Reflexionen zu einem Gedanken in Jordan Petersons Buch Jenseits der Ordnung. 12 weitere Regeln für das Leben.[1]
Wir tun gut daran, die alten Mythen ernst zu nehmen, meint Jordan Peterson, denn ihre kunstvolle Form enthält Erfahrungen der Menschheit, die durch die Jahrtausende geklärt, geschliffen und mit Weisheit angereichert worden sind.
Ihm würden die beiden Oxforder Freunde und Mythen-Liebhaber C.S. Lewis und J.R.R. Tolkien gewiss beipflichten. Ebenso darin, dass die mythischen Erzählungen der Bibel besonders bemerkenswert sind. Lewis hielt sie zwar, was die literarische Gattung anbelangt, für schwächer als etwa die nordischen Mythen, was wohl daran liegt, dass in der Bibel reale Ereignisse beschrieben werden und dass die Wirklichkeit nie so stilisiert daherkommt wie lange gereifte, universelle Erzählungen. Jedenfalls bewahren Mythen unzählige Beobachtungen aus dem menschlichen Zusammenleben und sind überaus lehrreich. So lehren sie uns auch wesentliches über den Tyrannen und über die Stiefmutter [2].
Die alten Geschichten dramatisieren, so Peterson, das Grundgefüge der Welt in der Figurenkonstellation von sechs Akteuren. Es sind folgende Protagonisten: Der Held und ein Gegenspieler, zwei Patriarchen: der weise König und der Tyrann, sowie eine positive und eine negative Mutterfigur. Als siebter Akteur fungiert im Hintergrund das Chaos, „in gewisser Weise der Geburtsort aller anderen“. (S. 323 der ung. Ausgabe)
Peterson betont, dass diese sechs als „existenzielle Konstanten“ jeweils Elemente universeller menschlicher Erfahrungen darstellen, denen wir nicht ausweichen dürfen, wenn wir nicht untergehen wollen. „Die unzureichende Kenntnis der Rollenverteilung – ob bewusst oder unbewusst – macht schutzlos; man ist unvorbereitet und eine leichte Beute für Betrug, Zorn und Arroganz.“ (S. 324.) – „Wer weise ist, integriert alle sechs Elemente in seine politische Philosophie, auch wenn er sie nicht mit diesen Begriffen beschreiben würde.“ (S. 324)
Welche Folgen es hat, wenn man die Rollenverteilung nur bruchstückhaft wahrnimmt, zeichnet der kanadische Psychologe anhand des Unterschiedes zwischen liberaler und konservativer Einstellung nach:
„Liberale neigen dazu, die Welt als einen Ort zu begreifen, in dem der autoritäre Tyrann die gütige Göttin unterdrückt (.…) Konservative machen hingegen die Erfahrung, dass der weise König – die Sicherheit, die Ordnung, das Berechenbare – die böse Königin – nämlich die ungeordnete, chaotische Natur – in die Knie zwingt, zähmt und maßregelt. (…) Es stehen sich also zwei Ideologien gegenüber – beide haben ‚recht’, aber beide erzählen nur eine Hälfte der Geschichte.“ (S. 322)
Anders ausgedrückt: Während Liberale sich von den sechs Figuren in erster Linie vor dem Tyrannen in Acht nehmen und ihre Ziele gegen ihn formulieren, bangen Konservative vor allem wegen der bösen Stiefmutter um die Welt und vertrauen dem weisen König. Die jeweilige mythologische Landkarte erklärt viele Phänomene, die wir heute beobachten. Peterson widmet sich allen mythischen „Akteuren“, ich aber möchte hier auf den Tyrannen und die Stiefmutter fokussieren, weil mir das am interessantesten scheint.
Einige Mitmenschen reagieren instinktiv ablehnend auf jegliche Vaterfigur, weil sie darin vor allem – oder ausschließlich – den Tyrannen sehen. In ihren Augen ist ein starker männlicher Leiter gleichbedeutend mit Unterdrückung. Auch der weise König ist ein Tyrann, nur ist er noch nicht entlarvt. Diese Mitmenschen wünschen sich eine „femininere“ Welt, ein Umfeld, in der weniger Ordnung, Unterscheidung, Autorität vorherrscht, stattdessen mehr Natur, Unbestimmtheit und zu befruchtendes Chaos. (Oder ein von jeglichem Samen verschontes Chaos, denn die Manneskraft birgt stets ein Gewaltpotenzial.) Im weiblichen Prinzip erkennen sie die Voraussetzung für Frieden, für die Freiheit des Schwebezustandes wie im Mutterleib; oder aber das erregende Moment weiblicher Launenhaftigkeit, barmherzige Milde, Fürsorglichkeit – alles, was der Tyrann ihrer Ansicht nach rauben und zerstören will. In ihrer Erzählung ist die gütige Mutter die Alternative zum Tyrannen und umgekehrt. Der Tyrann muss entmachtet, die Mutter ermächtigt werden, dann wird die Welt ein besserer Ort.
