Die moderne Bibelwissenschaft hat in über zweithundertjähriger Forschung Methoden entwickelt, mit denen sie die Bibel im Einvernehmen mit der Vernunft auslegt. Diese Methoden sind nicht grundsätzlich gut oder schlecht. Entscheidend ist, nach welchen weltanschaulichen Grundsätzen man sie anwendet. Um die moderne Bibelwissenschaft einer Beurteilung unterziehen zu können, muss man ihre Methoden kennen. Diesem Ziel dient dieser fünfte Teil.
Die moderne Bibelwissenschaft arbeitet mit der «historisch-kritischen Methode». Der Begriff steht für einen Methodenapparat, welcher der Untersuchung von historischen Texten dient. Die historisch-kritische Methode bietet eine wissenschaftliche Vorgehensweise, um Texte zu untersuchen, seien es die Werke griechischer Philosophen oder die Bücher der Bibel.
Was heisst «historisch-kritisch»?
Das Doppeladjektiv «historisch-kritisch» weist auf zwei Annahmen hin, die der Methode zugrunde liegen:
Die Methode ist in dem Sinn historisch, als sie besagt, man müsse sich in die historische Situation versetzen, in welcher die biblischen Texte entstanden. Für die biblischen Texte wird eine vielschichtige Vorgeschichte vermutet. Es wird davon ausgegangen, dass in einem langen Prozess mündliche und schriftliche Vorformen der biblischen Texte entstanden, bis sie schliesslich zu den Texten wurden, wie sie in unseren heutigen Bibelausgaben stehen. Die Vorgeschichte der Bibeltexte wird mit den Mitteln der Literarkritik, der Überlieferungsgeschichte und anderen Methoden rekonstruiert, die ich in diesem Teil vorstelle. Auf diese Weise wird versucht, Gewissheit darüber zu erlangen, welche mündlichen Traditionen und schriftlichen Quellen den biblischen Texten zugrunde liegen. Eine mündliche Tradition kann eine Erzählung aus dem Leben der Glaubensväter Israels sein, die von Generation zu Generation von den Eltern den Kindern weitergegeben wurde, bis es zu einer Verschriftlichung kam. Schriftliche Quellen können Aufzeichnungen von Propheten oder Dokumente aus dem Umfeld von Königshöfen sein, die den Verfassern der biblischen Schriften zugänglich waren.
Die Methode ist insofern kritisch, als sie die Bibel mit den Mitteln der Vernunft auslegt. Man will kritisch unterscheiden zwischen den ursprünglichen Ereignissen einerseits und den biblischen Berichten, die sich darauf beziehen, anderseits. Es wird zum Beispiel festgestellt, dass in den Samuelbüchern Davids grandioser Sieg über Goliat berichtet wird. Hier wird kritisch gefragt, ob der biblische Bericht historisch ist. Steht vielleicht gar kein geschichtlich greifbares Ereignis dahinter? Ist das möglicherweise eine alte Heldensaga, die sich schon die Kanaaniter weitererzählten? In der altkirchlichen und mittelalterlichen Bibelauslegung ging man von der historischen Verlässlichkeit der biblischen Schriften aus. Die Fünf Bücher Mose waren das Werk des Mose, die Evangelien gaben verlässlich über Leben und Werk Jesu Auskunft. Zweifel an der Verlässlichkeit der Bibel gab es nur vereinzelt. Das änderte sich im 18. Jahrhundert mit der Entstehung der historisch-kritischen Auslegungsmethode.
Die moderne Bibelwissenschaft geht aus wissenschaftlichen und weltanschaulichen Überlegungen auf kritische Distanz zur traditionellen Auslegung. Bis zum Aufkommen der modernen Bibelwissenschaft ging man davon aus, dass für die rechte Auslegung der Heiligen Schrift eine spezielle «biblische Hermeneutik» («hermeneutica sacra») notwendig sei. Der Begriff sagt aus, dass die Bibel nach ihren eigenen Regeln und stets im Glauben ausgelegt werden muss. Die moderne Bibelwissenschaft hat dieses Prinzip aufgegeben und untersucht mit den Methoden der Kritik die Bibel wie jeden anderen antiken Text.
