«Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet» (Tit 3:4–5)
Es ist an der Zeit zurückzuschauen, um nach vorne blicken zu können. Die letzten 10 Jahre haben derart tiefgreifende Veränderungen in mein kirchlich-christliches Umfeld gebracht, dass ich von epochalen Umbrüchen (Shifts) reden will. Diese Umbrüche möchte ich hier reflektieren, weil du, lieber Leser, möglicherweise Ähnliches wahrnimmst. Und ich will nach vorne in die nächsten Jahre schauen, was diese möglicherweise bringen werden. Vielleicht kommst du mit?
Ich werde den Moment nie vergessen. 2014 hört ein befreundeter Mann aus einer anderen Kirche in der Nachbarschaft online eine meiner Predigten. Er ruft mich an, weil er mit mir reden will. Wir treffen uns einige Tage später in meinem Büro. Er zittert wie Espenlaub und ringt um Worte. Nach einigen Minuten schweigendem Warten platzt es aus ihm heraus: Ich bin schwul! Der Mann hatte dies bisher noch keinem Menschen anvertraut, nun aber wollte er sein Schweigen brechen. Ich habe mich so gefreut, dass er mir genug vertraut hat, um mich mit seinen Nöten, Fragen, Herausforderungen und Hoffnungen bekanntzumachen.
Inzwischen sind ungefähr zehn neue zum Teil sehr tiefe Freundschaften hinzugekommen mit Menschen von innerhalb und ausserhalb meiner eigenen Gemeinde. Mit Frauen und Männern, die sich teilweise oder komplett gleichgeschlechtlich angezogen fühlen. Mit Menschen, die mit einer Geschlechtsdysphorie unterwegs sind oder waren.
Keine Situation ist gleich, jedes Leben ist verschieden.
Einige dieser Freunde sind gegengeschlechtlich verheiratet, empfinden aber gleichgeschlechtlich. Ich höre vom Ehepartner, wie sich das anfühlt. Einige haben eine Veränderung in Richtung Heterosexualität erlebt, andere haben keine erlebt. Einige wagen die Liebe zu einer Person vom anderen Geschlecht, bis hin zur Heirat. Einige bleiben Single. Ein paar sind in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Die meisten bezeichnen sich als Christen, einige nicht.
Die ‘Kategorisierungen’, die ich soeben benutzt habe, werden einer guten Beschreibung der Lebenswelt dieser Freunde kaum gerecht. Aus Platzgründen muss ich mich jedoch kurzfassen. Allen Situationen gleich ist, dass ich mich jedes Mal immens freue, wenn sich mir jemand anvertraut. Ich halte ihre Identität streng vertraulich. Sie definieren selbst, wo und wieviel sie etwas von sich preisgeben.
Wo sich der Shift deutlich zeigt: Sexualität
Der Grund, warum ich dies alles schreibe, ist: Die erwähnten epochalen Veränderungen in unseren Kirchen zeigen sich am deutlichsten in den Ansichten über Sexualität. Der Grund dafür ist meiner Meinung nach, dass sich in signifikanten Bereichen von Gesellschaft und Kirche die Anthropologie grundlegend verändert hat, also Antworten auf die Frage, was oder wer der Mensch eigentlich ist.
Die Veränderungen sind aber nicht nur in der Anthropologie zu finden. Weil die Frage nach dem Menschsein immer mit anderen Themenbereichen zusammenhängt, sind die kulturellen Shifts auch sichtbar in Fragen wie z.B. wer Jesus Christus, was die Heilige Schrift oder was Rettung und Heil ist. Die Antworten dazu gehen mitunter meilenweit auseinander. Umstritten ist, was gute und gesunde Inklusion in die christliche Gemeinschaft ist und was nicht. Umstritten ist, was der Auftrag der Kirche in dieser Welt ist, was verantwortungsvoller Bezug zu und Dienst an Minderheiten ist, wie wir mit ökologischen Fragen und der Tierwelt umzugehen haben. Unklar ist ebenfalls, welches Verständnis von Toleranz wir ausleben sollen. Die Liste ist ziemlich lange… Gerade weil der kulturelle Shift derart grundlegend ist, wird von uns erwartet, dass wir so ziemlich alles nochmals neu denken sollen, was wir bisher gedacht haben.
