Holy Bible? (5/6) — Auslegungsmethoden der modernen Bibelwissenschaft

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Die mod­erne Bibel­wis­senschaft hat in über zwei­thun­dertjähriger Forschung Meth­o­d­en entwick­elt, mit denen sie die Bibel im Ein­vernehmen mit der Ver­nun­ft auslegt. Diese Meth­o­d­en sind nicht grund­sät­zlich gut oder schlecht. Entschei­dend ist, nach welchen weltan­schaulichen Grund­sätzen man sie anwen­det. Um die mod­erne Bibel­wis­senschaft ein­er Beurteilung unterziehen zu kön­nen, muss man ihre Meth­o­d­en ken­nen. Diesem Ziel dient dieser fün­fte Teil.

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft arbeit­et mit der «his­torisch-kri­tis­chen Meth­ode». Der Begriff ste­ht für einen Meth­o­d­e­nap­pa­rat, welch­er der Unter­suchung von his­torischen Tex­ten dient. Die his­torisch-kri­tis­che Meth­ode bietet eine wis­senschaftliche Vorge­hensweise, um Texte zu unter­suchen, seien es die Werke griechis­ch­er Philosophen oder die Büch­er der Bibel.

Was heisst «historisch-kritisch»?

Das Dop­pelad­jek­tiv «his­torisch-kri­tisch» weist auf zwei Annah­men hin, die der Meth­ode zugrunde liegen:

Die Meth­ode ist in dem Sinn his­torisch, als sie besagt, man müsse sich in die his­torische Sit­u­a­tion ver­set­zen, in welch­er die bib­lis­chen Texte ent­standen. Für die bib­lis­chen Texte wird eine vielschichtige Vorgeschichte ver­mutet. Es wird davon aus­ge­gan­gen, dass in einem lan­gen Prozess mündliche und schriftliche Vor­for­men der bib­lis­chen Texte ent­standen, bis sie schliesslich zu den Tex­ten wur­den, wie sie in unseren heuti­gen Bibelaus­gaben ste­hen. Die Vorgeschichte der Bibel­texte wird mit den Mit­teln der Lit­er­arkri­tik, der Über­liefer­ungs­geschichte und anderen Meth­o­d­en rekon­stru­iert, die ich in diesem Teil vorstelle. Auf diese Weise wird ver­sucht, Gewis­sheit darüber zu erlan­gen, welche mündlichen Tra­di­tio­nen und schriftlichen Quellen den bib­lis­chen Tex­ten zugrunde liegen. Eine mündliche Tra­di­tion kann eine Erzäh­lung aus dem Leben der Glaubensväter Israels sein, die von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion von den Eltern den Kindern weit­ergegeben wurde, bis es zu ein­er Ver­schriftlichung kam. Schriftliche Quellen kön­nen Aufze­ich­nun­gen von Propheten oder Doku­mente aus dem Umfeld von Königshöfen sein, die den Ver­fassern der bib­lis­chen Schriften zugänglich waren.

Die Meth­ode ist insofern kri­tisch, als sie die Bibel mit den Mit­teln der Ver­nun­ft auslegt. Man will kri­tisch unter­schei­den zwis­chen den ursprünglichen Ereignis­sen ein­er­seits und den bib­lis­chen Bericht­en, die sich darauf beziehen, ander­seits. Es wird zum Beispiel fest­gestellt, dass in den Samuel­büch­ern Davids grandios­er Sieg über Goli­at berichtet wird. Hier wird kri­tisch gefragt, ob der bib­lis­che Bericht his­torisch ist. Ste­ht vielle­icht gar kein geschichtlich greif­bares Ereig­nis dahin­ter? Ist das möglicher­weise eine alte Helden­saga, die sich schon die Kanaan­iter weit­er­erzählten? In der altkirch­lichen und mit­te­lal­ter­lichen Bibelausle­gung ging man von der his­torischen Ver­lässlichkeit der bib­lis­chen Schriften aus. Die Fünf Büch­er Mose waren das Werk des Mose, die Evan­gelien gaben ver­lässlich über Leben und Werk Jesu Auskun­ft. Zweifel an der Ver­lässlichkeit der Bibel gab es nur vere­inzelt. Das änderte sich im 18. Jahrhun­dert mit der Entste­hung der his­torisch-kri­tis­chen Auslegungsmethode.