Für andere Mitmenschen repräsentiert das Chaos die alte Unordnung der Ununterschiedenheit, gegen die sie instinktive Ressentiments hegen. Sie halten sich zur Verteidigung der Ordnung an den weisen König, selbst auf die Gefahr hin, dass dieser zum Tyrannen wird, damit auf der Gegenseite nicht die potenzielle Stiefmutter die Oberhand gewinnt. Solche Mitmenschen reagieren empfindlich auf übergriffige Manipulation weiblicherseits und argwöhnen zuweilen sogar hinter der gütigen Mutter eine Stiefmutter, deren allumarmende, aber selbstisch-eitle und haltlose Empathie jede Ordnung untergräbt. Sie verteidigen die Position des weisen Königs gegen die Gefahr der Differenzlosigkeit im Chaos und befürchten, dass im Kampf gegen den Tyrannen die noch gefährlichere Tyrannei aus dem Blick gerät, nämlich die manipulativ vereinnahmende Herrschaft der Stiefmutter, die am Ende nicht nur den Mann entmannt, sondern auch die Frau schutzlos zurücklässt.
Beide Ansinnen gehen methodisch unterschiedlich vor, die einen wählen eher maskuline, die anderen eher feminine Waffengattungen. Der tyrannische Patriarch ist schneller entlarvt als die böse Stiefmutter, denn sein Arsenal ist typischerweise offener und schroffer. Auf der Stahlklinge blitzt das Licht anders auf als auf einem vergifteten Apfel. Auch die Zielvorgaben sind in der Regel gegensätzlich. Für die Gegner der Stiefmutter ist Ordnung kein natürlicher Zustand, sondern muss der Natur durch Weisheit und Kraft abgerungen und dann ständig im Kampf gegen das bedrohliche Chaos verteidigt werden. Für die Gegner des Tyrannen ist die Natur der Inbegriff guter Ordnung, an der sich der Mensch vergeht, wenn seine männlichen Instinkte nicht im Zaum gehalten werden. Diese Fehde scheint bis in die Umweltpolitik hineinzureichen. Typischerweise ziehen diejenigen, die ihre Hoffnung auf die gütige Mutter setzen, den Umweltschutz der Förderung von Technik und Industrie vor, die ihnen als Einmischung fallischer Tyrannei erscheint, während die Getreuen des Königs hinter den Umweltschutzbewegungen die alte List der Esoterik argwöhnen, die um Gaias Unberührtheit willen gar die gestalterische Kraft des Menschen kastriert.
Peterson hat recht, wenn er uns warnt, dass wir angesichts der Realität naiv und wehrlos werden, wenn wir die Akteure selektiv wahrnehmen. Es gibt Tyrannen und es gibt böse Stiefmütter, aber nicht jede Mutter ist stiefmütterlich und nicht jeder König ist ein Tyrann. Wenn wir ständig gegen Tyrannen zu Felde ziehen, verfallen wir der Manipulation der Stiefmutter; wenn wir den König ständig gegen die Manipulation der Stiefmutter verteidigen, merken wir nicht, wann er zum Tyrannen mutiert ist. Der echte Held überwindet sowohl den Tyrannen als auch die Stiefmutter, lernt dabei jedoch, sich auf die gütige Mutter und auf den weisen König zu verlassen.
Gott hat den Menschen als Mann und als Frau erschaffen, damit beide Prinzipien leibhaftig Gestalt gewinnen. Aufgrund der Sünde jedoch sind diese Prinzipien durcheinandergeraten. Als Protagonisten müssen wir uns nun in dieser Realität bewähren, oder doch zumindest unseren Platz finden.
Der Artikel im Original:
Zsarnok és mostoha, Blogeintrag vom 29. 07. 2021: https://divinity.szabadosadam.hu/?p=28247&fbclid=IwAR17Gv2I0_8cr2FbV5DBLpr5NvmJ7bVzcG5BVqNhe8s4z0bbHxsGg6jnYPE
Fussnoten:
[1] Jordan Peterson Beyond Order. 12 More Rules for Life. Die Zitate aus dem ins Ungarische übersetzten Buch (Túl a renden. Újabb 12 szabály az élethez) sind hier ins Deutsche rückübersetzt.
[2] Im Ungarischen bedeutet das Adjektiv „mostoha“ einfach „stief“, und kann als Substantiv sowohl Stiefmutter und Stiefvater meinen. Üblicherweise assoziiert man damit aber die sprichwörtliche Stiefmutter.
Aufgrund des Artikels habe ich nach Jordan Peterson gesucht und bin dabei auf folgende Gedanken zu ihm gestossen:
https://shenviapologetics.com/an-evangelical-perspective-on-jordan-peterson-part‑5/
Danke für die vielen lehrreichen Artikel, besonders die Serie über Abtreibung fand ich sehr spannend.
Hallo Rebekka. Vielen Dank für deine Rückmeldung. Ja Neil Shenvi ist ein äussert lesensenwerter Denker, absolut top!