Zurück zur Sexualität. Im seelsorgerlichen Umgang mit den vorhin erwähnten Personen, aber auch mit vielen heterosexuell ausgerichteten Menschen, habe ich mich schon lange am Vorbild meiner geistlichen Väter sowie an dem, was mir die Bibel nahelegt, orientiert. Greg Johnson hat vor 2 Jahren zusammengefasst, was Leute wie C.S. Lewis, John Stott, Billy Graham und Francis Schaeffer über den Umgang mit Menschen mit homophilen Neigungen dachten und lebten.
Auch in historischen Kirchen wie der katholischen oder orthodoxen Kirche habe ich Anweisungen für die Seelsorge gefunden, die aus meiner Sicht feinfühlig gegenüber dem Menschen und Gott ehrend sind. Eine Zusammenfassung davon findet sich im Buch ‘Unchanging witness’ (Kapitel 5 bis 7).
Diese Christen und Kirchen unterschieden gut zwischen dem Empfinden eines Menschen und dessen Handlungen. Das heisst: Sie nahmen den Menschen an mit allen Herausforderungen, in denen er sich befindet. Gleichzeitig hiessen sie gewisse Verhaltensweisen nicht einfach deshalb als gut, weil eine Neigung dazu im Menschen drin vorhanden war. Mir kam hier grundsätzlich ein sehr respektvoller und willkommen heissender Umgang mit den Menschen entgegen. Ich habe mich gerne in diese Tradition gestellt.
Mein Umfeld will, dass ich meine Meinung ändere
Ab 2014 traten die Forderungen immer häufiger und lauter an mich heran, gewisse Verhaltensweisen (z.B. ausgelebte Homosexualität oder sexuelle Intimität vor und ausserhalb der Ehe) grundsätzlich gutzuheissen, solange diese einvernehmlich unter Erwachsenen gelebt werden. Was mir bisher als ein respektvoller und willkommen heissender Umgang mit diesen Menschen schien, wurde nun immer mehr als etwas bezeichnet, das gegen diese Menschen gerichtet ist. Sogar als etwas Aggressives. Ich hätte eine aggressive Theologie, meinten einige. Die Forderung kam immer direkter und fordernder, meine Meinung grundlegend zu ändern.
Ich vergesse nicht, wie ein guter Freund von mir mich direkt und scharf konfrontierte: «Paul, wir haben als Christen unsere Meinung geändert in Bezug auf die Sklavenfrage und in der Frauenfrage. Wir werden (dieses Wort betonte er deutlich) unsere Meinung auch in der Frage ausgelebter Homosexualität ändern!»
Der Ball war bei mir. Ich hatte Hausaufgaben zu tun und nahm mir 2 Jahre Zeit. Inzwischen waren diese Fragen an der Basis meiner Kirchgemeinde angekommen. Ich bin meiner Gemeinde dankbar, dass sie mir die nötige Zeit gab, nochmals über die Bücher zu gehen. Und über die Bücher gehen musste ich tatsächlich! Ich war schon über 10 Jahre Pastor und Lehrer. Ich musste mir aber nochmals fast von Null auf überlegen, was die Bibel eigentlich ist und wie dieses Jahrtausend alte Buch, das in einer anderen Kultur geschrieben wurde, sich auf unsere Zeit übertragen lässt. Ich habe in dieser Zeit auch viel mit Menschen gesprochen, die persönlich mit diesen Themen und Fragestellungen leben.
Ich habe die Frage ernsthaft an mich herangelassen: Könnte es sein, dass wir als Christen während 2000 Jahre gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen zu Unrecht abverlangt haben, ihre sexuelle Präferenz nicht auszuleben?[i] Haben wir ihnen 2000 Jahre lang Unrecht getan? Progressiv-Liberale, die mich heute kennen, werden mir nicht glauben, dass ich diese Frage wirklich an mich herangelassen habe. Ich kann es ihnen nicht beweisen. Ich hoffe, sie glauben es mir. Es war mir eine Not, hier Gottes Wege zu finden, denn ich weiss, dass seine Wege für den Menschen gut sind. Ich will den Menschen auf jeden Fall dienen, aber nach Gottes Art und Weise.