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft geht aus wis­senschaftlichen und weltan­schaulichen Über­legun­gen auf kri­tis­che Dis­tanz zur tra­di­tionellen Ausle­gung. Bis zum Aufkom­men der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft ging man davon aus, dass für die rechte Ausle­gung der Heili­gen Schrift eine spezielle «bib­lis­che Hermeneu­tik» («hermeneu­ti­ca sacra») notwendig sei. Der Begriff sagt aus, dass die Bibel nach ihren eige­nen Regeln und stets im Glauben aus­gelegt wer­den muss. Die mod­erne Bibel­wis­senschaft hat dieses Prinzip aufgegeben und unter­sucht mit den Meth­o­d­en der Kri­tik die Bibel wie jeden anderen antiken Text.

Fol­gt man den Regeln der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft, ist der Wahrheits­ge­halt eines bib­lis­chen Texts nur insofern annehm­bar, als er durch die kri­tis­che Ver­nun­ft nachvol­lziehbar ist. Im Fol­gen­den stelle ich vier der haupt­säch­lichen Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft vor und füge erste Bew­er­tun­gen aus mein­er Sicht ein.

Literarkritik – die Quellen erforschen

Die Meth­ode der Lit­er­arkri­tik (auch lit­er­arische Analyse genan­nt) will die lit­er­arischen (schriftlichen) Quellen erforschen, die den bib­lis­chen Tex­ten zugrunde liegen. Sie will dadurch Aus­sagen machen kön­nen, wie die Texte ent­standen und wie sie zu uns kamen.

Die lit­er­arische Analyse spielte schon in den ersten Jahrhun­derten bei den Kirchen­vätern eine Rolle. So wurde nach der Ver­fasser­schaft der Evan­gelien gefragt und fest­gestellt, dass es beträchtliche Unter­schiede zwis­chen den Bericht­en über Jesus gab. Der Kirchen­vater Ori­genes hielt dafür, dass es Wider­sprüche zwis­chen den Evan­gelien gibt, während Augusti­nus die Har­monie der Evan­gelien nachzuweisen suchte. Als wis­senschaftliche Diszi­plin ent­stand die Lit­er­arkri­tik erst in nachre­for­ma­torisch­er Zeit.

Die Lit­er­arkri­tik geht davon aus, dass die meis­ten bib­lis­chen Schriften nicht auf einen einzi­gen Ver­fass­er zurück­ge­hen, son­dern ihre gegen­wär­tige Gestalt ein­er kom­plizierten Entste­hungs­geschichte ver­danken. So wird bei den Evan­gelien angenom­men, dass hin­ter den Ver­fassern jew­eils eine «Gemein­schaft» stand. Im Fall des Marku­se­van­geli­ums gehen viele Forsch­er davon aus, dass Markus Teil ein­er urkirch­lichen Gemein­schaft war, die in der Forschung «markinis­che Gemeinde» genan­nt wird. Markus habe für diese Gemeinde sein Evan­geli­um geschrieben und sei the­ol­o­gisch von ihr bee­in­flusst gewe­sen. Allerd­ings gibt es für diese «Gemeinde» keinen einzi­gen his­torischen Beleg.

Der Lit­er­arkri­tik­er befasst sich akribisch mit dem Bibel­text. Durch das genaue Lesen des Bibel­texts in der Ursprache will er her­aus­find­en, wo der Ver­fass­er seine Infor­ma­tio­nen her hat­te. So wird darauf geachtet, welche Worte ver­wen­det wer­den, ob es gedankliche Ein­schübe in den Text gibt, ob es Wieder­hol­un­gen oder Wider­sprüche gibt und ob der Stil darauf hin­weist, dass alter Stoff ver­ar­beit­et wurde. Die lit­er­arische Arbeit am Bibel­text ist unverzicht­bar für eine gründliche Ausle­gung, schliesslich will der Text ern­stgenom­men wer­den. Die Deu­tung der Ergeb­nisse kann dann in ganz unter­schiedliche Rich­tung gehen, je nach dem, ob man dem Text mit einem Grund­ver­trauen oder mit Zweifel begegnet.