Folgt man den Regeln der modernen Bibelwissenschaft, ist der Wahrheitsgehalt eines biblischen Texts nur insofern annehmbar, als er durch die kritische Vernunft nachvollziehbar ist. Im Folgenden stelle ich vier der hauptsächlichen Methoden der modernen Bibelwissenschaft vor und füge erste Bewertungen aus meiner Sicht ein.
Literarkritik – die Quellen erforschen
Die Methode der Literarkritik (auch literarische Analyse genannt) will die literarischen (schriftlichen) Quellen erforschen, die den biblischen Texten zugrunde liegen. Sie will dadurch Aussagen machen können, wie die Texte entstanden und wie sie zu uns kamen.
Die literarische Analyse spielte schon in den ersten Jahrhunderten bei den Kirchenvätern eine Rolle. So wurde nach der Verfasserschaft der Evangelien gefragt und festgestellt, dass es beträchtliche Unterschiede zwischen den Berichten über Jesus gab. Der Kirchenvater Origenes hielt dafür, dass es Widersprüche zwischen den Evangelien gibt, während Augustinus die Harmonie der Evangelien nachzuweisen suchte. Als wissenschaftliche Disziplin entstand die Literarkritik erst in nachreformatorischer Zeit.
Die Literarkritik geht davon aus, dass die meisten biblischen Schriften nicht auf einen einzigen Verfasser zurückgehen, sondern ihre gegenwärtige Gestalt einer komplizierten Entstehungsgeschichte verdanken. So wird bei den Evangelien angenommen, dass hinter den Verfassern jeweils eine «Gemeinschaft» stand. Im Fall des Markusevangeliums gehen viele Forscher davon aus, dass Markus Teil einer urkirchlichen Gemeinschaft war, die in der Forschung «markinische Gemeinde» genannt wird. Markus habe für diese Gemeinde sein Evangelium geschrieben und sei theologisch von ihr beeinflusst gewesen. Allerdings gibt es für diese «Gemeinde» keinen einzigen historischen Beleg.
Der Literarkritiker befasst sich akribisch mit dem Bibeltext. Durch das genaue Lesen des Bibeltexts in der Ursprache will er herausfinden, wo der Verfasser seine Informationen her hatte. So wird darauf geachtet, welche Worte verwendet werden, ob es gedankliche Einschübe in den Text gibt, ob es Wiederholungen oder Widersprüche gibt und ob der Stil darauf hinweist, dass alter Stoff verarbeitet wurde. Die literarische Arbeit am Bibeltext ist unverzichtbar für eine gründliche Auslegung, schliesslich will der Text ernstgenommen werden. Die Deutung der Ergebnisse kann dann in ganz unterschiedliche Richtung gehen, je nach dem, ob man dem Text mit einem Grundvertrauen oder mit Zweifel begegnet.
Auf der einen Seite finden evangelikale Ausleger eine Fülle von Hinweisen, die dafür sprechen, dass die Evangelien historisch glaubwürdig sind. Insbesondere die Passionsberichte weisen eine hohe inhaltliche und chronologische Übereinstimmung auf. Das lässt darauf schliessen, dass schon relativ früh eine schriftlich fixierte Überlieferung vorgenommen wurde. Je früher eine schriftliche Fixierung von Taten und Worten Jesu vorgenommen wurde, desto verlässlicher sind die Evangelien von einem geschichtlichen Standpunkt aus gesehen.