Nach den 2 Jahren kam ich aus diesem Prozess heraus mit der Erkenntnis, dass die Sklaven- und Frauenfrage keineswegs dieselben sind wie die Frage, ob Homosexuelle ihre Präferenz mit Gottes Segen ausleben können. Nur der Neo-Marxismus unserer Zeit wirft alle drei Gruppen in einen Topf: alle drei werden der grossen Kategorie von unterdrückten Minderheiten zugeordnet. Sie unterscheiden sich lediglich im Mass an sogenannter Intersektionalität. Aber der Neo-Marxismus hat wenig Unterscheidungsvermögen und den einzelnen Menschen sieht er schon gar nicht!
Ich änderte meine Meinung in Bezug auf Homosexualität also nicht und auch meinen Umgang nicht mit gleichgeschlechtlich Empfindenden: Sie bleiben wie alle anderen willkommen in der Gemeinde mit ihren Stärken, Herausforderungen und Ängsten. Sie sind eine echte Bereicherung für die Gemeinde, denn sie sehen Dinge, die ich nicht sehe! Siehe Lewis, Sott, Schaeffer, Graham und Co. Einige Freunde, die gleichgeschlechtlich empfinden und mit Trans-Themen leben, sind inzwischen zu meinen grössten Vorbildern geworden in Sachen Sexualität — auch für mich ganz persönlich.
Es wird öffentlich: meine Theologie sei eine Aggression
Während ich sozusagen ‘am selben Ort’ wie früher blieb, entwickelten andere in meinem Umfeld in zum Teil rasantem Tempo einen Shift im Denken, sodass sie jetzt eine Meinung vertreten, die mehr oder weniger das Gegenteil ist zu meiner Denkweise. Das Jahr 2022 steht in meiner Erfahrung für das Ende dieser Jagd einiger progressiver Theologen und Influencer, mit unserer Umgebungskultur aufzuholen. Sie haben jetzt die Handbremse gelöst und gehen Vollgas in eine einzige Richtung. Sie haben ihre Hemmungen abgelegt und sprechen jetzt Klartext.
Ich will die Namen hier nicht nennen. Aber 2022 nahm ich die ersten öffentlichen Statements wahr: «Wer behauptet, dass ausgelebte Homosexualität eine Sünde ist, ist selbst der Sünder. Solch einer ist der Aggressor gegenüber der schwulen Community.» Vorbei waren die Jahre der eingeforderten ‘Ambiguitätstoleranz’. Jetzt wurde alles klar gemacht. Plötzlich ist alles wieder schwarz und weiss. Dabei gehöre ich mit meiner Haltung in ihren Augen klar zur schwarzen Seite.
Vorbei war auch die Zeit des Dialogs. Eine Reihe von Leuten, die einst noch mit mir online diskutiert haben, fingen an, mich zu blockieren. Über die Gründe kann ich nur mutmassen. Sie herausfinden kann ich nicht mehr, da ich keinen Zugang zu ihnen habe. Ich erwies mich wohl als einer, der sich nicht zu ihrem neuen religiösen Grundschema bekehren liess. So bekam ich die hintere Seite ihres Konzepts von Toleranz zu spüren.[ii] Ich habe Respekt für die anderen Progressiv-Liberalen, die weiter den Dialog suchen und pflegen. Davon gibt es zum Glück auch noch ein paar.
Ich dachte in jenen Monaten und auch noch heute: Wenigstens sind die Progressiven jetzt konsequent! Sie haben eine andere Weltsicht angenommen, ein anderes Menschenbild, ein anderes Gottes- und Weltbild. Sie benutzen zwar die gleichen Worte (Gott, Jesus Christus, Mensch, Liebe, Rettung, Sünde, etc) aber definieren diese Worte mitunter ganz anders. Es ist als ob sie die gleichen Worte brauchen, aber ein ganz anderes Wörterbuch mitliefern. Aber jetzt stehen sie (endlich) dazu! Und wir, wir können jetzt die ausgewachsene Version dieser Entwicklung sehen und sind dadurch besser in der Lage, die Entwicklung zu beurteilen (und jawohl: wir dürfen und sollen die Entwicklung beurteilen). Die Zeit des ‘so Tun als sei man im selben Boot’, ist vorbei. Jetzt ist klar: wir haben es mit zwei grundlegend anderen religiösen Systemen zu tun.