Auf der einen Seite find­en evan­ge­likale Ausleger eine Fülle von Hin­weisen, die dafür sprechen, dass die Evan­gelien his­torisch glaub­würdig sind. Ins­beson­dere die Pas­sions­berichte weisen eine hohe inhaltliche und chro­nol­o­gis­che Übere­in­stim­mung auf. Das lässt darauf schliessen, dass schon rel­a­tiv früh eine schriftlich fix­ierte Über­liefer­ung vorgenom­men wurde. Je früher eine schriftliche Fix­ierung von Tat­en und Worten Jesu vorgenom­men wurde, desto ver­lässlich­er sind die Evan­gelien von einem geschichtlichen Stand­punkt aus gesehen.

Auf der anderen Seite glauben kri­tis­che Forsch­er mit den Mit­teln der Lit­er­arkri­tik «echte» von «unecht­en» Jesus­worten unter­schei­den zu kön­nen. Die «echt­en» Jesus­worte seien jene, die sich direkt auf Jesus zurück­führen lassen. Daneben gäbe es viele «unechte» Worte, die Jesus von der Urkirche nachträglich in den Mund gelegt wor­den oder leg­en­den­haft ent­standen seien. Einigkeit darüber, welche Jesus­worte «echt» sind und welche nicht, gibt es unter den Vertretern der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft nicht.

Überlieferungsgeschichte – Traditionen auf der Spur

Die Über­liefer­ungs­geschichte ist eine Weit­er­en­twick­lung der Lit­er­arkri­tik. Während die Lit­er­arkri­tik nach den schriftlichen Quellen fragt, der­er sich die Ver­fass­er der bib­lis­chen Schriften bedi­en­ten, will die Über­liefer­ungs­geschichte den mündlichen Vor­for­men eines Bibel­texts auf die Spur kom­men. Sie geht von der Annahme aus, dass den bib­lis­chen Tex­ten ver­schiedene mündliche Über­liefer­un­gen und bes­timmte the­ol­o­gis­che Tra­di­tio­nen voraus­gin­gen. Sie will zum Beispiel unter­suchen, ob die Geschicht­en der Glaubensväter im ersten Buch Mose auf mündlichen Leg­en­den aufbauen.

Das Auf­spüren von mündlichen Über­liefer­ungsstof­fen ist stark von den weltan­schaulichen Grund­sätzen bes­timmt, denen sich der Ausleger verpflichtet fühlt. Das gilt ins­beson­dere für das Alte Tes­ta­ment, das während eines ver­gle­ich­sweisen lan­gen Zeitraums ent­stand. In gewis­sen Fällen kann die Herkun­ft eines Textes erhellt wer­den, in den meis­ten Fällen jedoch kön­nen nur Ver­mu­tun­gen angestellt wer­den. Die mod­erne Bibel­wis­senschaft war im 19. Jahrhun­dert noch sehr zuver­sichtlich, jeden Satz und jedes Wort ein­er bes­timmten Ursprungssi­t­u­a­tion oder Über­liefer­ungss­chicht zuord­nen zu kön­nen. Heute ist man zurück­hal­tender gewor­den. Geblieben ist in der akademis­chen Welt eine tief­greifende Skep­sis gegenüber der Echtheit von bib­lis­chen Stof­fen. Bei vie­len alttes­ta­mentlichen Tex­ten geht die kri­tis­che Forschung davon aus, dass ihr Ursprung in alten baby­lonis­chen oder kanaani­tis­chen Sagen liegen. Diese seien im Laufe der Zeit zu «Sagenkränzen» weit­er­en­twick­elt und schliesslich in ganze Erzäh­lkom­plexe einge­fügt wor­den. Je länger dieser Prozess gedacht wird, desto geringer ist der his­torische Wert, der den Tex­ten beigelegt wird.

In der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft wird den ver­muteten schriftlichen und mündlichen Vor­for­men des Bibel­texts grosse Aufmerk­samkeit geschenkt. Viele gehen kri­tisch hin­ter den bib­lis­chen Text, weil sie diesen anzweifeln und glauben, dass die Wahrheit eher in den Vor­for­men steckt. Für evan­ge­likale Ausleger hinge­gen ist der kanon­is­che (von der Kirche anerkan­nte) End­text mass­gebend, so dass sie den ver­schiede­nen Über­liefer­ungsvorgän­gen weniger Bedeu­tung beimessen.