Auf der anderen Seite glauben kritische Forscher mit den Mitteln der Literarkritik «echte» von «unechten» Jesusworten unterscheiden zu können. Die «echten» Jesusworte seien jene, die sich direkt auf Jesus zurückführen lassen. Daneben gäbe es viele «unechte» Worte, die Jesus von der Urkirche nachträglich in den Mund gelegt worden oder legendenhaft entstanden seien. Einigkeit darüber, welche Jesusworte «echt» sind und welche nicht, gibt es unter den Vertretern der modernen Bibelwissenschaft nicht.
Überlieferungsgeschichte – Traditionen auf der Spur
Die Überlieferungsgeschichte ist eine Weiterentwicklung der Literarkritik. Während die Literarkritik nach den schriftlichen Quellen fragt, derer sich die Verfasser der biblischen Schriften bedienten, will die Überlieferungsgeschichte den mündlichen Vorformen eines Bibeltexts auf die Spur kommen. Sie geht von der Annahme aus, dass den biblischen Texten verschiedene mündliche Überlieferungen und bestimmte theologische Traditionen vorausgingen. Sie will zum Beispiel untersuchen, ob die Geschichten der Glaubensväter im ersten Buch Mose auf mündlichen Legenden aufbauen.
Das Aufspüren von mündlichen Überlieferungsstoffen ist stark von den weltanschaulichen Grundsätzen bestimmt, denen sich der Ausleger verpflichtet fühlt. Das gilt insbesondere für das Alte Testament, das während eines vergleichsweisen langen Zeitraums entstand. In gewissen Fällen kann die Herkunft eines Textes erhellt werden, in den meisten Fällen jedoch können nur Vermutungen angestellt werden. Die moderne Bibelwissenschaft war im 19. Jahrhundert noch sehr zuversichtlich, jeden Satz und jedes Wort einer bestimmten Ursprungssituation oder Überlieferungsschicht zuordnen zu können. Heute ist man zurückhaltender geworden. Geblieben ist in der akademischen Welt eine tiefgreifende Skepsis gegenüber der Echtheit von biblischen Stoffen. Bei vielen alttestamentlichen Texten geht die kritische Forschung davon aus, dass ihr Ursprung in alten babylonischen oder kanaanitischen Sagen liegen. Diese seien im Laufe der Zeit zu «Sagenkränzen» weiterentwickelt und schliesslich in ganze Erzählkomplexe eingefügt worden. Je länger dieser Prozess gedacht wird, desto geringer ist der historische Wert, der den Texten beigelegt wird.
In der modernen Bibelwissenschaft wird den vermuteten schriftlichen und mündlichen Vorformen des Bibeltexts grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Viele gehen kritisch hinter den biblischen Text, weil sie diesen anzweifeln und glauben, dass die Wahrheit eher in den Vorformen steckt. Für evangelikale Ausleger hingegen ist der kanonische (von der Kirche anerkannte) Endtext massgebend, so dass sie den verschiedenen Überlieferungsvorgängen weniger Bedeutung beimessen.
Formgeschichte – Literarische Gattungen unterscheiden
Die Formgeschichte befasst sich mit den sprachlichen Ausdrucksweisen und der theologischen Bedeutung von literarischen Gattungen. Sie wird darum auch Gattungsanalyse genannt. Eine Gattung ist ein sprachliches Muster, nach dem ein Text aufgebaut ist. Wir haben es täglich mit unterschiedlichen Gattungen zu tun, wie Geschäftsbriefe, Romane, Gedichte, Geburtsanzeigen und vielen anderen literarischen Formen. Jede Gattung folgt einer für sie typischen Form. So beginnt ein Geschäftsbrief mit einer formellen Anrede. Ein Gedicht erkennen wir an der rhythmischen Sprache oder weil es sich reimt. Jede Gattung hat ihre eigene Art zu kommunizieren und ihr Ort, wo sie hingehört. Es käme niemandem in den Sinn, ein Bewerbungsschreiben in Form eines Gedichts zu verfassen.