Aber – das ist meine Frage und sollte auch deine Frage sein – stimmt ihre Weltsicht? Entspricht sie derjenigen der Schrift und unseres Gottes, der menschenfreundlich ist (damit zitiere ich den eingangs erwähnten Vers)? Ist das Heil der Progressiven wirklich das Heil für die Menschen?
Geht die Aggression vielleicht in die andere Richtung?
Parallel zu diesen Entwicklungen nahm eine andere Ideologie ein noch grösseres Tempo auf. Die Fragen bezüglich Homosexualität wurden quasi links überholt von der Transideologie. Die Aggressivität der Transideologie gegenüber dem Körper schien nun sogar Feministinnen aufzufallen, die sich sonst für eine Akzeptanz ausgelebter Homosexualität ausgesprochen haben. Die Feindlichkeit der Transideologie gegenüber dem Körper, und gegenüber der Frau und dem Mann starrt einem regelrecht ins Gesicht – ausser man ist von der Ideologie schon völlig verblendet. Die offensichtlich hohe Sicht des Körpers, welche die christliche Weltsicht hat, wird in der Transideologie endgültig abgelehnt. Eine Reihe anderer Werte der christlichen Weltsicht ebenfalls.
Könnte es sein, fragte ich mich, dass die Leibfeindlichkeit der Transideologie auch in anderen Entwicklungen, wie z.B. der Gutheissung ausgelebter Homosexualität, zu finden ist? Wird dort vielleicht auch die Würde des Körpers von Männern und Frauen verneint? Müsste diese Anfrage auch bezüglich gewissen Formen ausgelebter Heterosexualität gestellt werden, welche in der Bibel nicht gutgeheissen werden? Ich erwähne diese Frage bezüglich heterosexuellen Menschen, um klarzustellen, dass es sich hier nicht um Bashing von queeren Menschen handelt. Heteros müssen sich derselben Frage stellen. Ich überlasse es meinen Lesern, über sie nachzudenken.
Mein Punkt: die Veränderungen der letzten Jahre gehen derart tief, dass die von uns verlangten Meinungsänderungen an gewissen Punkten nichts weniger als die Forderung sind, in eine komplett andere Weltsicht zu wechseln, in der alles umdefiniert werden muss: Was früher Pflicht war zu tun, soll jetzt angeblich eine Sünde. Und was früher Sünde war, sei etwas, das nicht nur ausgelebt, sondern auch zelebriert werden muss.
Ich musste manchmal schmunzeln. Diejenigen, die noch vor einigen Jahren mehr Toleranz gegenüber Sündern einforderten, schliessen mich nun komplett aus der Gemeinschaft mit ihnen aus, weil ich in ihren Augen ein Sünder bin. Die Welt steht manchmal wirklich auf dem Kopf!
Einvernehmlichkeit unter Erwachsenen: reicht das wirklich?
In der christlichen progressiven Bubble ist in diesen Jahren die Sexualethik mehr oder weniger auf das Stichwort ‘Einvernehmlichkeit’ reduziert worden: Auch wenn nicht alles immer super ist, was die Menschen ausleben, solange es einvernehmlich ist unter Erwachsenen, ist es gutzuheissen – oder wenigstens nicht zu kritisieren. Zwecks Illustration ein einziges Beispiel, von denen viele andere leicht gefunden werden können. Der Ethik-Verantwortliche der reformierten Schweizer Kirche, Dr. Stephan Jütte, antwortet auf einen Kommentar zu einem Podcast von ‘Ausgeglaubt’:
«Lieber Roland, herzlichen Dank! Mit Polyamorie, Selbstbefriedigung und allen einvernehmlichen Sexualpraktiken unter erwachsenen Menschen habe ich gar kein Problem.» (aufgerufen am 4.12.2023)
Man bemerke das kleine, aber gewichtige Wort ‘gar’: gar kein Problem. Vielleicht hat sich Jütte vertippt. Ich glaube jedoch nicht. Dieses Wort steht zurecht dort. Es ist für Jütte nicht etwas, das er in Betracht ziehen oder bedenken müsste, sondern es ist für ihn sonnenklar: alle einvernehmliche Sexualpraktiken unter Erwachsenen sind für ihn gar kein Problem.
