In Konfliktsituationen orientieren sich Christen manchmal am Rat Gamaliels aus der Apostelgeschichte. Dieser berühmte Rat ist aktuell wieder in der Diskussion um christliche Einheit aufgetaucht. Doch der Rat eignet sich mindestens so gut als taktische Waffe, als dass er ein guter und weiser Rat sein kann. Ein Streifzug durch aktuelle Brandherde und alte Konflikte.
Die Luft im Besprechungszimmer war ziemlich dick, als es aus einem der Anwesenden herausplatze: „Bitte kein Blutvergiessen! Halte dich an den Rat Gamaliels!“
Das war in den Tagen meines geistlichen Neu-Erwachens vor einigen Jahren. Ich hatte mich innerlich gedrängt gefühlt, bei einer kirchennahen Organisation eine Sache anzusprechen, welche mich beschäftigte. Ich hatte meinen ganzen Mut zusammengenommen, diese Sache zur Sprache zu bringen, und hatte meine Anliegen freundlich aber eindringlich vorgebracht. Für einen der Anwesenden war klar: Peter wird möglicherweise nicht nur hinter den verschlossenen Türen dieses Sitzungszimmers reden, sondern wird seine Bedenken wohl auch öffentlich äussern. Das galt es zu verhindern! Der Mann wollte ’seelisches Blutvergiessen’ verhindern, welches mit öffentlich ausgetragenen Konflikten daherkommen kann. Er wollte, dass ich mich an den Rat Gamaliels halte.
Seither ist mir dieser Rat an verschiedenen Orten begegnet, erst gerade wieder in einem Statement des Theologen Thorsten Dietz im aktuellen Aufatmen Magazin. In einem Gespräch mit dem Theologen Stephanus Schäl über die in unseren Tagen arg gefährdete christliche Einheit lesen wir:
„Ich wünsche mir, dass man biblisch vielleicht mal mit Gamaliel sagt: Wenn das von Gott kommt, dass sich eine neue Einsicht durchsetzt, werden wir es nicht stoppen können. Wenn es nicht von Gott kommt, wird das Ganze irgendwann scheitern, wird zusammenbrechen. Jetzt gucken wir Tag für Tag und bleiben im Gespräch.“[1]
Die Aussage macht Dietz im Zusammenhang mit Spannungen, welche sich aufgrund sexualethischer Fragestellungen in unseren Breitengraden in vielen Kirchen und Kirchenverbänden aufbauen. Die implizite Botschaft des Statements von Dietz lautet: Das „Neue“ – also die von ihm im kirchlichen Milieu eindringlich geforderte liberale Sexualethik – solle nicht bekämpft werden durch Christen, welche sich diesbezüglich zu den historischen kirchlichen Positionen stellen. Vielmehr solle man einander entspannt leben lassen, im Gespräch bleiben und schauen, welche Einsicht sich am Schluss durchsetzt. Was sich durchsetzt, ist in dieser Logik dann das Richtige, das von Gott her kommt.
Ist das ein guter und weiser Rat? Für die Beantwortung dieser Frage macht es Sinn, die Geschichte von Gamaliel etwas näher unter die Lupe zu nehmen.
Der Rat des Gamaliel
Der Rat des Gamaliel geht zurück auf eine Geschichte, welche sich in der Apostelgeschichte entfaltet (Apg 5). Die in Jerusalem entstandene erste Gemeinde von Christen ist am Wachsen. Durch die Apostel geschehen im Volk Zeichen und Wunder. Das sorgt für Unruhe unter der religiösen Elite im Land. Der Hohepriester und die Sadduzäer sorgen dafür, dass die Apostel ins Gefängnis kommen. Doch die Türen des Gefängnisses bleiben nicht verschlossen, und auch nicht die Mundwerke der unverhofft wieder freien Apostel. Diese berichten weiterhin in aller Öffentlichkeit vom auferstandenen Jesus Christus. Nun werden im Hohen Rat auch Pläne geschmiedet, Apostel zu töten. Jetzt soll Blut fliessen.
Das ist der Moment, in welchem sich der Pharisäer Gamaliel mit einem Ratschlag in die hitzige Debatte einschaltet:
„ Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Ist dies Vorhaben oder dies Werk von Menschen, so wird’s untergehen; ist’s aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten – damit ihr nicht dasteht als solche, die gegen Gott streiten wollen.“ (Apg 5:38–39)
Die Anwesenden des Hohen Rats gehen auf diesen Vorschlag ein. Die Apostel kommen noch einmal ungeschoren davon und fahren fröhlich damit fort, über Jesus zu erzählen und zu lehren. Der Rat des Gamaliel hat den Aposteln das Leben gerettet und ihr weiteres Wirken ermöglicht.