Dass wir Texte verstehen, weil uns ihre Formen vertraut sind, gilt auch für die Bibel, in der unterschiedlichste Gattungen Verwendung finden. Ein Psalm lebt vom hebräischen Parallelismus mit seinen Spielarten und dem reichen Klang einer einfachen Sprache. Ein Gleichnis will als vergleichende Erzählung interpretiert werden, die eine bestimmte Wahrheit anschaulich macht. Ein Brief folgt anderen Regeln literarischer Ausdrucksweise als ein prophetisches Buch.
Literarische Gattung zu erforschen ist ein lohnendes Unternehmen. Richtig angewendet werfen sie ein helles Licht auf die Bedeutung biblischer Texte. Sie können Zugang zu ganzen biblischen Büchern schaffen.
Die Formgeschichte ist im Wissenschaftsbetrieb eng verbunden mit der Überlieferungsgeschichte. In beiden Disziplinen wird davon ausgegangen, dass sowohl die mündliche als auch die schriftliche Weitergabe biblischer Stoffe bestimmte Formen annahmen. Beide Methoden sind unerlässlich für die historisch-kritische Auslegung und auch viele Evangelikale schätzen die Formgeschichte, um biblische Texte besser zu verstehen.
Aus der formgeschichtlichen Betrachtung schliessen viele Vertreter der modernen Bibelwissenschaft, dass die biblischen Texte historisch nicht verlässlich seien. Hinter dieser Auffassung steht die Grundüberzeugung, dass bestimmte «Bedürfnisse» bestimmte Gattungen und Texte hervorbrachten. So habe das Bedürfnis der ersten Christenheit nach einer Klärung des Sabbatgebots beispielsweise die Geschichte vom «Ährenraufen am Sabbat» hervorgebracht (Mk 2,23–28). Die Jünger Jesu raufen Ähren am Sabbat, was die Gesetzeshüter auf den Plan ruft. Der Satz «Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat», mit dem die Geschichte endet, gehe nicht auf Jesus zurück. Die Geschichte vom Ährenraufen habe sich so gar nie zugetragen, jedenfalls nicht im berichteten Kontext. Sie sei von Markus «geschaffen» worden, um dem Bedürfnis der ersten Christen nach einer Klärung der Sabbatfrage nachzukommen. «Geschaffen» heisst hier so viel wie «erfunden». Nach diesem formgeschichtlichen Grundsatz werden viele Evangelientexte ausgelegt. Formgeschichtliche und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen führen so dazu, dass man den Evangelien ihre historische Verlässlichkeit abspricht.
Redaktionsgeschichte – Gute Nachrichten weiterverarbeiten
Wenn ein Nachrichtenmagazin wie der «Spiegel» einen Hintergrundartikel zu einem aktuellen Thema verfasst, wird von einem Journalistenteam eine Fülle von Material verarbeitet. Informationen von Nachrichtenagenturen, Recherchen vor Ort, Interviews mit Gewährsleuten, Beiträge aus Fachliteratur und andere Informationsquellen dienen als Grundlage. Auf der Redaktion werden die Informationen gesammelt und geordnet, unnötige ausgeschieden, wichtige überprüft und für die Leserschaft aufbereitet.
Zahlreiche biblische Bücher sind auf ähnliche Weise entstanden. In einigen Fällen werden die Quellen, die zur Niederschrift beigezogen wurden, offengelegt. Lukas erwähnt in der Einführung zu seinem Doppelwerk (Lukasevangelium und Apostelgeschichte), dass er ausgedehnte Recherchen unternahm, um seinen Bericht über Jesus zu erstellen. Die Verfasser der Chronikbücher führen Dutzende von Quellen an, derer sie sich bedienten, um ihr Geschichtswerk zu verfassen (z.B. 1Chr 5,17; 9,1; 29,29).