Wenn Einvernehmlichkeit unter Erwachsenen das oberste oder nahezu einzige Kriterium ist, dann ist Polyamorie oder einvernehmlich ausgelebte Homosexualität selbstverständlich tolerierbar. Nicht nur tolerierbar, sondern empfehlenswert. Aber ist Einvernehmlichkeit unter Erwachsenen aus Sicht des christlichen Weltbildes der letztlich einzige und oberste Wert für Sexualität? Ich glaube nicht.
Was ist in der christlichen Bubble passiert? Einvernehmlichkeit ist eine kulturelle Innovation des Christentums, welche tief in unserer Kultur eingebettet ist. Unsere Kultur ist also — entgegen den pessimistischen Rufen einiger Konservativer — nicht völlig entchristlicht. Um das zu sehen, muss man nur schauen, wie die Heiden der Antike über Einvernehmlichkeit dachten. Sie konnten Einvernehmlichkeit zwischen Mann und Frau kaum denken oder leben, weil sie ein ganz anderes Menschenbild hatten.[iii] Gott sei Dank für das Christentum, welches aufgrund der Ebenbildlichkeit von Mann und Frau zu Gott etabliert hat, dass Mann und Frau gleichwertig sind und deshalb in der Sexualität einvernehmlich sein sollen.[iv] Zum Glück ist das so und wir müssen unbedingt an der Einvernehmlichkeit in der Sexualität festhalten!
Mein Punkt ist nicht, dass die Einvernehmlichkeit ein Problem ist, sondern dass Einvernehmlichkeit ein ausdrücklich christlicher Wert ist und darum nicht losgelöst gesehen werden darf von anderen, ebenso christlichen Werten. Nun aber hat unsere Gegenwartskultur und viele in der christlichen Bubble diesen christlichen Wert der Einvernehmlichkeit quasi herausgelöst aus seiner Verankerung in der biblischen Weltsicht und nutzt Einvernehmlichkeit jetzt um Sexualpraktiken zu begründen, die biblisch nicht gutgeheissen werden. Plötzlich wird z.B. Polyamorie, welche die Bibel eindeutig ablehnt, mit einem Wert gutgeheissen, der christlich ist: Einvernehmlichkeit. Was ist hier passiert?
Werte kommen als Gesamtpaket
Wir müssen verstehen: christliche Werte kommen als Gesamtpaket (atheistische, pantheistische und andere übrigens genauso). Christliche Werte sind eingebettet in die biblischen Antworten auf Fragen wie: Wer ist Gott? Wie hat er die Schöpfung gestaltet? Was ist der Mensch und wie soll er leben? Etc. Christliche Einvernehmlichkeit muss also immer in entsprechender Kombination mit anderen Elementen der christlichen Weltsicht verstanden werden.
Unsere Frage als Christen ist also: Welche anderen Werte nebst der Einvernehmlichkeit müssen wir aufnehmen, damit unsere Gesamtsicht auf Sexualität – um mit Rom 12:1–3 zu reden — gut ist, Gott Freude macht und vollkommen ist? Ich behaupte, dass die hohe Würde des Körpers ein solcher Wert ist, der ins Gesamtpaket gehört und zusammen mit Einvernehmlichkeit gedacht werden muss. Darüber habe ich 2021 auch eine Artikelserie unter dem Titel ‚Better Story‘ verfasst.
Was passiert nun aber, wenn wir versuchen, ‘das eine ohne das andere zu haben’? Was geschieht, wenn wir einen Wert, der im christlichen Weltbild verankert ist, aus dessen Verankerung herauslösen, indem wir diesen Wert nicht zusammendenken mit den anderen Werten im christlichen Weltbild? Ein solches Vorgehen bringt eine zweifache Gefahr.
