progressive Christentum dadurch auszeichnet, dass es sich auf die Moral konzentriert und die Bedeutung von Lehre herunterspielt. Was wirklich zählt, ist nicht was wir glauben, sondern wie wir uns verhalten. Das bringt uns zum vierten Gebot: “Gnädiges Verhalten ist wichtiger als richtiger Glaube.”
Auf den ersten Blick gibt es hier Raum für Gemeinsamkeit. Wir würden sicherlich zustimmen, dass die Kirche durch ein gnädiges Verhalten gekennzeichnet sein sollte (auch wenn man sich vielleicht nicht einig ist, was das genau bedeutet). Minimal formuliert sollte die Kirche (und Christen) geduldig, sanftmütig, freundlich und liebevoll zu allen sein – auch zu denen, die andere theologische Überzeugungen haben.
Doch ergeben sich eine Reihe von Bedenken aufgrund der Art, wie dieses Gebot formuliert ist und wie Gulley die Einzelheiten ausführt.
Ist das Streben nach einer guten Theologie das Problem?
Die Priorisierung von Verhalten vor der Theologie kommt in unserer modernen Welt gut an. Das ist, weil die allgemeine Bevölkerung bereits an die Idee glaubt, dass theologisch interessierte Menschen spalterisch, engstirnig, dogmatisch und sogar gemein sind. Was gemäss progressiver Haltung stattdessen zählt, ist freundliches Verhalten zu den Menschen.
Gulley verstärkt dieses Klischee, indem er Menschen, denen Theologie wichtig ist, mit den Pharisäern vergleicht. Das Problem der Pharisäer, so Gulley, ist ihre «Fixierung auf Orthodoxie» und ihr «fehlgeleitetes Streben nach theologischer Reinheit». Übersetzt heisst das: Wenn dir theologische Orthodoxie wichtig ist, bist du wahrscheinlich nur ein weiterer Pharisäer.
Abgesehen von der ungnädigen Natur dieses Vergleichs, können wir schnell erkennen, wie historisch ungenau er ist. Jesus hat nie gesagt, dass das Problem mit den Pharisäern darin besteht, dass sie zu sehr auf theologische Orthodoxie bedacht sind. Das Problem der Pharisäer war die Gesetzlichkeit (sie stellten von Menschen gemachte Gesetze über jene von Gott) und die Heuchelei (sie sagten das eine und taten das andere). Und beides ging oft Hand in Hand. Das Problem war nicht, dass sie sich zu sehr um eine gute Theologie kümmerten, sondern dass sie sich zu wenig darum kümmerten! Ihre Theologie war ein einziges Durcheinander. Sie verherrlichte den Menschen, verdrehte Gottes Prioritäten und befolgte Gottes Gesetz nur selektiv.
Dies wirft einen wichtigen Punkt auf. Menschen eine gute Theologie zu lehren, ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Menschen eine gute Theologie zu lehren, ist ein wesentlicher Weg, sich um sie zu kümmern. Statt Theologie als etwas zu betrachten, was den Menschen schadet und sie unterdrückt, sollten wir uns daran erinnern, dass gute Theologie die Menschen tröstet und befreit. Die Pharisäer schadeten den Menschen eben gerade dadurch, dass sie ihnen eine schlechte Theologie lehrten (und sie ihnen vorlebten).
Ist Verhalten wichtiger als Theologie?
Ein weiteres Problem bei diesem vierten Gebot ist die Trennung, die es zwischen Verhalten und Lehre schafft. Ersteres sei wichtiger als Letzteres, sagt man uns.
Das Problem ist jedoch, dass die beiden nicht so einfach voneinander zu trennen sind. In der Tat ist jede Erklärung über richtiges oder falsches Verhalten eine theologische Aussage! Ohne solide theologische Kategorien und Konzepte kann man nicht bestimmen, was gottgefälliges Verhalten ist, da ein Verhalten nur «richtig» ist, wenn es mit Gottes Gesetz und Gottes Charakter übereinstimmt.
Hierin liegt eine grosse Ironie. Die Aussage «Gnädiges Verhalten ist wichtiger als der richtige Glaube» ist selbst eine Aussage darüber, was wir glauben sollen! Offenbar ist «richtiger Glaube» doch wichtig.
Kriegen wir mehr «Gnade», wenn wir dem Verhalten Vorrang geben?