Die Redaktionsgeschichte ist eine der hauptsächlichen Arbeitsmethoden der modernen Bibelwissenschaft. Sie befasst sich mit redaktionellen Vorgängen, die zur Niederschrift der biblischen Bücher führten. Es lohnt sich, den etwas anspruchsvollen Text von Udo Schnelle aufmerksam zu lesen:
«Die Redaktionsgeschichte geht von der grundlegenden Einsicht aus, dass uns die Überlieferung des Neuen Testaments in ihrer Letztgestalt durch die neutestamentlichen Schriftsteller (End-Redaktoren) vermittelt ist. Deshalb fragt sie nach den theologischen und literarischen Gesichtspunkten, unter denen die einzelnen Autoren ihr Material ausgewählt und zusammengestellt haben. Sie arbeitet das Beziehungsgeflecht heraus, das innerhalb eines Werkes zwischen den einzelnen Texten (Intratextualität) und zwischen einzelnen Schriften (Intertextualität) besteht. Die Redaktionsgeschichte untersucht demnach Texte hinsichtlich ihrer Bearbeitung und Komposition durch den Endredaktor, um zur Interpretation des gesamten Textes zu gelangen. Ihr umfassendes Ziel liegt in der Angabe des historischen und theologischen Standorts des neutestamentlichen Verfassers.»[1]
Schon die Kirchenväter beschäftigten sich mit redaktionellen Vorgängen. Der Kirchenhistoriker Eusebius und die Kirchenväter Irenäus und Augustinus befassten sich mit den Unterschieden zwischen den Evangelien. So interessierte die Frage, weshalb das Johannesevangelium sich von den Synoptikern (Mt, Mk, Lk) unterschied. In der mittelalterlichen und der reformatorischen Bibelauslegung spielten redaktionsgeschichtliche Fragestellungen keine nennenswerte Rolle. Man nahm zwar die Unterschiede zwischen den Evangelien wahr, aber sie stellten kein Problem dar, weil man davon ausging, dass sie sich nicht widersprachen, sondern ergänzten. Als eigene Disziplin entwickelte sich die Redaktionsgeschichte ab Mitte des 20. Jahrhunderts als Ergänzung zur Formgeschichte.
Wie die anderen Methoden, welche die moderne Bibelwissenschaft anwendet, ist auch die Redaktionsgeschichte ein zweischneidiges Schwert. Sie ist ein hilfreiches Arbeitsinstrument, wenn es darum geht, biblische Texte auf ihre Eigenart und auf die theologische Absicht ihrer Verfasser zu untersuchen. Sie vermag den spezifischen Beitrag des Verfassers sowie Absicht und Nutzen seines Texts herauszuarbeiten. Dadurch kann sie die Bedeutung des Texts, sowohl für die Erstempfänger als auch uns heute, entscheidend hervortreten lassen.
Die Redaktionsgeschichte ist dagegen problematisch, wenn davon ausgegangen wird, dass die Unterschiede zwischen den Evangelien einem mangelnden Interesse an historischer Wahrheit geschuldet sind. Viele Vertreter der modernen Bibelwissenschaft begegnen den Evangelien mit systematischem Zweifel. Sie gehen davon aus, dass das theologische Interesse der Verfasser zu Ungunsten einer wahrheitsgetreuen Darstellung überwog, und sprechen den Evangelien die historische Glaubwürdigkeit ab.
Ein Beispiel zum Schluss
Nach zweihundertjähriger Forschung ist es unübersehbar, nicht zuletzt an leeren Kirchenbänken: Die rigorose Anwendung der Methoden der modernen Bibelwissenschaft haben in vielen Fällen den Grundbestand des evangelischen Glaubens aufgelöst oder zumindest stark in Zweifel gezogen. Das Übel aber liegt nicht in der Methode, sondern in ihrer Anwendung. Ich möchte am Beispiel von Phil 2,5–11 zeigen, dass literarkritische und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen einen Text erhellen können, wenn man diese Methoden mit Augenmass anwendet. Dabei möchte ich bewusst einmal etwas anspruchsvoller im Inhalt sein, um zu zeigen, dass eine sachgerechte Auslegung der Bibel sorgfältige Arbeit, Sachkenntnis und Geschick verlangt.[2] Der Text lautet:
«Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht: Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters» (Phil 2,5–11).
