Dieser Artikel ist Teil der 11-teiligen Serie «Die Zehn Gebote des progressiven Christentums — eine kritische Untersuchung von 10 gefährlich verlockenden Halbwahrheiten». Hier geht es zum Anfang der Serie.
Vielleicht erfasst keine der 10 Gebote die innere Überzeugung des progressiven Christentums besser als das fünfte Gebot: “Fragen zu stellen, ist wertvoller als Antworten zu geben.”
Das ist eine wirksame Strategie. Stellen Sie sich selbst als demütig und wissbegierig dar, als jemand, der lediglich auf Entdeckungsreise ist. Dann stellen Sie die andere Seite dar als hochmütige Verfechter von starren Dogmen. Sie selbst sind nur ein wohlmeinender Suchender; die Anderen sind gemeine, eingefleischte Besserwisser. Brillant. Doch genau das ist Gulley’s Beschwerde über die Kirche. Er argumentiert, dass die Kirche sich «der Propaganda verschrieben hat» und «der Parteilinie folgt», anstatt sich an einer «energischen Erforschung der Wahrheit» zu beteiligen.[1]
Okay, was sollen wir also von diesem fünften ‘Gebot’ halten? Ein paar Gedanken dazu:
Eine Karikatur des Christentums
Wir stellen zuerst einmal fest, dass hier etwas Wahres enthalten ist. Nur schon die Ausdrucksformen des Christentums, die es in den Vereinigten Staaten gibt, sind zahlreich und vielfältig. Viele Menschen sind mit Kirchen vertraut, in denen schnelle und eher unbefriedigende Antworten auf ehrliche Fragen über den Glauben reichlich zur Verfügung stehen. In diesen Kontexten werden Gläubige entmutigt, Glaubensfragen zu stellen. Wenn einmal Fragen auftauchen, wird erwartet, dass man die Antwort akzeptiert, die einem vorgegeben wird. Ernsthaftes intellektuelles Suchen ist hier keine Option.
Wenn das fünfte Progressive ‘Gebot’ lediglich dazu dienen soll, diese Art des Zugangs zum Christentum zu korrigieren, dann ist es richtig. Eine solche Korrektur ist nämlich notwendig. Aber es wäre eine Karikatur, die Christen (oder das Christentum) als Ganzes als anti-intellektuelle Propagandisten darzustellen. In der Tat haben sich viele Christen sehr intensiv mit der Bibel auseinandergesetzt und ihr die schwierigsten Fragen gestellt – intellektuelle, historische und persönliche Fragen. Und sie haben festgestellt, dass die Bibel solide und überzeugende Antworten liefert. Warum sollte dies ein Grund sein, diese Christen lächerlich zu machen?
Welche Position ist intellektuell unverantwortlich?
Ich vermute, dass ein Teil des Problems darin besteht, dass Progressive es für intellektuell unverantwortlich halten, die Art von Wahrheitsansprüchen zu machen, die Christen in der Vergangenheit erhoben haben. Diese Ansprüche klingen arrogant, sogar überheblich und eingebildet. Wie könnte man so etwas wissen? Die bessere Vorgehensweise sei es, zu sagen: «Ich weiß es nicht».
Auch wenn dieser Ansatz eine Aura von Bescheidenheit ausstrahlt, gibt es erhebliche Probleme damit. Zum einen ist «Ich weiß es nicht» nur dann die richtige Antwort, wenn es tatsächlich keine erkenntnistheoretische Grundlage gibt, gemäss der eine Person etwas wissen könnte. Was aber, wenn eine Person tatsächlich eine Grundlage für Wissen hat? Dann wäre «ich weiss es nicht» unverantwortlich.
Mit anderen Worten; «ich weiss es nicht» ist nicht immer die richtige Antwort. Manchmal ist es die falsche Antwort.