Erstens: Es entsteht die Möglichkeit, dass ein an sich christlicher Wert als Begründung für nicht-christliches Verhalten missbraucht wird. Wenn Stephan Jütte seine Gutheissung von Polyamorie mit ‘Einvernehmlichkeit’ begründet, tut er genau dies. Er missbraucht einen christlichen Wert, um ein Verhalten zu rechtfertigen, das der Gott der Bibel nicht gutheissen wird. Auch weitere Spielarten des einvernehmlichen Sex lassen sich so rechtfertigen. Eigentlich lässt sich mit Einvernehmlichkeit unter Erwachsenen fast alles rechtfertigen, das nicht Päderastie oder Pädophilie ist. So hat vor einem Jahr ein Theologe, der mit mir online auf Facebook diskutiert hat, den Inzest-Fall von Korinth (1Co 5:1–5) aufgrund der möglichen Einvernehmlichkeit des Paares öffentlich gutgeheissen. Paulus und die Gesetzgebung des heidnischen Roms beurteilen diese Situation komplett anders: diese inzestuöse Beziehung ist ein komplettes ’no go’.
Zweitens: Einen einzelnen Wert aus dem Gesamtpacket herauszulösen bringt das Risiko mit sich, diesen Wert zu verlieren. Einen einzelnen Wert aus dem Gesamtpaket herauszulösen heisst, dass dieser Wert in ein anderes Gesamtpaket eingefügt wird, welches diesen Wert möglicherweise nicht mehr begründet aufrechterhalten kann. Einvernehmlichkeit ist in der gleichen Würde von Mann und Frau begründet, welche zurückgeht auf die Überzeugung der Bibel, dass Mann und Frau im Bild Gottes geschaffen sind. Gibt es eine andere Weltsicht, welche diese Grundannahme von Mann und Frau begründet und stützt? Ich weiss von keiner, lasse mich aber gerne eines Besseren belehren. Ich bin zur Zeit überzeugt: Losgelöst von der biblischen Überzeugung der Ebenbildlichkeit sind sowohl die gleiche Würde von Mann und Frau als auch Einvernehmlichkeit gefährdete Werte.
Wir stehen in realer Gefahr, die Einvernehmlichkeit als wichtiger Wert für die Sexualität zu verlieren. Die Würde des Körpers ist in vielen Bereichen des Denkens über Sexualität schon verloren gegangen. Die Einvernehmlichkeit folgt mit Sicherheit, ausser wir kehren zur Weltsicht der Bibel zurück. Allen, denen Einvernehmlichkeit in der Sexualität wichtig ist (das umfasst auch viele der progressiv-liberalen Influencer und Eliten), sollten sich darauf besinnen, woher die Einvernehmlichkeit kam und worin sie aufrecht erhalten bleiben kann! Wenn ihnen (und uns) Einvernehmlichkeit wirklich derart wichtig ist, müssen wir gut überlegen, welche Weltsicht diesen wichtigen Wert begründet tragen kann. Die Gefahr ist sonst, die hochgelobte – und tatsächlich äusserst wichtige – Einvernehmlichkeit zu verlieren.
Die Menschenfreundlichkeit des Gottes der Bibel hat mein Herz erobert
Ich bin neu und zutiefst überzeugt, dass Gott ein Menschenfreund ist. Sein ganzheitliches Heil, welches in Jesus Christus offenbar ist, rettet uns aus unserem Unverstand und Ungehorsam, weswegen wir in die Irre gingen in allerlei Lüsten und Vergnügungen (siehe Tit 3:3). Hier ist wirkliches Heil für den Menschen!
Ein Schlüssel dabei ist, die Gesamtsicht der Bibel auf den Menschen umfassend kennenzulernen. Nicht nur die Einvernehmlichkeit, sondern auch den Rest des Gesamtpakets! Je mehr ich diese Gesamtsicht sehe, desto mehr erobert diese Menschenfreundlichkeit Gottes mein Herz! Ich bin heute überzeugt: Was Gott uns in der Bibel über seine Wege mit uns zeigt ist zutiefst gut für uns – auch in der Sexualität! Hier bin ich gelandet nach ca. 10 Jahren Unterwegssein mit Menschen, die mit den erwähnten Themen leben, bei gleichzeitigem Bibellesen und Studium der theologisch-seelsorgerlichen Optionen.