Phil 2,5–11 ist ein eindrückliches Zeugnis für den Glauben der Urkirche an Jesus als Sohn Gottes und Herr der Welt. Es herrscht in der theologischen Wissenschaft relative Einigkeit darüber, dass Paulus in diesem Text einen vorgegebenen Inhalt aufgreift. Allgemein wird davon ausgegangen, dass der «Christushymnus», wie dieser Text genannt wird, sehr früh im urchristlichen Gottesdienst bekenntnisartig gesungen oder rezitiert wurde. Ob er nur in Philippi verwendet wurde und ob Paulus ihn ganz oder nur teilweise zitiert oder ihn bearbeitet, kann nur vermutet werden. Auf die Verwendung eines vorgegebenen Inhalts weisen die folgenden literarkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen hin:
Erstens legt es die Analyse des Kontexts nahe, dass 2,5–11 in den grösseren Abschnitt von 2,1–18 hineingeschoben wurde. Es geht in 2,1–18 um die Einheit der Kirche in Philippi und das rechte Verhalten als christliche Gemeinschaft. Paulus mahnt in 2,1–4 Einigkeit an und ruft zur Demut auf. 2,5 schlägt die Brücke zum Christushymnus, indem Paulus darauf hinweist, dass Jesus mit seinem Leben Vorbild für christliches Verhalten ist. 2,6–11 ist der eigentliche Hymnus. 2,12ff nimmt den Gedanken wieder auf, dass die Philipper dem Vorbild Jesu folgen und miteinander als auf Christus bezogene Gemeinschaft funktionieren sollen. Streng genommen hätte Paulus von 2,4 direkt zu 2,12ff gehen können und wir würden nichts vermissen. Das weist darauf hin, dass 2,5–11 ein in das Argument von 2,1–18 hineingeschobener Abschnitt ist. Weltanschauliche Überlegungen kommen bei dieser Folgerung nicht zum Tragen, es handelt sich um blosses aufmerksames Lesen des Textes.
Zweitens weist die gehobene Prosa von 2,6–11 darauf hin, dass Paulus auf einen vorgegebenen Inhalt zurückgreift. 2,6–11 hebt sich sprachlich stark von 2,1–4 und 2,12ff sowie dem Rest des Briefes ab. Beim aufmerksamen Lesen ist sofort der veränderte Sprachduktus feststellbar. Die Sätze sind inhaltlich gedrängt und auffallend rhythmisch. Die sprachliche Analyse ergibt «eine sehr weitgehende sprachliche Stilisierung mit Verzicht auf alles, was nicht unbedingt für die Aussage erforderlich ist (z.B. auf die Artikel), und eine beeindruckende Durchdachtheit des Textes sowie eine Fülle stilistischer Figuren».[3] Bei dieser Folgerung sind also formgeschichtliche Überlegungen zum Tragen gekommen, weil davon ausgegangen werden kann, dass gesprochene Bekenntnisse im urchristlichen Gottesdienst eine andere – eben stilisierte – Sprachform haben als Alltagssprache.
Drittens nimmt 2,10–11 («damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt») auf Jes 45,23 Bezug («Vor mir wird jedes Knie sich beugen, und jede Zunge wird bei mir schwören»). Die sprachliche Analyse ergibt, dass die Vorlage für 2,10–11 die hebräische Bibel ist, während Paulus in seinen Briefen meistens aus der Septuaginta (der griechischen Übersetzung des Alten Testaments) zitiert. Die Abweichung von der Gewohnheit spricht für die Übernahme eines festgelegten Inhalts.