Ein guter Rat?
Der „Rat des Gamaliel“ hat sich als allgemeine Lebensweisheit eingebürgert. Die Idee ist: Auf die Dauer wird nur das Bestand haben, was Gott bewirkt. Alles andere wird ungefähr so schnell verschwinden, wie es aufgetaucht ist. Mit dieser Annahme ist auch die Idee verbunden, einander in Konfliktsituationen leben zu lassen, Pluralität der Meinung zuzulassen und sich nicht gegen etwas zu wenden. Vielmehr sollen wir abwarten und schauen, was die Zeit bringen wird.
Ich persönlich bin überzeugt, dass der Rat des Gamaliel immer wieder einmal ein guter Rat sein kann. Die Aussage, dass am Ende nur Bestand haben wird, was Gott bewirkt, hat natürlich eine Rückendeckung in biblischen Aussagen. Für den Seher Bileam war klar, dass er das gesegnete Volk Gottes nicht verfluchen konnte (4Mo 22–24). Der Segen Gottes würde sich durchsetzen[2]. Wir werden in der Bibel als Christen auch aufgefordert, Gott wirken und richten zu lassen und nicht mit der Brechstange selbst Dinge erzwingen zu wollen, die wir als richtig und gut erachten (z.B. Röm 12:17–21). Tatsächlich ist das Abwarten manchmal eine gute und weise Strategie.
Trotzdem sollte der Rat des Gamaliel auch mit Vorsicht genossen werden. Zwar nimmt man Gamaliel aufgrund dieser Geschichte meist intuitiv als Sympathisanten der Christen war, doch das ist alles andere als zwingend. Dazu folgende Hinweise:
- Der Rat des Gamaliel wird in der biblischen Berichterstattung nicht weiter kommentiert oder bewertet. Es wird lediglich wiedergegeben, was passiert ist und was geredet wurde. Es liegt an uns, die Aussagen Gamaliels in im Kontext weiterer biblischer Aussagen einzuordnen und zu bewerten.
- Die Apostelgeschichte ist primär Geschichtsschreibung und nicht christliche Lehre. Gamaliel kommt nicht die Autorität eines Propheten oder Apostels zu. Seine Statements sollten erstmal als das gewertet werden, was sie sind: Aussagen eines einflussreichen jüdischen Geistlichen in einer heiklen Auseinandersetzung.
- Es bleibt unklar, was die Motivation von Gamaliel war. Die Sadduzäer glaubten nicht an die Auferstehung der Toten und waren möglicherweise auch deshalb darum bemüht, die Apostel hinter Gitter zu bringen (Apg 5:17). Diese verkündeten Jesus als den Auferstandenen. Pharisäer wie Gamaliel jedoch glaubten an die Auferstehung der Toten. Deshalb hatte Gamaliel möglicherweise nicht nur weniger Probleme mit den Auferstehungsberichten der Apostel, er hatte in diesem Konflikt auch eine Gelegenheit, der theologischen Konkurrenz im Hohen Rat eins auszuwischen.
- Eine weitere Möglichkeit ist, dass Gamaliel tatsächlich damit rechnete, dass die Apostel bald tot sein würden. Das Volk würde sich in irgendeiner Form gegen die Christen wenden oder es würde zu einer inneren Selbstzerfleischung in der Urgemeinde kommen. Auf diese Möglichkeit deutet seine Argumentation vor dem Rat hin, in welcher er zwei weitere Anführer erwähnt, deren Bewegungen vor nicht allzu langer Zeit von selbst mit dem gewaltsamen Tod ihrer Anführer ein Ende gefunden hatten (Apg 5:36–37).
- Nicht zuletzt kann der Apostel Paulus erwähnt werden. Im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte erwähnt dieser, dass er selbst als junger Mann „zu Füssen Gamaliels“ unterrichtet worden war (Apg 22:3). So wurde aus Paulus ein religiöser Eiferer, der Christen verfolgte. Wir haben keine schriftlichen Informationen, ob es sich bei dem von Paulus erwähnten Gamaliel um den gleichen Mann handelt, der den Hohen Rat überzeugte, die Apostel freizulassen. Aber die Annahme hat aufgrund der Timeline eine gewisse Plausibilität.
Was Gamaliel genau motiviert hat, wissen wir letztendlich nicht. Die Fragestellung bleibt offen. Wir sind alle gefährdet und sollten uns hüten, abschliessend über Gamaliel zu urteilen. Aber diese Erläuterungen zeigen doch, dass der Rat des Gamaliel vielleicht einfach der schlaue strategische Schachzug eines sehr intelligenten aber von eigenen Interessen geleiteten Machtmenschen war. Dieser Schachzug setzt darauf, dass niemand gerne mit dem Stigma des Moralisten, des Intoleranten oder des Fundamentalisten behaftet sein will. Dieser Schachzug liefert auch gleich das theologische Argument, mit dem man sich aus der Affäre ziehen könnte: Man soll sich dem Wirken Gottes nicht in den Weg stellen. Es wird sowieso passieren, was Gott will.