Nicht alle sehen es wie ich. Einige Weggefährten sehen es derart anders als ich, dass sie keine Weggefährte mehr sein wollen. Einige Mitstreiter aus meiner Jugendzeit meiden den Umgang mit mir. Ich kann sie ein Stückweit verstehen: Sie denken und agieren auf einer inzwischen gänzlich anderen Grundlage, als ich es tue. Solche Brüche in Beziehungen tun weh — auf beiden Seiten. Dies alles zeigt aber nur, dass wir in mitunter gänzlich anderen Werte-Systemen unterwegs sind. Ich behaupte: Ich bin noch auf derselben Grundlage, wie ich vor 10 und 20 Jahren war. Es sind die Progressiv-Liberalen, die den grundlegenden Wechsel in etwas ganz anderes vollzogen haben. Sie dürfen das tun. Mein Verständnis von Toleranz befiehlt mir, das zu respektieren, auch wenn ich die Situation komplett anders beurteile.
Ein Gebot der Stunde ist, die christliche Weltsicht umfassend kennen- und lieben zulernen. Die Weltsicht, die sich uns in der Bibel eröffnet, ist kein Supermarkt der Ideen, in den ich gehen und mir aussuchen kann, was ich zu meinem eigenen Cocktail mixen will. Weltsichten sind Gesamtpakete und ich möchte in der christlichen Weltsicht auf Entdeckungsreise gehen! Ein guter Freund von mir meinte kürzlich: Die Weltsicht des Christentums ist ein Universum und wir bereisen und entdecken diesen immensen und schönen Raum mittels Theologie und Spiritualität! Ich bin vollkommen mit ihm einverstanden! Von dieser Weltsicht ausgehend will ich alle Fragen unserer Zeit erkunden und beleuchten um darin die Güte Gottes zu entdecken und lieben zu lernen. Ein Beispiel für eine solche Entdeckungsreise ist meine erst kürzlich veröffentlichte Artikelreihe über Inklusion: Kirche als Raum der Gnade. Aber es gibt noch so viel mehr zu erkunden! Kommst du mit? Erkunden wir in den nächsten Jahren gemeinsam die Weite des Universums der christlichen Weltsicht!
Culture Shift
Eine Möglichkeit, die christliche Weltsicht besser kennenzulernen, ist für uns alle die Konferenz mit einer Vorreiterin in diesen Fragen: Professor Nancey Pearcy, Autorin des Bestsellers ‘Liebe deinen Körper’. In der Culture Shift Konferenz vom Freitag 07. bis Samstag 08. Juni in Thun möchten wir gemeinsam die Denkweisen untersuchen, die unsere Gesellschaft prägen und wie sich diese auf Identität, Beziehungen und Sexualität auswirken. Anhand der Bibel möchten wir die christliche Weltsicht kennenlernen, die Denkweisen untersuchen die unsere Gesellschaft prägen und wie sich diese auf Identität, Beziehungen und Sexualität auswirken. Unser Wunsch ist, ein neues Vertrauen in die Verlässlichkeit und Ganzheitlichkeit der biblischen Perspektive auf Sexualität zu schaffen und uns auf eine begeisterte und fundierte Kommunikation über Glaube, Gender und Sexualität vorzubereiten.
Bilder: iStock
[i] Inzwischen empfinde ich diese Formulierung als falsch und unfair. Als Christen wollen nicht wir (als Theologen und Pfarrpersonen) entscheiden, was die Menschen tun dürfen und lassen müssen. Unsere gemeinsame Bemühung mit allen Christen ist die Wege Gottes zu verstehen. Wenn jemand etwas von uns möchte, dann nicht die Pfarrpersonen, sondern Gott.
[ii] Ich bin inzwischen überzeugt, dass das historische Christentum den besten Toleranzbegriff zu bieten hat. Eine der Schlüsselfragen der Toleranz ist: Wie geht eine Weltanschauung mit Menschen um, die anders denken. Ich gebe zu, dass in der Vergangenheit unter der Flagge des Christentums alles andere als ein guter Umgang mit Menschen, die anders denken, gelebt wurde. Ich betrachte diese Beispiele aber als Fälschungen des wirklichen Christentums. Jesus Christus hat mit den Menschen um ihr Denken gerungen, sie auch konfrontiert und mit ihnen argumentiert. Aber er hat sie niemals manipuliert oder mit Methoden der Gewalt gezwungen, seine Meinung zu übernehmen. Vielmehr liess er sich von Menschen hinrichten, welche seine eigene Person anders deuteten als er selbst. Wirkliche Christen müssen sich diesen Christus als Vorbild nehmen für ihr Verständnis und ihre Praxis von Toleranz. Im christlich-kulturellen Milieu erlebe ich Exponenten verschiedener Seiten alles andere als tolerant in diesem Christus-Sinne.
