Holy Bible? (5/6) — Auslegungsmethoden der modernen Bibelwissenschaft

Lesezeit: 12 Minuten
Lesezeit: 12 Minuten

by Roland Hardmeier | 06. Jun. 2021 | 4 comments

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft hat in über zwei­thun­dertjähriger Forschung Meth­o­d­en entwick­elt, mit denen sie die Bibel im Ein­vernehmen mit der Ver­nun­ft auslegt. Diese Meth­o­d­en sind nicht grund­sät­zlich gut oder schlecht. Entschei­dend ist, nach welchen weltan­schaulichen Grund­sätzen man sie anwen­det. Um die mod­erne Bibel­wis­senschaft ein­er Beurteilung unterziehen zu kön­nen, muss man ihre Meth­o­d­en ken­nen. Diesem Ziel dient dieser fün­fte Teil.

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft arbeit­et mit der «his­torisch-kri­tis­chen Meth­ode». Der Begriff ste­ht für einen Meth­o­d­e­nap­pa­rat, welch­er der Unter­suchung von his­torischen Tex­ten dient. Die his­torisch-kri­tis­che Meth­ode bietet eine wis­senschaftliche Vorge­hensweise, um Texte zu unter­suchen, seien es die Werke griechis­ch­er Philosophen oder die Büch­er der Bibel.

Was heisst «historisch-kritisch»?

Das Dop­pelad­jek­tiv «his­torisch-kri­tisch» weist auf zwei Annah­men hin, die der Meth­ode zugrunde liegen:

Die Meth­ode ist in dem Sinn his­torisch, als sie besagt, man müsse sich in die his­torische Sit­u­a­tion ver­set­zen, in welch­er die bib­lis­chen Texte ent­standen. Für die bib­lis­chen Texte wird eine vielschichtige Vorgeschichte ver­mutet. Es wird davon aus­ge­gan­gen, dass in einem lan­gen Prozess mündliche und schriftliche Vor­for­men der bib­lis­chen Texte ent­standen, bis sie schliesslich zu den Tex­ten wur­den, wie sie in unseren heuti­gen Bibelaus­gaben ste­hen. Die Vorgeschichte der Bibel­texte wird mit den Mit­teln der Lit­er­arkri­tik, der Über­liefer­ungs­geschichte und anderen Meth­o­d­en rekon­stru­iert, die ich in diesem Teil vorstelle. Auf diese Weise wird ver­sucht, Gewis­sheit darüber zu erlan­gen, welche mündlichen Tra­di­tio­nen und schriftlichen Quellen den bib­lis­chen Tex­ten zugrunde liegen. Eine mündliche Tra­di­tion kann eine Erzäh­lung aus dem Leben der Glaubensväter Israels sein, die von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion von den Eltern den Kindern weit­ergegeben wurde, bis es zu ein­er Ver­schriftlichung kam. Schriftliche Quellen kön­nen Aufze­ich­nun­gen von Propheten oder Doku­mente aus dem Umfeld von Königshöfen sein, die den Ver­fassern der bib­lis­chen Schriften zugänglich waren.

Die Meth­ode ist insofern kri­tisch, als sie die Bibel mit den Mit­teln der Ver­nun­ft auslegt. Man will kri­tisch unter­schei­den zwis­chen den ursprünglichen Ereignis­sen ein­er­seits und den bib­lis­chen Bericht­en, die sich darauf beziehen, ander­seits. Es wird zum Beispiel fest­gestellt, dass in den Samuel­büch­ern Davids grandios­er Sieg über Goli­at berichtet wird. Hier wird kri­tisch gefragt, ob der bib­lis­che Bericht his­torisch ist. Ste­ht vielle­icht gar kein geschichtlich greif­bares Ereig­nis dahin­ter? Ist das möglicher­weise eine alte Helden­saga, die sich schon die Kanaan­iter weit­er­erzählten? In der altkirch­lichen und mit­te­lal­ter­lichen Bibelausle­gung ging man von der his­torischen Ver­lässlichkeit der bib­lis­chen Schriften aus. Die Fünf Büch­er Mose waren das Werk des Mose, die Evan­gelien gaben ver­lässlich über Leben und Werk Jesu Auskun­ft. Zweifel an der Ver­lässlichkeit der Bibel gab es nur vere­inzelt. Das änderte sich im 18. Jahrhun­dert mit der Entste­hung der his­torisch-kri­tis­chen Auslegungsmethode.

Die mod­erne Bibel­wis­senschaft geht aus wis­senschaftlichen und weltan­schaulichen Über­legun­gen auf kri­tis­che Dis­tanz zur tra­di­tionellen Ausle­gung. Bis zum Aufkom­men der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft ging man davon aus, dass für die rechte Ausle­gung der Heili­gen Schrift eine spezielle «bib­lis­che Hermeneu­tik» («hermeneu­ti­ca sacra») notwendig sei. Der Begriff sagt aus, dass die Bibel nach ihren eige­nen Regeln und stets im Glauben aus­gelegt wer­den muss. Die mod­erne Bibel­wis­senschaft hat dieses Prinzip aufgegeben und unter­sucht mit den Meth­o­d­en der Kri­tik die Bibel wie jeden anderen antiken Text.