Formgeschichte – Literarische Gattungen unterscheiden

Die For­mgeschichte befasst sich mit den sprach­lichen Aus­druck­sweisen und der the­ol­o­gis­chen Bedeu­tung von lit­er­arischen Gat­tun­gen. Sie wird darum auch Gat­tungs­analyse genan­nt. Eine Gat­tung ist ein sprach­lich­es Muster, nach dem ein Text aufge­baut ist. Wir haben es täglich mit unter­schiedlichen Gat­tun­gen zu tun, wie Geschäfts­briefe, Romane, Gedichte, Geburt­sanzeigen und vie­len anderen lit­er­arischen For­men. Jede Gat­tung fol­gt ein­er für sie typ­is­chen Form. So begin­nt ein Geschäfts­brief mit ein­er formellen Anrede. Ein Gedicht erken­nen wir an der rhyth­mis­chen Sprache oder weil es sich reimt. Jede Gat­tung hat ihre eigene Art zu kom­mu­nizieren und ihr Ort, wo sie hinge­hört. Es käme nie­man­dem in den Sinn, ein Bewer­bungss­chreiben in Form eines Gedichts zu verfassen.

Dass wir Texte ver­ste­hen, weil uns ihre For­men ver­traut sind, gilt auch für die Bibel, in der unter­schiedlich­ste Gat­tun­gen Ver­wen­dung find­en. Ein Psalm lebt vom hebräis­chen Par­al­lelis­mus mit seinen Spielarten und dem reichen Klang ein­er ein­fachen Sprache. Ein Gle­ich­nis will als ver­gle­ichende Erzäh­lung inter­pretiert wer­den, die eine bes­timmte Wahrheit anschaulich macht. Ein Brief fol­gt anderen Regeln lit­er­arisch­er Aus­druck­sweise als ein prophetis­ches Buch.

Lit­er­arische Gat­tung zu erforschen ist ein lohnen­des Unternehmen. Richtig angewen­det wer­fen sie ein helles Licht auf die Bedeu­tung bib­lis­ch­er Texte. Sie kön­nen Zugang zu ganzen bib­lis­chen Büch­ern schaffen.

Die For­mgeschichte ist im Wis­senschafts­be­trieb eng ver­bun­den mit der Über­liefer­ungs­geschichte. In bei­den Diszi­plinen wird davon aus­ge­gan­gen, dass sowohl die mündliche als auch die schriftliche Weit­er­gabe bib­lis­ch­er Stoffe bes­timmte For­men annah­men. Bei­de Meth­o­d­en sind uner­lässlich für die his­torisch-kri­tis­che Ausle­gung und auch viele Evan­ge­likale schätzen die For­mgeschichte, um bib­lis­che Texte bess­er zu verstehen.

Aus der for­mgeschichtlichen Betra­ch­tung schliessen viele Vertreter der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft, dass die bib­lis­chen Texte his­torisch nicht ver­lässlich seien. Hin­ter dieser Auf­fas­sung ste­ht die Grundüberzeu­gung, dass bes­timmte «Bedürfnisse» bes­timmte Gat­tun­gen und Texte her­vor­bracht­en. So habe das Bedürf­nis der ersten Chris­ten­heit nach ein­er Klärung des Sab­bat­ge­bots beispiel­sweise die Geschichte vom «Ähren­raufen am Sab­bat» her­vorge­bracht (Mk 2,23–28). Die Jünger Jesu raufen Ähren am Sab­bat, was die Geset­zeshüter auf den Plan ruft. Der Satz «Der Men­schen­sohn ist Herr über den Sab­bat», mit dem die Geschichte endet, gehe nicht auf Jesus zurück. Die Geschichte vom Ähren­raufen habe sich so gar nie zuge­tra­gen, jeden­falls nicht im berichteten Kon­text. Sie sei von Markus «geschaf­fen» wor­den, um dem Bedürf­nis der ersten Chris­ten nach ein­er Klärung der Sab­bat­frage nachzukom­men. «Geschaf­fen» heisst hier so viel wie «erfun­den». Nach diesem for­mgeschichtlichen Grund­satz wer­den viele Evan­gelien­texte aus­gelegt. For­mgeschichtliche und über­liefer­ungs­geschichtliche Über­legun­gen führen so dazu, dass man den Evan­gelien ihre his­torische Ver­lässlichkeit abspricht.