Nicht zuletzt vermag dieser Schachzug die eigenen Ambitionen mit einem Kleid von angeblicher Bescheidenheit und Toleranz zu kaschieren.
Ein Liebling der Progressiven
Es ist interessant, dass meine Begegnungen mit dem ‘Rat des Gamaliel’ in den letzten Jahren ausnahmslos in Argumentationslinien stattfanden von Vertretern eines liberalen, progressiven Christentums. Diese Vertreter scheinen den Pharisäer Gamaliel besser zu mögen als den Apostel Paulus. Das dürfte seine Gründe haben. Während Gamaliel zumindest oberflächlich gesehen als toleranter und offener Friedensvermittler daherkommt, ist ja Paulus immer wieder damit beschäftigt, Irrlehren und Sünden beim Namen zu nennen und die christlichen Gemeinschaften zu einer liebevollen aber klaren Linie in Fragen von Theologie und Moral anzuhalten. Paulus möchte ausdrücklich nicht, dass Christen in Schlüsselfragen nach dem Rat des Gamaliel agieren und einfach alles ohne Wertung nebeneinander stehen lassen. Paulus scheut sich nicht, den anderen Apostel Petrus frontal und öffentlich zu konfrontieren (siehe Gal 2) und grundlegend falsche Lehre als verfluchte zu bezeichnen (Gal 1:6–9). Wo bleibt da der ‘Rat des Gamaliel’ bitte schön Paulus?
Popularisiert wurde Gamaliel in den progressiven Kreisen unserer Tage wohl durch Brian McLaren[3]. In den 2000er Jahren war McLaren eine Leuchtfigur der sogenannten ‘Emergent’-Bewegung – eine Bewegung, welche auch ich als junger Leiter durchaus mit positivem Interesse verfolgte. Doch mit der Publikation seines Buches «A New Kind of Christianity» (2010) wurde klar, wohin bei ihm die Reise geht: In das, was der bekannte Blogger Tim Challies damals den «offenen, unverblümten und unverfrorenen Glaubensabfall» nannte[4], in ein «Heidentum hinter einem dicken Mantel falscher Demut und biblischer Sprache»[5].
Unsere heutigen Progressiven mögen McLaren immer noch und bedienen sich auch gerne bei ihm. Doch McLaren hat damals wohl geahnt, dass seine Ideen nicht ohne Widerspruch bleiben würden. Gegen Ende des Buches bringt er Gamaliel schon einmal strategisch in Stellung. Mclaren schreibt, die Pioniere des von ihm propagierten ‘Neuen Christentums’ hätten «die ersten Runden des feindlichen Beschusses über sich ergehen lassen»[6] durch Menschen, welche, wie die Ratskollegen Gamaliels, die Ausbreitung des Christentums stoppen wollten. Doch in 50 bis 70 Jahren würde dieser Kampf weitgehend beendet sein. Wer weise sei, sagt McLaren, würde deshalb wie Gamaliel damals, bereits heute den «Raum aufmachen»,[7] damit Gott tun könne, was er tun wolle.
Die Botschaft von McLaren ist eigentlich: «Lasst mich einfach in Ruhe meine Lehren verbreiten, ohne diesen zu widersprechen».
Wie schon gesagt: Die Dinge ruhig und entspannt sich entwickeln lassen kann in gewissen Situationen angemessen sein. Der wahre Charakter einer Lehre zeigt sich oft erst mit der Zeit. Aber wo substantielle Irrlehren sichtbar wurden, war die Anweisung der Apostel nicht ‘Abwarten und Tee trinken’. Im Gegenteil: Die Aufforderung, falschen Lehren aktiv entgegen zu treten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Lehrbriefe des Neuen Testaments.
Die Predigt fürs Jahrhundert
Die Progressiven unserer Tage mögen sich am Vorbild eines Brian McLaren orientieren. Sie wissen möglicherweise nicht, dass über McLaren ein noch viel Grösserer thront: Harry Emerson Fosdick[8], amerikanischer Pastor und vor 100 Jahren der unbestrittene Superstar des aufstrebenden liberalen Christentums auf der anderen Seite des Atlantiks. Am 21. Mai 1922 hält Fosdick eine denkwürdige Predigt unter dem Titel «Shall the Fundamentalists Win?» (Sollen die Fundamentalisten gewinnen?). Diese kann möglicherweise als die einflussreichste Predigt im Amerika der Zwischenkriegsjahre gewertet werden. Das Thema seiner Predigt: Gamaliel. Das Ziel seiner Predigt: Seinen theologisch konservativen Kontrahenten den Wind aus den Segeln nehmen.