[iii] Für mehr dazu, siehe Tom Holland’s Analyse des antiken Heidentums und dessen Unterschied zum Christentum: Herrschaft – die Entstehung des Westens. Es gibt Hinweise, dass manche in der Antike Einvernehmlichkeit zwischen Homosexuellen als eine Möglichkeit sahen. Manche sahen die Mann-Mann Liebe als höherwertig als die Mann-Frau Liebe, weil der Mann grundsätzlich als ein Wesen gesehen wurde, welcher der Frau überlegen ist. In dieser Mann-Mann Liebe gab es päderastische Formen von Homosexualität, welche heute als missbräuchlich gesehen werden. Aber es gab in der Mann-Mann Liebe auch Beziehungsformen, die wir heute als einvernehmlich bezeichnen würden. Ein Beispiel: Der “gegenseitige Ausdruck von Liebe” zwischen einem Mann und seinem Liebhaber erreichen einen Punkt wo “es schwierig ist einzuschätzen, welcher der beiden der Liebhaber und welcher der Geliebte ist, wie in einem Spiegel“ (Callicratidas in Pseudo Lucian ‚Affären des Herzen‘ ca. 2. JH). Viele progressive Exponenten argumentieren, dass es damals (fast) nur ausbeuterische Formen von Homosexualität gab und die Bibel deshalb nur diese ausbeuterischen Formen ablehnt — nicht aber die einvernehmlichen heutigen Formen von Homosexualität. Sie haben aus meiner Sicht ein wichtiges Segment der Texte entweder nicht gesehen, oder ganz anders gedeutet. Mir persönlich sind aber bisher keine Texte begegnet, in denen Einvernehmlichkeit zwischen Mann und Frau sichtbar ist. Vielleicht gab es sie. Aber ein Fachmann wie Holland meint, dass die Antiken Menschen die gleiche Würde aller Menschen nicht denken konnten. Ich gehe davon aus, dass dies auch das Verhältnis von Mann und Frau betrifft.
[iv] Leider haben nicht alle Segmente und Zeitalter des Christentums diesen wichtigen Wert aufrechterhalten. Sie hätten es aber unbedingt tun sollen.
Danke Paul, ich freue mich schon auf den nächsten Teil. Es ist so eine Ermutigung und Hilfe am großen Bild, also Gottes Ordnungen und Werte und Gesamtkonzept seiner Antropologie festzuhalten und auf ihm die einzelnen “Probleme” abzubilden und nicht Einzelpunkte zum Maßstab zu machen. Ich halte daran fest: Er hat diese Dinge zum Besten für alle gesetzt. Betrachtet man den Punkt des “Einverständnisses unter Erwachsenen” muss doch gefragt werden, wie fähig sind wir Erwachsenen denn, oder sind wirklich alle fähig, angesichts der wachsenden Anzahl an psychisch Kranken. Für mich eine sich gegenseitig verstärkende Problematik, psychisch krank da überfordert mit den eigenen Regeln und Entscheidungen, die wiederrumm von psychisch Kranken vertreten werden. Ebenso ist es natürlich mit der Transproblematik bei Kindern und Jugendlichen. Identität kann nicht selbst gebildet werden von jenen, denen schon die Grundsätze ihrer Existenz und Identität nicht von außen vermittelt werden. Vieles gäbe es zu schreiben.….aber so wichtig Roadmarks zu setzen und das machst du auch wieder mit dieser Serie! DANKE! Sei gesegnet und gegrüßt!
Danke Karin! Der von dir erwähnte Bereich ist tatsächlich äusserst problematisch. Gerade deshalb scheint es mir wichtig, nebst der Einvernehmlichkeit zusätzlich Parameter zu haben, die den Menschen schützen. In aller Schlichtheit zum Beispiel die Ehe. Dazu kommt demnächst ein guter Text raus von Prof Dr Christoph Raedel, der eine Relevanz hat zu deiner Fragestellung