Redaktionsgeschichte – Gute Nachrichten weiterverarbeiten

Wenn ein Nachricht­en­magazin wie der «Spiegel» einen Hin­ter­grun­dar­tikel zu einem aktuellen The­ma ver­fasst, wird von einem Jour­nal­is­ten­team eine Fülle von Mate­r­i­al ver­ar­beit­et. Infor­ma­tio­nen von Nachricht­e­na­gen­turen, Recherchen vor Ort, Inter­views mit Gewährsleuten, Beiträge aus Fach­lit­er­atur und andere Infor­ma­tion­squellen dienen als Grund­lage. Auf der Redak­tion wer­den die Infor­ma­tio­nen gesam­melt und geord­net, unnötige aus­geschieden, wichtige über­prüft und für die Leser­schaft aufbereitet.

Zahlre­iche bib­lis­che Büch­er sind auf ähn­liche Weise ent­standen. In eini­gen Fällen wer­den die Quellen, die zur Nieder­schrift beige­zo­gen wur­den, offen­gelegt. Lukas erwäh­nt in der Ein­führung zu seinem Dop­pel­w­erk (Luka­se­van­geli­um und Apos­telgeschichte), dass er aus­gedehnte Recherchen unter­nahm, um seinen Bericht über Jesus zu erstellen. Die Ver­fass­er der Chronikbüch­er führen Dutzende von Quellen an, der­er sie sich bedi­en­ten, um ihr Geschichtswerk zu ver­fassen (z.B. 1Chr 5,17; 9,1; 29,29).

Die Redak­tion­s­geschichte ist eine der haupt­säch­lichen Arbeitsmeth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft. Sie befasst sich mit redak­tionellen Vorgän­gen, die zur Nieder­schrift der bib­lis­chen Büch­er führten. Es lohnt sich, den etwas anspruchsvollen Text von Udo Schnelle aufmerk­sam zu lesen:

«Die Redak­tion­s­geschichte geht von der grundle­gen­den Ein­sicht aus, dass uns die Über­liefer­ung des Neuen Tes­ta­ments in ihrer Let­zt­gestalt durch die neutes­ta­mentlichen Schrift­steller (End-Redak­toren) ver­mit­telt ist. Deshalb fragt sie nach den the­ol­o­gis­chen und lit­er­arischen Gesicht­spunk­ten, unter denen die einzel­nen Autoren ihr Mate­r­i­al aus­gewählt und zusam­mengestellt haben. Sie arbeit­et das Beziehungs­ge­flecht her­aus, das inner­halb eines Werkes zwis­chen den einzel­nen Tex­ten (Intra­tex­tu­al­ität) und zwis­chen einzel­nen Schriften (Inter­tex­tu­al­ität) beste­ht. Die Redak­tion­s­geschichte unter­sucht dem­nach Texte hin­sichtlich ihrer Bear­beitung und Kom­po­si­tion durch den Endredak­tor, um zur Inter­pre­ta­tion des gesamten Textes zu gelan­gen. Ihr umfassendes Ziel liegt in der Angabe des his­torischen und the­ol­o­gis­chen Stan­dorts des neutes­ta­mentlichen Ver­fassers.»[1]

Schon die Kirchen­väter beschäftigten sich mit redak­tionellen Vorgän­gen. Der Kirchen­his­torik­er Euse­bius und die Kirchen­väter Irenäus und Augusti­nus befassten sich mit den Unter­schieden zwis­chen den Evan­gelien. So inter­essierte die Frage, weshalb das Johan­ne­se­van­geli­um sich von den Syn­op­tik­ern (Mt, Mk, Lk) unter­schied. In der mit­te­lal­ter­lichen und der refor­ma­torischen Bibelausle­gung spiel­ten redak­tion­s­geschichtliche Fragestel­lun­gen keine nen­nenswerte Rolle. Man nahm zwar die Unter­schiede zwis­chen den Evan­gelien wahr, aber sie stell­ten kein Prob­lem dar, weil man davon aus­ging, dass sie sich nicht wider­sprachen, son­dern ergänzten. Als eigene Diszi­plin entwick­elte sich die Redak­tion­s­geschichte ab Mitte des 20. Jahrhun­derts als Ergänzung zur Formgeschichte.