Die Predigt kam auf dem Höhepunkt der sogenannten Fundamentalist vs. Modernist Kontroverse. Es war eine Zeit, in der sich in den Chefetagen der eingesessenen Kirchen und Kirchenverbände liberale theologische Ansätze breitmachten. Als sich gegen diese Entwicklung Widerstand zu formieren begann, war Fosdick mit seiner Predigt zur Stelle.
In der Predigt lamentiert Fosdick zunächst über die «drohende Spaltung der amerikanischen Kirchen», bevor er sich dann selbst quasi in die Rolle von Gamaliel wirft. Als Advokat für einen «Geist der Toleranz und der christlichen Freiheit» findet er, dass niemand das Recht habe, einer anderen Person «das Christentum abzusprechen» und diesem «die Türen der christlichen Gemeinschaft zu verschliessen». Doch das sei genau das, was die Fundamentalisten[9] tun würden. Deren Kirchen seien Räume des Denkverbots, der Intoleranz und der kleinlichen Streitereien.
An seiner Seite hatte Fosdick einen einflussreichen und potenten Verbündeten: John D. Rockefeller Jr. Diesem gefiel die Predigt so gut, dass er 130’000 Exemplare davon drucken und an jeden Geistlichen im Lande schicken liess. Er liess dafür den eher konfrontativen Titel der Predigt entschärfen. Nun hiess die Predigt «The New Knowledge and the Christian Faith» (Das neue Wissen und der Christliche Glaube).[10] Jeder Pastor der USA bekam diese Predigt per Post zugeschickt. Die unglaubliche Wirkung einer solchen PR-Kampagne liegt auf der Hand.
Strategisch gesehen war diese Predigt ein gut getimtes Meisterstück. Kirchenverbände, theologische Institute und Missionsgesellschaften in den USA waren bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fest in der Hand von Menschen, welche die traditionellen historischen Positionen des Christentums vertraten. Sie bekannten sich beispielsweise zur leiblichen Auferstehung von Jesus oder waren überzeugt von der historischen Realität seiner Wunder. Doch in den 10er- und 20er-Jahren nahm der Einfluss der liberalen ‘modernistischen’ Theologie stetig zu, was zu einer wachsenden Anzahl von latenten oder offenen Konflikten innerhalb von Verbänden und Gremien führte. Unter anderem diese Konflikte hatte Fosdick mit seiner Botschaft im Visier.
Ein guter Freund und Weggefährte von Fosdick weist damals auf die taktischen Stärken von Fosdick hin: «Wir sollten nie die Qualitäten von Dr. Fosdick unterschätzen, sowohl die defensiven, als auch die offensiven.»[11]
Die eigentliche Absicht von Fosdick war wohl Zeit zu gewinnen, damit von ihm gewünschte, liberale Mehrheiten entstehen konnten. Das wertschätzende Nebeneinander von konservativer und liberaler/progressiver Theologie war bei ihm nie wirklich geplant. Sein Ziel war es, als Sieger aus einem Verdrängungskampf innerhalb ursprünglich konservativer Denominationen hervorzugehen. Auf dieses Ziel arbeitete er mit Geschick hin. Er tat dies, indem er unter anderem liberalen Pastoren sehr konkrete Anweisungen gab, wie sie sich gegenüber konservativ tickenden Kirchgemeindemittgliedern geben sollten:
«Der Mann, der ihnen dient, muss die Bibel kennen. Wenn er mit der Art und Weise, wie sie damit umgehen, nicht einverstanden ist, darf er nicht den Eindruck erwecken, er sei ignorant, leichtfertig, oder rede ohne langes Nachdenken, ohne gute Gründe oder bewusste Entscheidung. Sie müssen das Gefühl bekommen, dass er ein gründlicher, nachdenklicher, ehrfürchtiger Schüler des Buches ist. Wenn sie sich dessen sicher sind, werden sie ihm grosse Freiheiten geben»[12]
Die Strategie war, offene Konflikte möglichst lange zu vermeiden und das Vertrauen theologisch konservativer Christinnen und Christen zu gewinnen, indem man sich als Bibel-liebende Person mit tiefer Spiritualität präsentierte. Tatsächlich kippte die Macht im Laufe der 1920er-Jahre zunehmend auf die Seite der Modernisten. Mitte 30er ist sich Fosdick seines Sieges gewiss. In einer weiteren bekannten Predigt lässt er 1935 keinen Zweifel daran, dass es ihm nie um die friedliche und gleichwertige Co-Habitation von Konservativen und Progressiven unter den Kuppeln kirchlicher Verbände und Gremien gegangen war:
