Wenn Gott rettet, rettet er ganz und gar. Nicht teilweise und nicht halbherzig. Gott vergisst nichts. Er lässt nichts aus. Seine Retterliebe geht aufs Ganze, hat jeden Bereich des Lebens im Blick. Sein erlösendes Handeln ist umfassend. Im Exodus Israels aus Ägypten sehen wir beispielhaft 4 Dimensionen des Lebens, die Gott wichtig sind, wenn er rettend eingreift.
Der erste Artikel dieser Serie öffnet den Blick auf das grosse Ziel, wohin Gott diese Welt führt: Seine neue Schöpfung (Jes 65:17; 2Petr 3:13; Offb 21:1). Wir können vom Ende her gedacht also sagen: Gottes Heilshandeln an den Menschen und an dieser Welt betrifft letztlich jeden Bereich des Lebens und der Schöpfung. Mit anderen Worten: Gottes Heil ist ganzheitlich. In diesem Artikel fokussieren wir auf das grösste Heilsereignis Israels im Alten Testament, dem Exodus (Auszug Israels aus Ägypten).
Politisch, wirtschaftlich, sozial, geistlich
Mein Professor für Altes Testament, Chris Wright, nennt vier Dimensionen, in denen Gott durch den Exodus rettend in die Existenz Israels eingreift:
Es ist schwer sich eine Kette von Ereignissen vorzustellen, die umfangreicher und umfassender ist als die Ereignisse, wie sie uns im 2. Mose Buch vorgestellt werden. Der Text zeigt uns mindestens vier Dimensionen der Gefangenschaft, die Israel in Ägypten erleiden musste – politisch, wirtschaftlich, sozial und geistlich – und zeigt uns anschliessend, wie Gott sie in jeder dieser Dimensionen erlöst. (The Mission of God’s People, Seite 99, meine Übersetzung)
Israel hat in Ägypten ein geistliches Problem. Mose sagt dem Pharao “Lass mein Volk ziehen, damit sie mich verehren können” (2Mose 8:16) worauf dieser antwortet “Ihr könnt eurem Gott eure Opfer darbringen, aber es muss in diesem Land geschehen!” (2Mose 8:21). Warum sagt Pharao das? Er tut es, weil er so das geistliche Oberhaupt bleiben will und der Gott Israels so eine Art Unter-Gott in der ägyptischen Götterwelt bleibt. Es geht hier um geistliche Autorität. Israel ist in der geistlichen Dimension gefangen.
Israel hat auch ein politisches Problem. Der Pharao sagt zu seinen Staats-Beamten “Die Israeliten sind so zahlreich und stark, dass sie uns gefährlich werden” (2Mose 1:9). Als die Israeliten ursprünglich in Ägypten ankommen, sind sie knapp 100 Personen. Nach wenigen Jahrhunderten sind sie Tausende und werden deshalb als politische Bedrohung wahrgenommen. Diese politische Lage führt zur systematischen Versklavung der Juden. Israel wird nicht nur geistlich, sondern auch politisch unterdrückt.
Es geht Israel aber auch wirtschaftlich an die Substanz. Die Juden arbeiten für ein Hungerbrot, während der Gewinn ihrer Arbeit nahezu vollständig an die Besitzer des Landes geht: So zwang man die Israeliten zur Sklavenarbeit und setzte Aufseher über sie ein. Sie mussten für den Pharao die Vorratsstädte Pitom und Ramses bauen (2Mose 1:11).
Israels Probleme sind dabei aber noch nicht fertig. Ägypten übt auch enormen sozialen Druck aus. Die politische Unterdrückung und die wirtschaftliche Aushungerung dämmt die Geburtenrate der Israeliten nicht genügend ein, darum greift der Pharao zu einem massiven sozialen Eingriff: Alle männlichen Geburten sollen getötet werden. Zuerst versucht er das über die Hebammen zu schaffen, aber die machen nicht mit. Schlussendlich gibt er allen nicht-Israelitischen Menschen in Ägypten die jüdischen Babies zur Tötung frei: Alle Knaben, die den Hebräern geboren werden, werft in den Nil! Die Mädchen dürft ihr alle am Leben lassen (2Mose 1:22).
Israel hat ein umfassendes Problem, welches eine umfassende, ganzheitliche Lösung verlangt. Was macht Gott? Erlöst er Israel nur ‘geistlich’? Er könnte ihnen sagen: Betet einfach ein bisschen mehr in euren privaten Häusern und haltet es in Ägypten aus. Oder: Ich schicke euch die Bibel, die ich euch eigentlich am Sinai geben will, halt direkt nach Ägypten und so könnt ihr die Bibel lesen bis ihr sterbt und in den Himmel kommt. Das wäre eine rein ‘geistliche’ Erlösung, welche die anderen 3 Dimensionen ignoriert. Doch wenn Gott rettet, rettet er ganz und gar. Nicht teilweise und nicht halbherzig. Er vergisst keinen einzigen Problembereich und rettet Israel geistlich, politisch, wirtschaftlich und sozial. Mit anderen Worten: Im Exodus ist Gottes Heilshandeln an Israel ganzheitlich.