Wie die anderen Meth­o­d­en, welche die mod­erne Bibel­wis­senschaft anwen­det, ist auch die Redak­tion­s­geschichte ein zweis­chnei­di­ges Schw­ert. Sie ist ein hil­fre­ich­es Arbeitsin­stru­ment, wenn es darum geht, bib­lis­che Texte auf ihre Eige­nart und auf die the­ol­o­gis­che Absicht ihrer Ver­fass­er zu unter­suchen. Sie ver­mag den spez­i­fis­chen Beitrag des Ver­fassers sowie Absicht und Nutzen seines Texts her­auszuar­beit­en. Dadurch kann sie die Bedeu­tung des Texts, sowohl für die Erstempfänger als auch uns heute, entschei­dend her­vortreten lassen.

Die Redak­tion­s­geschichte ist dage­gen prob­lema­tisch, wenn davon aus­ge­gan­gen wird, dass die Unter­schiede zwis­chen den Evan­gelien einem man­gel­nden Inter­esse an his­torisch­er Wahrheit geschuldet sind. Viele Vertreter der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft begeg­nen den Evan­gelien mit sys­tem­a­tis­chem Zweifel. Sie gehen davon aus, dass das the­ol­o­gis­che Inter­esse der Ver­fass­er zu Ungun­sten ein­er wahrheits­ge­treuen Darstel­lung über­wog, und sprechen den Evan­gelien die his­torische Glaub­würdigkeit ab.

Ein Beispiel zum Schluss

Nach zwei­hun­dertjähriger Forschung ist es unüberse­hbar, nicht zulet­zt an leeren Kirchen­bänken: Die rig­orose Anwen­dung der Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft haben in vie­len Fällen den Grundbe­stand des evan­ge­lis­chen Glaubens aufgelöst oder zumin­d­est stark in Zweifel gezo­gen. Das Übel aber liegt nicht in der Meth­ode, son­dern in ihrer Anwen­dung. Ich möchte am Beispiel von Phil 2,5–11 zeigen, dass lit­er­arkri­tis­che und über­liefer­ungs­geschichtliche Über­legun­gen einen Text erhellen kön­nen, wenn man diese Meth­o­d­en mit Augen­mass anwen­det. Dabei möchte ich bewusst ein­mal etwas anspruchsvoller im Inhalt sein, um zu zeigen, dass eine sachgerechte Ausle­gung der Bibel sorgfältige Arbeit, Sachken­nt­nis und Geschick ver­langt.[2] Der Text lautet:

«Seid untere­inan­der so gesin­nt, wie es dem Leben in Chris­tus Jesus entspricht: Er war Gott gle­ich, hielt aber nicht daran fest, Gott gle­ich zu sein, son­dern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Men­schen gle­ich. Sein Leben war das eines Men­schen; er erniedrigte sich und war gehor­sam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen ver­liehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Him­mel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beu­gen vor dem Namen Jesu und jed­er Mund beken­nt: Jesus Chris­tus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters» (Phil 2,5–11).

Phil 2,5–11 ist ein ein­drück­lich­es Zeug­nis für den Glauben der Urkirche an Jesus als Sohn Gottes und Herr der Welt. Es herrscht in der the­ol­o­gis­chen Wis­senschaft rel­a­tive Einigkeit darüber, dass Paulus in diesem Text einen vorgegebe­nen Inhalt auf­greift. All­ge­mein wird davon aus­ge­gan­gen, dass der «Chris­tushym­nus», wie dieser Text genan­nt wird, sehr früh im urchristlichen Gottes­di­enst beken­nt­nis­ar­tig gesun­gen oder rez­i­tiert wurde. Ob er nur in Philip­pi ver­wen­det wurde und ob Paulus ihn ganz oder nur teil­weise zitiert oder ihn bear­beit­et, kann nur ver­mutet wer­den. Auf die Ver­wen­dung eines vorgegebe­nen Inhalts weisen die fol­gen­den lit­er­arkri­tis­chen und über­liefer­ungs­geschichtlichen Beobach­tun­gen hin:

Erstens legt es die Analyse des Kon­texts nahe, dass 2,5–11 in den grösseren Abschnitt von 2,1–18 hineingeschoben wurde. Es geht in 2,1–18 um die Ein­heit der Kirche in Philip­pi und das rechte Ver­hal­ten als christliche Gemein­schaft. Paulus mah­nt in 2,1–4 Einigkeit an und ruft zur Demut auf. 2,5 schlägt die Brücke zum Chris­tushym­nus, indem Paulus darauf hin­weist, dass Jesus mit seinem Leben Vor­bild für christlich­es Ver­hal­ten ist. 2,6–11 ist der eigentliche Hym­nus. 2,12ff nimmt den Gedanken wieder auf, dass die Philip­per dem Vor­bild Jesu fol­gen und miteinan­der als auf Chris­tus bezo­gene Gemein­schaft funk­tion­ieren sollen. Streng genom­men hätte Paulus von 2,4 direkt zu 2,12ff gehen kön­nen und wir wür­den nichts ver­mis­sen. Das weist darauf hin, dass 2,5–11 ein in das Argu­ment von 2,1–18 hineingeschoben­er Abschnitt ist. Weltan­schauliche Über­legun­gen kom­men bei dieser Fol­gerung nicht zum Tra­gen, es han­delt sich um bloss­es aufmerk­sames Lesen des Textes.

Zweit­ens weist die gehobene Prosa von 2,6–11 darauf hin, dass Paulus auf einen vorgegebe­nen Inhalt zurück­greift. 2,6–11 hebt sich sprach­lich stark von 2,1–4 und 2,12ff sowie dem Rest des Briefes ab. Beim aufmerk­samen Lesen ist sofort der verän­derte Sprach­duk­tus fest­stell­bar. Die Sätze sind inhaltlich gedrängt und auf­fal­l­end rhyth­misch. Die sprach­liche Analyse ergibt «eine sehr weit­ge­hende sprach­liche Stil­isierung mit Verzicht auf alles, was nicht unbe­d­ingt für die Aus­sage erforder­lich ist (z.B. auf die Artikel), und eine beein­druck­ende Durch­dachtheit des Textes sowie eine Fülle stilis­tis­ch­er Fig­uren».[3] Bei dieser Fol­gerung sind also for­mgeschichtliche Über­legun­gen zum Tra­gen gekom­men, weil davon aus­ge­gan­gen wer­den kann, dass gesproch­ene Beken­nt­nisse im urchristlichen Gottes­di­enst eine andere – eben stil­isierte – Sprach­form haben als Alltagssprache.

Drit­tens nimmt 2,10–11 («damit alle im Him­mel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beu­gen vor dem Namen Jesu und jed­er Mund beken­nt») auf Jes 45,23 Bezug («Vor mir wird jedes Knie sich beu­gen, und jede Zunge wird bei mir schwören»). Die sprach­liche Analyse ergibt, dass die Vor­lage für 2,10–11 die hebräis­che Bibel ist, während Paulus in seinen Briefen meis­tens aus der Sep­tu­ag­in­ta (der griechis­chen Über­set­zung des Alten Tes­ta­ments) zitiert. Die Abwe­ichung von der Gewohn­heit spricht für die Über­nahme eines fest­gelegten Inhalts.