«Wir haben die Schlacht, die wir mit dem Ziel zu gewinnen angefangen haben, bereits weitgehend gewonnen. Wir haben den christlichen Glauben an die besten Erkenntnisse unserer Zeit angepasst und die stärksten Köpfe und die Fähigsten der Kirchen auf unsere Seite gezogen. Der Fundamentalismus ist zwar immer noch da, aber meist nur noch in den hinteren Gewässern. Die Zukunft der Kirchen liegt, wenn wir es wollen, in den Händen des Modernismus.»[13]
Ein Wort zur Aktualität
Die bisherige Analyse zeigt, dass der Rat von Gamaliel mindestens so gut als taktische Waffe taugt, als dass er ein guter und weiser Rat sein kann. Nur zu oft scheint der Rat des Gamaliel ein Instrument zu sein, um bei der Gegenseite eine Passivität zu erwirken und selbst ungehindert weiter wirken zu können. Nur zu oft scheint es einfach darum zu gehen, sich mit weisen und fromm tönenden Worten den wichtigen Vorteil in einem Konflikt zu verschaffen. Deshalb rede ich auch lieber von der Gamaliel-Strategie als vom Gamaliel-Rat. Wir mögen es, wenn uns jemand einen Grund dafür liefert, nichts zu tun und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Genau darauf baut diese Strategie. Und umso besser, wenn uns für ein solches ‚Laissez-faire‘ noch eine fromm klingende Begründung geliefert wird.
Fosdick hat vor 100 Jahren mustergültig vorgemacht, wie die Gamaliel-Strategie erfolgreich umgesetzt wird. Heute finden wir diese Strategie im Gespräch zwischen Thorsten Dietz und Stephanus Schäl im aktuellen Aufatmen Magazin wieder in Anwendung. Darin beschwört Dietz die Weisheit Gamaliels, ruft uns zurück an die „runden Tische“. Wir sollten „einander den Glauben glauben“, „nicht mehr kaputt“ machen, einander „in Respekt“ annehmen, und so weiter und so fort.
Ich kann solch salbungsvollen Worten herzlich wenig abgewinnen. Denn andernorts nimmt Thorsten Dietz kein Blatt vor den Mund. Christen, die sich weigern, LGBT+-Lebensrealitäten in ihren Kirchen Raum zu verschaffen und gutzuheissen, haben sich gemäss seiner Überzeugung an ihnen „versündigt“[14]. Man kann hier von einer eigentlichen Umkehrung der Sündenlehre reden. Rechtschaffen ist bei Dietz, wer sich als Alliierter der neuen sexuellen Vielfalt in ihren verschiedenen Schattierungen engagiert. Busse und Umkehr brauchen jene, welche an ‘altbackenen’ Ideen festhalten, wie zum Beispiel, dass Sexualität nur in den Raum einer heterosexuellen Ehe gehöre.
Das Interview im aktuellen Aufatmen Magazin ist für mich ein Beispiel dafür, wie grundlegende und sich gegenseitig ausschliessende Glaubensüberzeugungen einfach zum Verschwinden gebracht werden. Wie? Man führe in einem frommen Magazin einen ‘mutigen Dialog’, wo diese Differenzen mit ganz viel ‚Wir-suchen-Einheit-in-Jesus-Sauce‘ übergossen werden. Es wird ausgeblendet, schöngeredet und das Ganze dann dem Leser serviert, als ob er gerade dem Königsweg der christlichen Verständigung begegnet wäre.
Aus diesem Gespräch kommen folgende Botschaften bei mir an: „Sich gegenseitig ausschliessende Überzeugungen sind doch nur zwei Pole auf einem Spektrum! Der Weg des Todes und der Weg des Lebens sind vielleicht doch ein und derselbe![15] Wir haben endlich den Minimalkonsens gefunden: Es braucht gar keinen mehr! Lass uns fröhlich ein gemeinsames Kumbaya anstimmen!“
Glaubt man tatsächlich, dass dieses hübsch arrangierte aber letztendlich ungeniessbare Menue von allen gegessen wird?
Die Gretchenfrage zum Schluss: Wie kommt es eigentlich dazu, dass ein solches Gespräch in einer Zeitschrift mit durchaus evangelikalem Gepräge publiziert wird? Offenbar sind viele Verlage, Seminare und andere Player darauf angewiesen, dass der fromme Markt beieinander bleibt. Es geht neben durchaus echten geistlichen Anliegen halt auch um Profanes wie Auflagezahlen, Einflusssphären, Arbeitsplätze und ja: um Geldfragen. Wer mit seiner Organisation darauf angewiesen ist, dass der fromme „Kuchen“ zusammenbleibt, der wird auch dankend dem Rat Gamaliels folgen: Dieser verspricht, dass der Status Quo irgendwie erhalten werden kann. Niemand wird das sanfte Morphing bemerken, welches dabei möglicherweise an Glaubensüberzeugungen vollzogen wird.