Gulleys Vorstoss, dem Verhalten Vorrang über der Lehre zu geben, wird von der einfachen Überzeugung angetrieben, dass es die Menschen gnädiger macht. Er behauptet: «Jesus wusste, dass ungnädiges Verhalten oft seine Wurzeln in einem fehlgeleiteten Streben nach theologischer Reinheit hat.»[1]
Mit anderen Worten: Eine gute Theologie führt nicht zu gnädigem Verhalten. Stattdessen, so argumentiert Gulley, erreiche man ein gnädigeres Verhalten der Menschen, wenn wir uns mehr auf ihr Verhalten konzentrieren.
Hier schließt sich der Kreis und Gulley kehrt zum ersten seiner progressiven Gebote zurück; dass es im Christentum mehr um Moralität gehe als um Anbetung von Jesus. Einfach ausgedrückt, lautet Gulleys Grundargument, dass sich gnädiges Verhalten am ehesten aus Moralismus ergibt. Die traurige Wahrheit ist natürlich, dass es eigentlich die Pharisäer waren, die dem Moralismus verpflichtet waren, nicht Jesus. Dieser Moralismus hat sie in keiner Weise gnädiger gemacht.
Auch hier gibt es eine Ironie. Während Gulley einerseits die ungnädige Natur der Pharisäer kritisiert, befürwortet er andererseits die moralistische Methodik der Pharisäer. Das passiert immer, wenn Lehre und Theologie verunglimpft werden. Alles, was dann übrigbleibt, ist eine Religion, in der es darum geht, «nett» zu anderen Menschen zu sein.
Wenn wir aber zu Menschen werden wollen, die gnädiger sind, besteht die Antwort nicht darin, uns auf unser Verhalten zu konzentrieren und uns «mehr anzustrengen». Stattdessen müssen wir uns auf Jesus Christus, den Sohn Gottes, konzentrieren, der sein Leben gab, um die Schuld für unsere Sünden zu bezahlen und der uns durch den Geist zu einem neuen Leben befähigt. Erst dann können wir andere selbstlos lieben.
Gresham Machen bringt es noch einmal gut auf den Punkt:
«Das Seltsame am Christentum war, dass es eine völlig andere Methode [für die Veränderung der Menschen] postulierte. Es veränderte das Leben der Menschen nicht, indem es an den menschlichen Willen appellierte, sondern indem es eine Geschichte erzählte; nicht durch Ermahnung, sondern durch die Schilderung eines Ereignisses. Das Leben der Menschen wird durch eine Nachricht verändert.»[2]
Der christliche Ansatz verlangt, dass wir theologisch denken.
Letztendlich ist es klar, dass richtiges Verhalten nicht wichtiger ist als richtige Theologie. Beides ist wichtig. Paulus erinnert uns daran:
«Hab acht auf dich selbst und auf die Lehre.» (1Tim 4:16)
Fragen zur Reflexion
Das vierte Gebot des progressiven Christentums lautet: «Gnädiges Verhalten ist wichtiger als richtiger Glaube»
- In welche Falle führt diese Halbwahrheit? Inwiefern führt sie genau in das Verhalten, das sie im Grunde genommen vermeiden will?
- Wie könnte dieses vierte «Gebot» umformuliert werden, damit es dem entspricht, was die Bibel lehrt?
- Was ist gemäss Kruger die Ursache dafür, dass manche Menschen, die sich angeblich für theologische Wahrheit einsetzen, ungnädig sind?
- Lest folgende Bibelstellen und diskutiert, auf welche Weise sie Kruger’s Aussagen unterstreichen: 2Tim 3:16; 2Tim 3:10–13; 2Tim 2:14–18; Kol 1:21–23; Apg 20:28–31
- Was lehrte Jesus eigentlich, wie wir uns gegenüber anderen Menschen verhalten sollen? Um das zu vertiefen, kann zum Beispiel die Bergpredigt gelesen werden (Mt 5:1–7:29).
- Was nimmst du mit aus der Lektüre dieses Kapitels, das dir hilft, in den Inhalten von progressiver Literatur oder Podcasts besser unterscheiden zu können, was biblisch und was nicht biblisch ist?
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Fussnoten:
[1] Philip Gulley, If the Church Were Christian: Rediscovering the Values of Jesus (San Francisco, CA: HarperOne, 2010), Seiten 19
[2] J. Gresham Machen, Christianity and Liberalism (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2009), Seite 47–48
Die Fragen zur Reflexion wurden durch Daniel Option zusammengestellt.
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