Warum rettet Gott ganzheitlich? Der Text gibt uns zwei Hinweise: Weil er liebt und weil er gerecht ist.
Motiviert von Liebe
Als Gott Mose beruft sein Volk Israel im Exodus aus Ägypten anzuführen, erklärt Gott seinen Ausgangspunkt für diesen Eingriff:
Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. (2Mose 3:7)
Die hebräische Originalsprache benutzt hier beim Verb ’sehen’ eine sogenannte ‘Figura Etymologica’. Durch eine zweifache Verwendung des Verbs, wird gezeigt, dass Gott hier in der höchst möglichen Form von ’sehen’ sieht. Er sieht nicht nur, sondern er sieht sehend! Man könnte diese Bibelstelle übersetzen mit “ich habe mit eigenen Augen gesehen” oder “ich habe mit offenen Augen hingeschaut”.
Dieses intensive Sehen Gottes zeigt uns seine Liebe für Israel. Wenn wir Menschen vor Elend stehen, wenden wir oft unseren Blick ab und wollen uns entfernen. Gott hingegen wendet seinen Blick dem Elend zu. Er sieht das Elend nicht aus sicherer Distanz durch ein Fernrohr aus dem Himmel (“Ach schau mal wie sie nur da unten auf der Erde leiden!”). Er schickt auch nicht einen Boten, um die unschöne Situation zu sehen und ihm einen Rapport zu erstatten, sodass er selbst nicht hinsehen muss. Er wendet seinen Blick nicht ab, sondern kommt selbst nahe und sieht es mit eigenen Augen. Dabei ist er so betroffen, dass es ihn zum rettenden Eingreifen bringt. Was für eine Liebe, die da zum Ausdruck kommt!
Als Mose später auf diese Ereignisse zurückschaut, benutzt er ausdrücklich das Wort ‘Liebe’::
Weil er deine Väter geliebt und ihre Nachkommen erwählt hat, hat er dich aus Ägypten herausgeführt mit seinem Angesicht durch seine große Kraft (5Mose 4:37)
Warum rettet Gott ganzheitlich? Weil er liebt! Denn wer liebt, interessiert sich für alle Lebensbereiche derer, die er liebt.
Motiviert von Gerechtigkeit
Die Bibel nennt nicht nur die Liebe Gottes als Motivation für den Exodus, sondern auch seine Gerechtigkeit. Wir sehen das in derselben Bibelstelle, wie vorhin:
Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört; ich habe ihre Leiden erkannt. (2Mose 3:7)
Hier ist von Elend die Rede, welches durch Bedränger hervorgerufen wird. Es geht um Unrecht an einem Volk, was Gottes Gerechtigkeitssinn weckt. Unrecht weckt seinen Zorn und ruft sein Gericht auf den Plan. Gericht heisst in der Bibel eine Situation ‘gerade’ oder ‘gut’ zu machen, die nicht ‘recht’ oder ‘gerade’ ist. Dies beinhaltet immer die Gelegenheit für den Täter, umzukehren. Ägypten bekommt viele solche Gelegenheiten. Nach Ägypten’s wiederholtem Unwillen, mit dem Unrecht aufzuhören, wird der Exodus für Israel zur Befreiung und Ägypten zur Strafe.