Hier wird der Gamaliel-Strategie auf den Leim gegangen. Und still und leise wird die Wahrheit auf dem Altar einer Pseudo-Einheit geopfert.
Es gäbe in der Bibel durchaus ein Gegenprogramm zum Rat des Gamaliel. Es ist der ‘Rat des Mordechai’ an seine Verwandte, die Königin Esther, angesichts von drohendem Unheil für das Volk der Juden im babylonischen Exil:
«Denn wenn du zu dieser Zeit schweigen wirst, wird eine Hilfe und Errettung von einem andern Ort her den Juden erstehen. Du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiss, ob du nicht gerade um dieser Zeit willen zur königlichen Würde gekommen bist?» (Esther 4:14)
Krass? Ja. Aber der ‘Rat des Mordechai’ macht deutlich, dass es auch mal eine Zeit zum Handeln gibt, eine Zeit der Konfrontation und Klarstellung. Ja es stimmt, Gott erreicht seine Ziele. Die Frage ist aber, ob wir bereit sind, den Beitrag zu leisten, den er uns zugedacht hat. Weil das Böse nur zu gerne Ambiguität zu seinem Vorteil ausnutzt, muss man sich dieser auch mal entgegen stellen.[16] Zum Beispiel, indem man sich von der gemeinsamen Selbstbelügung verabschiedet bezüglich einer Einheit, welche eigentlich nicht gegeben ist.
Deshalb mein Rat an dich und mich: Das nächste Mal, wo dir der Rat des Gamaliel nahegelegt wird, sei wachsam: Könnte dies ein Signal für dich sein, endlich aufzustehen? Könnte es an der Zeit sein, dem ‚Rat des Mordechai‘ zu folgen und mit Demut aber Entschlossenheit eine nötige Konfrontation, einen nötigen Kampf zu führen, deinem Herrn Jesus Christus und seiner Wahrheit zuliebe?
Titelbild:
Ausschnitte aus: William Holman Hunt, ‘The Finding of the Saviour in the Temple’, 1854
Fussnoten:
[1] Aufatmen, Ausgabe 3 2023 (August), Artikel: «Spannung halten, im Gespräch bleiben»
[2] Vergleiche dazu meine Artikelserie zum Propheten Bileam: https://danieloption.ch/theologie/altes-testament/bileam-teil‑1/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Brian_McLaren
[4] https://www.challies.com/book-reviews/a‑new-kind-of-christianity/
[5] https://www.challies.com/book-reviews/a‑new-kind-of-christianity/
[6] Brian McLaren, A New Kind of Christianity, 2010, Kindle Edition, S324, meine Übersetzung
[7] Brian McLaren, A New Kind of Christianity, 2010, Kindle Edition, S305, meine Übersetzung
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Emerson_Fosdick
[9] Man beachte, dass der Begriff Fundamentalismus damals eine andere Bedeutung hatte als heute.
[10] Robert Moats Miller, Harry Emmerson Fosdick, Preacher, Pastor, Prophet, 1985, S116/117, meine Übersetzung
[11] Robert Moats Miller, Harry Emmerson Fosdick, Preacher, Pastor, Prophet, 1985, S116, meine Übersetzung
[12] Harry Emerson Fosdick, The Modern Use Of The Bible, 1926, S4, meine Übersetzung
[13] Harry Emerson Fosdick, Riverside Sermons, 1958, «The Church Must Go Beyond Modernism», S362, meine Übersetzung
[14] Vergleiche z.B. https://youtu.be/mdANgnFpZ2k?t=246 , Ähnlich lautende Statements gibt es von diversen Postevangelikalen Vertretern im deutschsprachigen Raum.
[15] Vergleiche dazu die frühchristliche Didache: https://bkv.unifr.ch/de/works/cpg-1753/versions/didache-lehre-der-zwolf-apostel-bkv/divisions/2
[16] Vgl. Dazu: Chesterton, Eugenics and Other Evils, 1922, S3‑4 und meinen Artikel Chesterton und das Wunder von England: https://danieloption.ch/featured/chesterton-und-das-wunder-von-england/#_ftn2
Die Galmaliel-Strategie erinnert fatal an das säkulare “der Klügere gibt nach” — worauf sich die Herrschaft der Dummen stürzt.