Stellen Sie sich vor, Sie haben kürzlich einen Kurs über den Amerikanischen Bürgerkrieg belegt. Wenn Sie dann von einem Freund gefragt werden: «Hat Abraham Lincoln die Emanzipationsproklamation zur Abschaffung der Sklaverei unterzeichnet?» und Sie mit «Ja» antworten, können Sie kaum als arroganter Besserwisser beschimpft werden. Hätten Sie vielmehr aus einer falschen Vorstellung von intellektueller Bescheidenheit heraus mit «Ich weiß es nicht» geantwortet, dann müsste man Ihnen vorwerfen, dass Sie eine klare historische Wahrheit ablehnen.
Natürlich werden die Progressiven argumentieren, dass dies ein falscher Vergleich sei, weil wir wissen, dass Lincoln die Emanzipationserklärung unterzeichnet hat, aber wir nicht wissen, ob Jesus von den Toten auferstanden ist. Aber genau das ist doch der Streitpunkt! Sollte die Bibel tatsächlich das inspirierte Wort Gottes sein, können wir uns auf begründete Weise sogar sicherer sein über die Auferstehung als über Abraham Lincoln.
Das progressive Argument funktioniert nur dann, wenn man bereits «weiß», dass die Bibel nicht das Wort Gottes ist, und daraus folgernd ihre Wahrheitsansprüche für zweifelhaft erklären kann. Aber woher hat der Progressive dieses Wissen, wenn es doch aus progressiver Sicht unzulässig ist, absolutes Wissen über solche Dinge zu haben?
Anders ausgedrückt: Damit die progressive Position intellektuell vertretbar ist, müsste man wissen, dass man nicht wissen kann, ob die Auferstehung tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Das würde aber ein hohes Maß an intellektueller Gewissheit voraussetzen – etwas, das man nach Ansicht der Progressiven nicht haben kann.
Gewissheit wird durch die Hintertür hereingeschmuggelt
Dies führt zu einem echten Problem mit der progressiven Position, nämlich ihre Widersprüchlichkeit.
Das progressive Christentum beklagt den Dogmatismus und die Gewissheit des biblischen Christentums. Alles wäre viel besser, argumentiert Gulley, wenn jeder einfach seine Ungewissheit zugeben würde. Dennoch ist er sich recht sicher und zwar über seine Ansichten – so sicher, dass er schnell bereit ist, andere Positionen zu verurteilen. In einem Fall beschreibt er die Sichtweise einer Person auf die Bekehrung als «kindische Sichtweise» von jemandem, der eindeutig in einer schlechten theologischen Position «feststeckt».
Hier, wie in vielen anderen Fällen, schmuggelt Gulley seine Gewissheit einfach durch die Hintertür ins Haus. Und damit ist er bei weitem nicht allein. Progressive sind manchmal schnell dabei, alle möglichen Verhaltensweisen zu verurteilen, die sie in der Welt um sich herum sehen, während sie gleichzeitig darauf bestehen, dass bibelgläubige Christen falsch liegen, wenn sie dies tun. Nehmen wir zum Beispiel die Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe. Es fällt auf, dass wir nur sehr wenige Progressive Dinge sagen hören wie: «Nun, wir kennen die Antwort darauf nicht. Wir können uns nicht sicher sein, was wir davon halten sollen». Nein, stattdessen hören wir von ihnen Absolutismus. Wir bekommen Gewissheit. Wir bekommen Dogmatismus.
Man wird den Eindruck nicht los, dass das eigentliche Thema gar nicht die Gewissheit ist. Vielmehr geht es darum, worüber man Gewissheit hat. Die Progressiven haben einfach einen Satz von Glaubensüberzeugungen, die man mit Gewissheit in sich trägt, gegen einen anderen Satz derartiger Glaubensüberzeugungen ausgetauscht.
Wir alle haben Dinge, derer wir uns sicher sind. Dinge, von denen wir glauben, dass sie wahr und real sind. Die eigentliche und entscheidende Frage ist nicht, ob wir Gewissheiten in uns tragen dürfen, sondern was die Basis ist, für unsere Gewissheiten. Christen gründen ihre Gewissheit auf Gottes Wort.
