Wie weiter, wenn die eigenen Kinder als Jugendliche und junge Erwachsene die biblischen Wege verlassen, die ihre Eltern ihnen gezeigt und vorgelebt haben? In einem neuen Buch stossen Regula Lehmann und Nicola Vollkommer ein wichtiges Gespräch an.
Ich bin dankbar für dieses Buch. Denn «Wenn Kinder andere Wege gehen“ wirft einen ehrlichen Blick auf die vielen Fragen und Spannungsfelder, die sich auftun, wenn sich Kinder vom Glauben abwenden oder damit verbundene Werte nicht mehr teilen. Das Buch stellt sich folgender Realität vieler Eltern:
„Menschen, die ihnen lieb sind, haben sich für einen neuen Lebensstil entschieden, leben im Konkubinat, in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung oder outen sich als bi- oder transsexuell und stellen dadurch zumindest indirekt die die Überzeugungen ihrer Eltern in Frage.“ (S.7)
Die Autorinnen Regula Lehmann und Nicola Vollkomer legen gleich zu Beginn des Buches ihre persönlichen weltanschaulichen Grundlagen offen und kommunizieren, was sie unter einer biblischen Sexualethik verstehen (S.10). Das ist hilfreich. Über weite Strecken des Buches hinweg lassen sie aber Betroffene selbst zu Wort kommen: Eltern und ihre Kinder.
Die im Buch präsentierten Fallbeispiele und Interviews geben Hoffnung, bieten aber auch Einblicke in ungelöste und spannungsgeladene familiäre Situationen. Dabei werden auch spezielle Situationen, wie beispielsweise diejenige von Pfarrerskindern, besprochen. Ebenfalls gibt das Buch einige Denkanstösse für die Jugendarbeit in Gemeinden und Kirchen.
Als Vater, langjähriger Jugendarbeiter im kirchlichen Umfeld und als aktiver Beobachter von gesellschaftlichen Entwicklungen bin ich überaus dankbar für die Impulse der beiden Autorinnen und der Personen, welche bereit waren, Einblick in ihr eigenes Leben zu geben. Eltern, aber auch Personen in Leitungsfunktionen in Kirchen und Gemeinden, werden das Buch mit Gewinn lesen.
Warum ist es wichtig, dass wir über diese ‚anderen Wege‘ reden, welche junge Menschen gehen? Ich möchte auf der Basis der Buchinhalte 5 Anstösse dazu geben.
1. Die ‚anderen Wege‘ werden heute öffentlich gefeiert.
Das Internet ist voll von Menschen, welche die frommen Wege ihrer Eltern verlassen haben und dies auch lautstark kundtun. Abraham Piper, der Sohn des bekannten Theologen John Piper, schuff sich beispielsweise auf Insta und Tiktok eine Online-Karriere, die im Grossen und Ganzen daraus besteht, den Werten seines berühmten Vaters zu widersprechen.
Kinder auf ‘anderen Wegen’ treffen sich heute in der virtuellen Öffentlichkeit: Online, auf einschlägigen Podcasts oder unter gemeinsamem Hashtags wie #exevangelical. Der gemeinsame Nenner ist meist die Ablehnung einer christlichen Sexualethik, welche die heterosexuelle Ehe als den gottgewollten Rahmen für ausgelebte Sexualität sieht. Neben der Thematik der Sexualität werden aber auch andere Themen diskutiert.
Wertekonflikte, die früher eher am Küchentisch ausgetragen wurden (und dann auch dort blieben), werden heute also auch im virtuellen Scheinwerferlicht vollzogen. Ein bestimmter Lifestyle und damit verbundene Werte werden heute an die Öffentlichkeit gebracht und dort zelebriert. Weil die Umgebungskultur im Allgemeinen die Christlichen Werte nicht mehr stützt, gibt es bei solchen Outings kaum noch Elemente, die sich auf die Seite der Eltern schlagen würde.
Wir müssen also darüber reden, weil wir im Vergleich zu früher andere gesellschaftliche Realitäten haben, wenn junge Menschen heute ‘andere Wege’ gehen.
2. Die ‘anderen Wege’ fordern unser Kulturchristentum heraus.
Früher (und heute) hat sich die Oma Sorgen gemacht, warum das Enkelkind nicht mehr in der Kirche auftaucht. Doch die Realität ist: So manche Eltern (und auch Grosseltern) sind selbst verlorene Schafe, auch wenn sie noch jeden Sonntag die Kirchenbank wärmen.
Der Unglaube respektive die Irrwege der Kinder fordert mehr denn je eine persönliche und vertiefte Auseinandersetzung der Eltern mit den eigenen Überzeugungen. Mehr denn je sind Eltern gefordert, den Glauben nicht nur als Gewohnheit oder kulturellen Tradition zu leben. Vielmehr braucht es eine tiefe persönliche Überzeugung was den Glauben betrifft.