Im Islam wird von Muslimen sinngemäß gesagt: “Wenn Gott gewollt hätte, daß etwas bestimmtes geschehen wäre, dann hätte er es auch geschehen lassen.” So wird häufig begangenes Unrecht gerechtfertigt.
Stephanus Schäl hat mich darauf hingewiesen, dass auch Martin Luther beim Reichstag zu Worms mit Gamaliel argumentiert hat. Danke für den Hinweis. Hier kann das Nachgelesen werden:
https://www.google.ch/books/edition/Luther_und_der_Reichstag_zu_Worms_1521/WqU8AAAAYAAJ?hl=de&gbpv=1&dq=Reichstag+in+Worms+Luther+Gamaliel&pg=PA70&printsec=frontcover
Der zweite grosse Refomator, Calvin, hat sich eher kritisch zu Gamaliel geäussert:
https://sacred-texts.com/chr/calvin/cc36/cc36046.htm
Vielen Dank Peter,
zum einen für das Deutlichmachen, der Gefahr, die sich hinter dem ‘Dialog’ verbirgt. Ein Angebot, um selbst die Kräfte zu bündeln und dann alles Fromme zu überrennen. Es ist so schade, dass so viele treue, evangelikale darauf hereinfallen. Viele alte Geschwister sehen nicht das Gesamtbild und finden sich plötzlich auf liberaler Seite wider. So schnell wie in den letzten 10Jahren habe ich noch nie bibeltreue Gemeinden und Schulen liberal werden sehen. Die Gamaliel-Strategie ist gut, leider.
Zum anderen für das mutige Ansprechen und Konfrontieren dieser Idee, sich die Zeit und Arbeit im Recherchieren zu nehmen, Worte zu formulieren und diesen Artikel zu verfassen.
Jesus segne Dich und ich hoffe dieser Artikel findet viele aufmerksame Leser. Werde ihn fleissig teilen.
Manuel
Danke an alle, welche diesen Artikel in den vergangenen Tagen gelesen haben und ihre Gedanken geteilt haben. Ich möchte an dieser Stelle auf den Artikel hinweisen, welcher Dr. Markus Till gestern zum gleichen Themenfeld publiziert hat: https://shorturl.at/dmt04
Die in diesem brillanten Artikel aufgeworfene Frage „ Wie kommt es eigentlich dazu, dass ein solches Gespräch in einer Zeitschrift mit durchaus evangelikalem Gepräge publiziert wird?“ würde ich so beantworten:
Redaktionsleiter des Magazins AUFATMEN und bis zum Herbst 2021 Verleger und Geschäftsführer der SCM Verlagsgruppe ist Ulrich Eggers.
Unter seiner Leitung sind meiner Meinung nach die Zeitschriftenartikel und die verlegten Bücher immer „bunter“, „progressiver“ und theologisch beliebiger geworden.
Wenn es um das Thema Einheit geht, ist er ganz nah bei Thorsten Dietz. Sätze wie „Wir bekehren uns täglich neu zu Christus und sagen uns von Polarisierung und Negativ-Impulsen in uns los“ oder „Wir bekehren uns täglich neu zu „Christus in dem anderen“ und „glauben einander den Glauben als zentrales Leitmotiv unseres Handelns“ wurden von Eggers auf dem EAD-Symposium „Verbindende Glaubensschätze“ im Dezember 2022 in Bad Blankenburg vertreten (siehe auch der Artikel von Thomas Jeising „ Lasset uns Einheit machen? Eine Antwort an Ulrich Eggers“, https://bibelbund.de/2021/04/lasset-uns-einheit-machen/).
Auch wohl nicht zufällig, dass das Thema gerade jetzt in dieser Weise aufgegriffen wird. Ist es doch das Konfliktthema derzeit im Bund Freier Evangelischer Gemeinden, dass von der Bundesleitung gerne im Sinne von Eggers unter den Teppich gekehrt werden soll. Ganz im Sinn von Peters Anmerkung „ Sich gegenseitig ausschliessende Überzeugungen sind doch nur zwei Pole auf einem Spektrum! Der Weg des Todes und der Weg des Lebens sind vielleicht doch ein und derselbe! Wir haben endlich den Minimalkonsens gefunden: Es braucht gar keinen mehr! Lass uns fröhlich ein gemeinsames Kumbaya anstimmen!“
Eine besondere Enttäuschung für mich ist Stephanus Schäl, Dozent für Altes Testament an der Bibelschule Brake. Er ist stellvertretender Sprecher des Konvents der Evangelischen Allianz in Deutschland und Teil der EAD-Mitgliederversammlung. Seine verniedlichende und relativierende Aussage, wie wir wohl in 20 Jahren auf diese konfliktreiche Zeit zurückblicken werden, kann man nur kopfschüttelnd wahrnehmen: „Ich glaube, wir schauen entspannter zurück, so wie wir jetzt auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, als die charismatische Bewegung aufkam. Heute schmunzelt man und ärgert sich ein bisschen.“
Übrigens hat auch Markus Till in seinem Blog die Diskussion zwischen Thorsten Dietz und Stephanus Schäl in einem lesenswerten Beitrag kommentiert (https://blog.aigg.de/?p=7114). In Markus Tills Beitrag wird noch einmal deutlich, wie toxisch die Theologie eines Thorsten Dietz ist und wie desorientiert das Gedankengut eines Ulrich Eggers ist.