Diese und weit­ere Beobach­tun­gen lassen den Schluss zu, dass Paulus einen Hym­nus zitiert, der in der Urkirche mündlich tradiert wurde und möglicher­weise in schriftlich­er Form vor­lag. Wenn diese Auf­fas­sung kor­rekt ist, haben wir mit Phil 2,5–11 den Nach­weis für eine frühe Aus­bil­dung ein­er hohen Chris­tolo­gie. Die «hohe Chris­tolo­gie» befasst sich mit den Hoheit­stiteln Jesu wie «Herr» oder «Men­schen­sohn» und damit mit der Frage, ob Jesus von Anfang an als göt­tlich­er Erlös­er gedacht wurde oder ob sich diese Sicht erst im Laufe der Zeit ergab und im Wesentlichen eine nachöster­liche Entwick­lung ist. Beson­ders auf­fäl­lig ist die Verbindung von Phil 2,10–11 mit Jes 45. Jes 45,21–23 ist ein­er der haupt­säch­lichen monothe­is­tis­chen Texte des Alten Tes­ta­ments. Er stellt den Gott Israels gegenüber den Göt­tern Babels als den wahren und einzi­gen Gott dar, vor dem sich jedes Knie beu­gen wird. Dieser Text wird im Chris­tushym­nus auf Jesus bezo­gen, so dass Jesus dieselbe Stel­lung zugeschrieben wird wie Gott. Wenn der Philip­per­brief um 60 n.Chr. geschrieben wurde und Paulus auf einen bekan­nten Hym­nus zurück­greift, war eine hohe Chris­tolo­gie in der Urkirche schon in den ersten Jahrzehn­ten nach Pfin­g­sten stark ver­bre­it­et. Das bedeutet, dass die Sicht auf Jesus als Gottes­sohn und Herr keine Erfind­ung der zweit­en oder drit­ten Gen­er­a­tion von Chris­ten war, son­dern dass sie von Anfang an zum Grundbe­stand des Glaubens gehörte.

Ergebnis

Am Beispiel von Phil 2,5–11 zeigt sich, dass die lit­er­arische Analyse erhe­blich zur Erhel­lung bib­lis­ch­er Texte beitra­gen kann und für die Ausle­gung unverzicht­bar ist. Die Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft sind also nicht entwed­er gut oder schlecht. Viele Evan­ge­likale Ausleger arbeit­en bewusst mit ihnen. Wenn sie mit Augen­mass angewen­det wer­den und sich der Zweifel nicht zum Richter über den Bibel­text erhebt, sind sie wertvoll.

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Bilder: iStock


Fuss­noten:
[1] Schnelle, Ein­führung in die neutes­ta­mentliche Exegese, 163–164.
[2] Vgl. für das Fol­gende Neu­dor­fer, Lit­er­arische Analyse, 254f.
[3] Ebd., 255.

4 Comments
  1. Micha 3 Jahren ago
    Reply

    Extrem zuge­spitzt: Die Meth­o­d­en sind also nur dann gut, wenn dem Her­rn Hard­meier ihre Resul­tate auch gefallen?

    • Paul Bruderer 3 Jahren ago
      Reply

      Darf ich ihm das im post-serien-Inter­view mal fragen?

    • Andy 3 Jahren ago
      Reply

      Ich finde es nicht zuge­spitzt. Bei der Auseinan­der­set­zung mit den Meth­o­d­en lässt er es offen, zu welchem Resul­tat der Leser let­ztlich kommt. Habe ich eine grund­sät­zlich zweifel­nde Hal­tung gegenüber den Absicht­en der Redak­tion oder gehe ich eher vom Ver­ständ­nis aus, dass sie sich der Wahrheit gegenüber verpflichtet sahen. Gehe ich bei der For­mgeschichte davon aus, dass die Schreiber — wenn nötig — ein wenig geschum­melt haben, um Span­nun­gen aufheben zu kön­nen, wur­den Span­nun­gen ste­hen gelassen oder gab es tat­säch­lich eine Auflö­sung, die nicht “erfun­den” wurde. Im Kern geht es doch auch um die Frage: Ist mir die Beurteilung möglich, einen Text einem “Bedürf­nis” zuzuord­nen, ohne dass es der Schreiber selb­st for­muliert? Wenn er es nicht for­muliert — wie soll ich es dann 2000 Jahre später tun? Wie oft unter­schieben wir heute einan­der Absicht­en, die nie da waren? Da finde ich die Grund­frage schon berechtigt, ob ich mit einem grund­sät­zlichen Zweifel oder mit einem grund­sät­zlichen Ver­trauen den Tex­ten gegenüber ste­he. Das kann jed­er für sich beurteilen, ohne dass Herr Hard­meier sein Gutze­ichen dahin­ter set­zen muss.

      • Martin Mächler 3 Jahren ago
        Reply

        Finde ich überzeu­gent argu­men­tiert, Andy!

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