Kinder fragen zurecht danach, ob die kommunizierten Werte ihrer Eltern auch wirklich ihrer tieferen Überzeugung entsprechen und ob sie diese Werte konkret ausleben. Stimmen Wort und Leben der Eltern nicht überein, ist es nachvollziehbar, wenn Kinder das elterliche Werteschema verwerfen und andere Wege gehen.
Eigentlich ist es nur zu begrüssen, wenn Kinder zwischen kulturellen und biblisch-christlichen Werten zu differenzieren lernen. Diese Unterscheidung gelingt auch uns Eltern nicht immer. Der Widerspruch unser Kinder gegenüber unseren Werten ist also auch eine Aufforderung an uns Eltern, die eigenen Grundlagen und das eigene Leben zu prüfen.
Wir müssen also darüber reden, weil auch wir Eltern manchmal das ‘Gute’ und ‘Richtige’ mit dem bloss ‘Bekannten’ und ‘Gewohnten’ verwechseln.
3. Die ‘anderen Wege’ führen zu passiver Ausgrenzung in Gemeinden.
Nein, damit meine ich weniger die Ausgrenzung der Kinder, welche nicht mehr ‘auf dem Weg’ sind. Mein persönliches Erleben war immer, dass Kinder in der Gemeinde herzlich willkommen geheissen werden, wenn sie aufkreuzten. Dies mag natürlich nicht überall so sein, ist aber meine Wahrnehmung.
Was ich ansprechen möchte, ist die heimliche Ausgrenzung von Eltern, die den ‘Job’ der Kindererziehung nicht so erfolgreich erledigt haben, wie andere es scheinbar gemacht haben. Man hört dies meist nur indirekt, wenn über andere gesprochen wird. Die einschlägigen und passenden Bibelstellen sind dann jedoch oft schnell zur Hand.
Gemeinden, in welchen sich eine Kultur der heimlichen Verachtung in der Erziehung ‘erfolgloser’ Eltern einnistet, riskieren nicht nur ihre Kinder zu verlieren, sondern auch deren Eltern. Es ist nachvollziehbar, wenn sich diese aus Scham oder Frust zurückziehen.
An dieser Stelle haben gerade Pastoren und Leitungspersonen in Kirchen (die übrigens auch selbst Betroffene sein können) eine wichtige Aufgabe. Für viele Eltern sind die ‚anderen Wege‘ ihrer Kinder mit einem Gefühl des persönlichen Versagens verbunden. Umso mehr darf es nicht sein, das Eltern in der Gemeinde degradiert und aufgrund von Entscheidungen ihrer Kinder stigmatisiert werden. Vielmehr brauchen sie Mithilfe im Tragen ihrer Last, sei es im Gebet, im Gespräch, oder ganz praktisch. Leitungspersonen können entscheidend dazu beitragen, dass eine entsprechende Kultur geprägt wird.
Im Buch machen die Autorinnen am Beispiel der bekannten Geschichte des verlorenen Sohnes klar: «Selbst beste Väter haben verlorene Söhne» (S.34). Lass uns deshalb miteinander die Lasten der Väter und Mütter tragen.
Wir müssen also darüber reden, weil Überheblichkeit, Verhöhnung oder üble Nachrede Sünden sind mit zerstörerischer Wirkung.
4. Die ‘anderen Wege’ führen zu theologischem Revisionismus.
Familien leben immer wieder von gewissen ausgehandelten Lösungen, wenn es um das Zusammenleben unter einem Dach geht. Dies umso mehr, je älter und eigenständiger die Kinder werden. Dabei kommt es vor, dass Eltern oder nahe Angehörige ganz auf die Wertevorstellungen einer geliebten Person umschwenken, um eine damit eine vorhandene Spannung aufzulösen.
Dies ist ein Stückweit nachvollziehbar. Das ‘Liebe den Sünder, hasse die Sünde’- Konzept lässt sich gerade in Fragen der Sexualität nicht einfach umsetzen. Der moderne Mensch sieht das Ausleben seiner Sexualität heute derart als Teil seiner Identität, dass Widerspruch in diesem Bereich fast notgedrungen auch als Ablehnung der Person empfunden wird. Die Autorinnen dieses Buches fragen aber richtigerweise:
«Sind Gottes Ordnungen also nur so lange wahr, vertrauenswürdig und lebensfördernd, wie unsere Kinder sie befolgen?» (S. 7)
Der Blick auf die Liste von bekannteren Persönlichkeiten, welche ihre Sexualethik und damit verbunden auch ihre Theologie aufgrund von Familienangehörigen revidiert haben, ist lange. Sie reicht von einflussreichen Theologen mit Namen wie David Gushee (der aktuell von Thorsten Dietz portiert wird), Frank Schaefer oder Timothy Johnson, über mächtige Kirchenfunktionäre wie Michel Müller (Kirchenratspräsident Ref-Zürich) bis zu Influencern wie Kevin Max (bekannt von der Band DC Talk) oder Jen Hatmaker (die bekannte Buchautorin).