Ich stimme Markus Till zu, wenn er schreibt:
„Wo progressive Sexualethik in einer bislang konservativen Gemeinde Raum gewinnt, da gibt es auf Dauer nur 2 Möglichkeiten: Entweder setzt sich eine der beiden Positionen durch. Oder es muss irgendeine Form von Trennung geben. Grenzenlose Einheit ist gerade auch bei Progressiven unmöglich, wenn es um die Sexualethik geht.“
Danke Udo für deine Rückmeldung. Als Schweizer ist mir das deutsche Feld nicht in der gleichen Tiefe bekannt wie ihnen. Jedenfalls habe ich Herr Eggers meinen Artikel zugestellt und Freue mich, wenn eine Rückmeldung kommen sollte.
…und auch ein sehr interessanter Artikel im Bibelbund. Danke für den Hinweis.
Danke, Peter, für diese differenzierenden Gedanken, in denen natürlich, aber wohl auch naturnotwendig etwas erschwerend hinzukommt, dass das Phänomen „Gamalielrat“ (oder auch ‑strategie) per se, also im historischen/neutestamentlichen Kontext und als “allgemeine Lebensweisheit“, vermischt wird mit konkreten heutigen Diskussionsfronten, in denen Gamaliel als Kronzeuge (vielleicht für die eigene Sicht) aufgerufen wird. Aber auch wenn du diese beiden Ebenen nicht puristisch trennst (vielleicht gar nicht trennen kannst, solange du nicht ins völlig Abstrakte abdriften willst), steigst du doch schon stark auf die Metaebene gegenüber heutigen Konflikten ein und bringst überaus Erhellendes zutage, sehr pointiert zusammengefasst.
Ich empfinde es auch so, wie etliche Kommentatoren es zum Ausdruck bringen: Diese Impulse helfen immens zur eigenen Meinungsbildung. Mit anderen Worten: Durch die Schule dieses bibelzentrierten und differenzierenden Denkens sollten zunehmend mehr Menschen gehen, die die Bibel in der Vergangenheit doch oft eher „flächig“ bzw. eindimensional gelesen haben.
Dies ist ein überaus konstruktiver Diskussionsbeitrag zum zugrundeliegenden Meta-Thema „Einheit in Vielfalt“. Danke!
Herzlichen Dank, Christian, für deine Rückmeldung!
Vielen Dank für deine Arbeit und die Veröffentlichung!
Der Rat des Gamaliel dürfte heute von einem gläubigen Christen auch schon deswegen nicht als Option andern gepredigt werden, weil ja Gamaliel offensichtlich nicht Jesus-gläubig war, und er sich für uns als „Nachhinein-Betrachter“ deshalb disqualifiziert hat.
Danke für den Aufschlussreichen Bericht.
Jonas
Lieber Peter Bruderer, der Artikel ist hervorragend geschrieben und belegt…
Kirchliche Laien und „neuevangelikale“ wie ich sind oft geneigt, auf diese bibelkonforme Pseudo-Einheitssoße entweder hereinzufallen oder sich — ungeistlich und schlecht zu fühlen. Ich bin heute froh, den Rat des Mordechai entgegensetzen zu können. Dankeschön.
Sylvia
Vielen Dank für’s Lesen und die Rückmeldung, Silvia!
Gut geschrieben, die Argumente kann ich nachvollziehen und der historische Exkurs ist sehr aufschlussreich. Für mich steht ausser Frage, dass “Einheit um der Einheit willen” kein bleibender Wert ist. Einheit ist nur dann gut, wenn sie auf Wahrheit basiert.
Vielen Dank Pasci. Sehe ich auch so.
Das habe ich gerade bei Facebook beim posten Ihres Artikels dazu geschrieben:
”Ein sehr langer aber unglaublich guter Artikel über die Entstehung von liberaler Theologie. Verbunden mit der Begründung der Empfehlung zu Wachsamkeit.“
Vielen Dank, Peter Bruderer, für diese gründlich aufgearbeiteten Informationen und Ihre Schlussfolgerungen daraus. Das hilft zu eigenen Verortung und beim nächsten Diskutieren.