Diese und weitere Beobachtungen lassen den Schluss zu, dass Paulus einen Hymnus zitiert, der in der Urkirche mündlich tradiert wurde und möglicherweise in schriftlicher Form vorlag. Wenn diese Auffassung korrekt ist, haben wir mit Phil 2,5–11 den Nachweis für eine frühe Ausbildung einer hohen Christologie. Die «hohe Christologie» befasst sich mit den Hoheitstiteln Jesu wie «Herr» oder «Menschensohn» und damit mit der Frage, ob Jesus von Anfang an als göttlicher Erlöser gedacht wurde oder ob sich diese Sicht erst im Laufe der Zeit ergab und im Wesentlichen eine nachösterliche Entwicklung ist. Besonders auffällig ist die Verbindung von Phil 2,10–11 mit Jes 45. Jes 45,21–23 ist einer der hauptsächlichen monotheistischen Texte des Alten Testaments. Er stellt den Gott Israels gegenüber den Göttern Babels als den wahren und einzigen Gott dar, vor dem sich jedes Knie beugen wird. Dieser Text wird im Christushymnus auf Jesus bezogen, so dass Jesus dieselbe Stellung zugeschrieben wird wie Gott. Wenn der Philipperbrief um 60 n.Chr. geschrieben wurde und Paulus auf einen bekannten Hymnus zurückgreift, war eine hohe Christologie in der Urkirche schon in den ersten Jahrzehnten nach Pfingsten stark verbreitet. Das bedeutet, dass die Sicht auf Jesus als Gottessohn und Herr keine Erfindung der zweiten oder dritten Generation von Christen war, sondern dass sie von Anfang an zum Grundbestand des Glaubens gehörte.
Ergebnis
Am Beispiel von Phil 2,5–11 zeigt sich, dass die literarische Analyse erheblich zur Erhellung biblischer Texte beitragen kann und für die Auslegung unverzichtbar ist. Die Methoden der modernen Bibelwissenschaft sind also nicht entweder gut oder schlecht. Viele Evangelikale Ausleger arbeiten bewusst mit ihnen. Wenn sie mit Augenmass angewendet werden und sich der Zweifel nicht zum Richter über den Bibeltext erhebt, sind sie wertvoll.
Fussnoten:
[1] Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese, 163–164.
[2] Vgl. für das Folgende Neudorfer, Literarische Analyse, 254f.
[3] Ebd., 255.
Extrem zugespitzt: Die Methoden sind also nur dann gut, wenn dem Herrn Hardmeier ihre Resultate auch gefallen?
Darf ich ihm das im post-serien-Interview mal fragen?
Ich finde es nicht zugespitzt. Bei der Auseinandersetzung mit den Methoden lässt er es offen, zu welchem Resultat der Leser letztlich kommt. Habe ich eine grundsätzlich zweifelnde Haltung gegenüber den Absichten der Redaktion oder gehe ich eher vom Verständnis aus, dass sie sich der Wahrheit gegenüber verpflichtet sahen. Gehe ich bei der Formgeschichte davon aus, dass die Schreiber — wenn nötig — ein wenig geschummelt haben, um Spannungen aufheben zu können, wurden Spannungen stehen gelassen oder gab es tatsächlich eine Auflösung, die nicht “erfunden” wurde. Im Kern geht es doch auch um die Frage: Ist mir die Beurteilung möglich, einen Text einem “Bedürfnis” zuzuordnen, ohne dass es der Schreiber selbst formuliert? Wenn er es nicht formuliert — wie soll ich es dann 2000 Jahre später tun? Wie oft unterschieben wir heute einander Absichten, die nie da waren? Da finde ich die Grundfrage schon berechtigt, ob ich mit einem grundsätzlichen Zweifel oder mit einem grundsätzlichen Vertrauen den Texten gegenüber stehe. Das kann jeder für sich beurteilen, ohne dass Herr Hardmeier sein Gutzeichen dahinter setzen muss.
Finde ich überzeugent argumentiert, Andy!