Wir dürfen nicht denken, dass Gott Israel seine warme Liebe schenkt während Ägypten seine harte Gerechtigkeit zu spüren bekommt. Das Alte Testament zeigt, dass Gott Israel genauso in die Pflicht nimmt, Gerechtigkeit zu leben:
Ich bin der HERR, euer Gott. Ihr sollt nicht tun nach der Weise des Landes Ägypten, darin ihr gewohnt habt, auch nicht nach der Weise des Landes Kanaan, wohin ich euch führen will. Ihr sollt auch nicht nach ihren Satzungen wandeln, sondern nach meinen Rechten sollt ihr tun und meine Satzungen sollt ihr halten, dass ihr darin wandelt; ich bin der HERR, euer Gott. Darum sollt ihr meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben; ich bin der HERR. (3Mose 18:2–5)
Israel kann sich in Sachen Gerechtigkeit nicht ‘mehr erlauben’ als die heidnischen Völker. Wenn Israel so lebt wie die heidnischen Völker und Gottes Gerechtigkeit nicht lebt, wird auch Israel Gottes Gericht erfahren:
Tut nicht solche abscheulichen Dinge wie die Leute, die vor euch das Land bewohnten und es unrein machten. Sonst wird euch das Land genauso ausspucken, wie es jetzt seine bisherigen Bewohner ausspuckt. (3Mose 18:26–28)
In den folgenden Kapiteln des 3Mose wird Israel angewiesen, Gottes Gerechtigkeit in einer Fülle von Lebensbereichen zu implementieren. Es werden sexualethische Fragen geregelt (z.B. 3Mose 18), Fragen der gerechten Ökonomie (z.B. 3Mose 19), soziale Gerechtigkeit (z.B. 3Mose 25), Rechtsprechung allgemein und auch von Ausländern (3Mose 19) etc. In anderen Teilen der Mose-Bücher werden auch die nicht-menschlichen Teile der Schöpfung ausdrücklich mit in diese Gerechtigkeit eingeschlossen. Zum Beispiel wird in 2Mose 23:10–13 gesetzlich geregelt, dass der Acker und die Tiere Sabbath Ruhe haben müssen. Wir haben hier also auch die ökologische Dimension der Ganzheitlichkeit, der wir uns später in dieser Serie zuwenden werden.
Warum rettet Gott ganzheitlich? Weil er gerecht ist! Denn Gerechtigkeit ist nicht etwas nur Geistliches, sondern gerade auch etwas, das im Sozialen, Wirtschaftlichen und Politischen stattfindet.
Du sollst Empfänger des Heils Gottes sein
Wir werden im nächsten Artikel sehen, dass diese Ganzheitlichkeit im Neuen Testament durch das Leben des zweiten Mose, Jesus Christus, nicht nur fortgesetzt sondern auch ausgeweitet wird. Dieser Dienst Jesu definiert auch den Umfang des Auftrags der christlichen Gemeinde. Wir haben als Christen neben dem geistlichen Auftrag auch einen gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen (und ökologischen) Auftrag. Doch bevor wir uns unserem Auftrag zuwenden, sollen wir uns als Empfänger des Heilshandelns Gottes erkennen! Wenn Gott mit seinem Heil in unserem Leben wirkt, berührt er jede Dimension unserer Existenz! Er tut das, weil er uns liebt und weil er gerecht ist:
Doch dann ist die Güte Gottes, unseres Retters, und seine Liebe zu uns Menschen sichtbar geworden, und er hat uns gerettet – nicht etwa, weil wir so gehandelt hätten, wie es vor ihm recht ist, sondern einzig und allein, weil er Erbarmen mit uns hatte. (Titus 3:4–5)
Gott verwandelt dein Leben und dein Umfeld nicht in Sekundenschnelle in ein Schlarraffenland — das ist klar. Doch sein Heil will und wird jeden Bereich deiner Existenz berühren und verwandeln, wenn du Jesus Christus annimmst! Erkenne dazu die immense Liebe Gottes und seine Gerechtigkeit für dich und dein Umfeld! Und komm’ weiter mit auf dieser Reise in die nächsten Artikel.
Herzlichen Dank für diese wertvollen Gedanken und die ganzheitliche Sicht! Als Ergänzung gäbe es neben den Aspekten geistlich, politisch, wirtschaftlich und sozial noch den Aspekt psychologisch (Hoffnungslosigkeit, “Sklavenmentalität”), der ebenfalls zu den Charakteristika der Sklaverei gehört. Gehst du darauf später noch ein?
Thx! Ich entwickle im Verlauf der nächsten Wochen vor allem die ökologische Dimension. Aber das Element, das du nennst, ist ebenso real. Man kann die biblische Ganzheitlichkeit aus verschiedenen Richtungen begründen. Eine davon ist, die verschiedenen Aspekte der biblischen Anthropologie ins Feld zu führen: Körper, Seele, Geist. Deine Punkte würden dem gemäss in die seelische Dimension gehen. Der ausgezeichnete Überblick von René Padilla an der Lausanner Konferenz in Pattaya bringt diesen Punkt: https://www.lausanne.org/content/lop/holistic-mission-lop-33
Ich bin gespannt auf deine weiteren Beiträge.
Die psychische (besser als “psychologische”) Unfreiheit der Israeliten in Ägypten ist übrigens an einigen Stellen erkennbar: 2Mo 14,12; 5,21; 6,9; 16,2–3; 4Mo 11,4–6; 14,2–4; Neh 9,17; Apg 7,39–40. Ich meine, dass auch einige Christen an einer “Sklavenmentalität” leiden.
Ich bin überzeugt, dass wir das Sterben von Jesus am Kreuz und die Implikationen des Evangeliums vom Exodus her verstehen müssen. Gut, wenn du die ökologische Dimension in den Blick nimmst.