Die leidenschaftlichsten Advokaten für eine neue Sexualethik haben nur zu oft familiäre Konstellationen im Hintergrund, welche den Ausganspunkt für ihre theologischen Revisionen und ihren heutigen Aktivismus bilden. Ihre Werte der Nächstenliebe und Annahme finden meist genau an dem Punkt ihr Ende, wo Menschen nicht bereit sind, ihre durch familiäre Umstände ausgelösten Werterevisionen mitzufeiern.
Sollte ein eigenes biografisches Ereignis wie eine innerfamiliäre Spannung die Grundlage für eine Revision der zeitlosen Lehren Gottes bilden? Die Realität ist wohl: Wenn wir nicht wirklich tief im Herzen vertrauen, dass Gottes biblische Ordnungen gut, heilsam und lebensspendend sind, dann laufen wir alle Gefahr, unsere Theologie an die aktuellen Lebensereignisse und Situationen anzupassen. Dann werden wir die Wegweiser zum guten Leben, die wir unseren Kindern aufstellen, genau nach der Strasse ausrichten, welche sie gerade beschreiten.
Ich begrüsse die Ermutigung der Autorinnen, „in schwierigen Zeiten an biblischen Werten und an der Herzensbeziehung“ (S. 168) festzuhalten. Eltern sollten ihr Familienleben „aus einer tiefen Überzeugung heraus“ nach Gottes Wegweisern ausrichten (S.167). Die Realität, welche sich aus der sexuellen Revolution der 68er Jahre und den heutigen Umdeutungen des Ehe- und Familienbegriffes ergibt, ist nicht mehr Freiheit, sondern eine erschreckende „Halt- und Orientierungslosigkeit“ (S.11). Auch wenn es schwer und herausfordernd sein kann – die biblische Sexualethik bleibt „alternativlos gut und lebensfördernd“ (S.11).
Wir müssen also darüber reden, weil gute Theologie die Bibel nicht aufgrund einzelner Erlebnisse umdeutet, sondern einzelne Erlebnisse aufgrund der Bibel deutet.
5. Die ‘anderen Wege’ fordert ein neues Nachdenken und Handeln von Kirchen und ihren Leitern.
Das Buch sollte uns auch anregen, wieder neu über kirchliche Jugendarbeit, Lehre und Jüngerschaft nachzudenken. Zum Beispiel bemerken die Autorinnen das Fehlen von Männern in der Jugendarbeit und von Personen, welche die Jugendarbeit als langfristige Aufgabe sehen:
«Männliche Jugendleiter bräuchten die Gemeinden – Männer, die aus ihrem Einsatz für die nächste Generation ein Lebenswerk machen» (S.144).
Sie betonen den wichtigen Dienst von ehrenamtlichen Mitarbeitern und von Pastoren, welche ihrer Hirtenfunktion liebevoll und geduldig nachgehen. Eine Konstante in den Geschichten von ‘Rückkehrern’ seien immer wieder Jugendleiter, Mentoren, Freunde oder Pastoren, welche sich die Mühe und die Zeit genommen haben, einem «sich verirrenden Aussteiger nachzugehen» (S.148)
Die Welt eines Jugendlichen sieht heute ganz anders aus als nur schon vor 10 Jahren, geschweige denn vor 20 Jahren. Gleichzeitig sind die tiefen menschlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse aber die Gleichen geblieben. Vielleicht sollten Kirchen ihre Konzepte von ‘Heute’, die sie ‘Gestern’ entwickelt haben, einmal beiseitelegen, und ein bisschen im ‘Vorgestern’ herumwühlen. Das könnte wertvolle Anregungen für das ‘Morgen’ bringen.
Das Konzept des ‘Hirten’, um ein bereits erwähntes Beispiel aufzugreifen, hat doch in den auf Zahlen ausgerichteten Gemeindebaukonzepten der vergangenen Jahrzehnte viel zu wenig Platz gehabt. Trotzdem scheint es ein wichtiges Element in den Biografien derer zu sein, die ‘andere Wege’ gegangen und dann zurückgekehrt sind.
Wir könnten doch mal den reichen Schatz von 2000 Jahren Kirchengeschichte durchforsten, die Bibel neu durchpflügen und bei Gott vermehrt im Gebet auf der Suche nach Wegweisung anklopfen. Gott kann uns neue und alte Wege zeigen, wie wir auch in unserer Zeit gute Hirten unserer Familien und unserer Gemeinden sein können.
Wir müssen also darüber reden, weil viele unserer ach so durchdachten Gemeindebaustrategien offensichtlich doch nicht so greifen, wie wir es uns wünschen.
Das Buch «Wenn Kinder andere Wege gehen“ kann hier beim Fontis gekauft werden, oder in deiner örtlichen Buchhandlung.
Bilder: Peter Bruderer
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