Die Schrift mag von der Welt verspottet werden, aber sie ist der Ort, an dem Jesus sich gestellt hat. Er hat seinem Vater deklariert:
«Dein Wort ist Wahrheit» (Joh 17:17).
Fragen zur Reflexion
Das fünfte Gebot des progressiven Christentums lautet: «Fragen zu stellen ist wertvoller, als Antworten zu geben»
- Kennst du Beispiele aus deinem Umfeld oder aus den sozialen Medien, wo jemand dieses «Gebot» benutzt hat (ein mögliches Beispiel ist dieser Artikel «Glaube ohne Antwort»)? Wie haben die Leute darauf reagiert? Wie hast du reagiert?
- Auf welche Weise würdigt Kruger dieses «Gebot»? Wo sieht er das Kernproblem?
- Wie könnte dieses fünfte «Gebot» umformuliert werden, damit es dem entspricht, wie die Bibel lehrt?
- Jesus hat manchmal ein typisch rabbinisches Mittel verwendet, auf eine Frage mit einer Rückfrage zu reagieren. Manche nutzen diese Tatsache dafür, zu argumentieren, dass Jesus das fünfte «Gebot» gutheisst. Doch stimmt das wirklich? Dazu zwei Fragen:
- Welche Gegebenheiten kommen dir in den Sinn, wo Jesus auf eine Frage mit einer Rückfrage antwortet? (z.B. Mt 21:23ff)
- Welche Stellen kommen dir in den Sinn, wo Jesus auf eine Frage anstatt mit einer Rückfrage mit einer Antwort reagiert? Es gibt ca. 50 Situationen, in denen Jesus eine Frage gestellt wird. In über 80% dieser Fälle reagiert Jesus nicht mit einer Rückfrage, sondern gibt eine konkrete Antwort. Diese kommen in verschiedenen Formen. Er antwortet mit einer direkten Aussage (z.B. Joh 9:2–3; Mk 14:61–65), mit einer Aufforderung (z.B. Joh 1:38–39) oder mit einem Gleichnis (z.B. Lk 10:29ff).
- Was lernst du aus diesem Kapitel über den Umgang mit Glaubensfragen in deinem Leben oder in deinem Umfeld?
- Was nimmst du mit aus der Lektüre dieses Kapitels, das dir hilft, in den Inhalten von progressiver Literatur oder Podcasts besser unterscheiden zu können, was biblisch und was nicht biblisch ist?
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Fussnoten:
[1] Philip Gulley, If the Church Were Christian: Rediscovering the Values of Jesus (San Francisco, CA: HarperOne, 2010), Seiten 93
Die Fragen zur Reflexion wurden durch Daniel Option zusammengestellt.
Ich denke, dass das Problem hier darin liegt, dass die Glaubenssätze, von denen “Progressive” absolut überzeugt sind, in ihren Augen Selbstverständlichkeiten sind. — die Freiheit vor Diskriminierung zB ist ein “Menschenrecht” und entsprechend nicht debattierbar. Die Anwendung, dass ein staatlicher Schutz auf der monogamen, heterosexuellen Ehe liegend einer Diskriminierung anders orientierter Menschen ist, wird mit der Feststellung des Menschenrechts an sich gleich gesetzt.
Wir Konservative machen es ja ganz ähnlich — wir postulieren einen Wahrheitskatalog als “offensichtlich”, und setzen ihn dann in der Debatte voraus: Kruger zB die Unfehlbarkeit der Schrift als Wort Gottes.
Ich denke, hier wird es dann spannend, weil es die erkenntnistheoretischen Grenzen auslotet: erkennen wir Menschen dasselbe? Und was können wir eigentlich voraussetzen, wenn wir in eine Debatte eintreten?
Kurios ist, dass auf diese Frage progressive und konservative die selbe Antwort zu geben scheinen: Ja, wir erkennen als Menschen existenziell gleich und können deswegen die gleiche Erkenntnis voraussetzen in einer Debatte. Gleichzeitig wird der Inhalt des Erkannten ganz unterschiedlich definiert.
Und das ist dann der haarige Anteil der großen gesellschaftlichen Diskussion.