Fol­gt man den Regeln der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft, ist der Wahrheits­ge­halt eines bib­lis­chen Texts nur insofern annehm­bar, als er durch die kri­tis­che Ver­nun­ft nachvol­lziehbar ist. Im Fol­gen­den stelle ich vier der haupt­säch­lichen Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft vor und füge erste Bew­er­tun­gen aus mein­er Sicht ein.

Literarkritik – die Quellen erforschen

Die Meth­ode der Lit­er­arkri­tik (auch lit­er­arische Analyse genan­nt) will die lit­er­arischen (schriftlichen) Quellen erforschen, die den bib­lis­chen Tex­ten zugrunde liegen. Sie will dadurch Aus­sagen machen kön­nen, wie die Texte ent­standen und wie sie zu uns kamen.

Die lit­er­arische Analyse spielte schon in den ersten Jahrhun­derten bei den Kirchen­vätern eine Rolle. So wurde nach der Ver­fasser­schaft der Evan­gelien gefragt und fest­gestellt, dass es beträchtliche Unter­schiede zwis­chen den Bericht­en über Jesus gab. Der Kirchen­vater Ori­genes hielt dafür, dass es Wider­sprüche zwis­chen den Evan­gelien gibt, während Augusti­nus die Har­monie der Evan­gelien nachzuweisen suchte. Als wis­senschaftliche Diszi­plin ent­stand die Lit­er­arkri­tik erst in nachre­for­ma­torisch­er Zeit.

Die Lit­er­arkri­tik geht davon aus, dass die meis­ten bib­lis­chen Schriften nicht auf einen einzi­gen Ver­fass­er zurück­ge­hen, son­dern ihre gegen­wär­tige Gestalt ein­er kom­plizierten Entste­hungs­geschichte ver­danken. So wird bei den Evan­gelien angenom­men, dass hin­ter den Ver­fassern jew­eils eine «Gemein­schaft» stand. Im Fall des Marku­se­van­geli­ums gehen viele Forsch­er davon aus, dass Markus Teil ein­er urkirch­lichen Gemein­schaft war, die in der Forschung «markinis­che Gemeinde» genan­nt wird. Markus habe für diese Gemeinde sein Evan­geli­um geschrieben und sei the­ol­o­gisch von ihr bee­in­flusst gewe­sen. Allerd­ings gibt es für diese «Gemeinde» keinen einzi­gen his­torischen Beleg.

Der Lit­er­arkri­tik­er befasst sich akribisch mit dem Bibel­text. Durch das genaue Lesen des Bibel­texts in der Ursprache will er her­aus­find­en, wo der Ver­fass­er seine Infor­ma­tio­nen her hat­te. So wird darauf geachtet, welche Worte ver­wen­det wer­den, ob es gedankliche Ein­schübe in den Text gibt, ob es Wieder­hol­un­gen oder Wider­sprüche gibt und ob der Stil darauf hin­weist, dass alter Stoff ver­ar­beit­et wurde. Die lit­er­arische Arbeit am Bibel­text ist unverzicht­bar für eine gründliche Ausle­gung, schliesslich will der Text ern­stgenom­men wer­den. Die Deu­tung der Ergeb­nisse kann dann in ganz unter­schiedliche Rich­tung gehen, je nach dem, ob man dem Text mit einem Grund­ver­trauen oder mit Zweifel begegnet.

Auf der einen Seite find­en evan­ge­likale Ausleger eine Fülle von Hin­weisen, die dafür sprechen, dass die Evan­gelien his­torisch glaub­würdig sind. Ins­beson­dere die Pas­sions­berichte weisen eine hohe inhaltliche und chro­nol­o­gis­che Übere­in­stim­mung auf. Das lässt darauf schliessen, dass schon rel­a­tiv früh eine schriftlich fix­ierte Über­liefer­ung vorgenom­men wurde. Je früher eine schriftliche Fix­ierung von Tat­en und Worten Jesu vorgenom­men wurde, desto ver­lässlich­er sind die Evan­gelien von einem geschichtlichen Stand­punkt aus gesehen.

Auf der anderen Seite glauben kri­tis­che Forsch­er mit den Mit­teln der Lit­er­arkri­tik «echte» von «unecht­en» Jesus­worten unter­schei­den zu kön­nen. Die «echt­en» Jesus­worte seien jene, die sich direkt auf Jesus zurück­führen lassen. Daneben gäbe es viele «unechte» Worte, die Jesus von der Urkirche nachträglich in den Mund gelegt wor­den oder leg­en­den­haft ent­standen seien. Einigkeit darüber, welche Jesus­worte «echt» sind und welche nicht, gibt es unter den Vertretern der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft nicht.

Überlieferungsgeschichte – Traditionen auf der Spur

Die Über­liefer­ungs­geschichte ist eine Weit­er­en­twick­lung der Lit­er­arkri­tik. Während die Lit­er­arkri­tik nach den schriftlichen Quellen fragt, der­er sich die Ver­fass­er der bib­lis­chen Schriften bedi­en­ten, will die Über­liefer­ungs­geschichte den mündlichen Vor­for­men eines Bibel­texts auf die Spur kom­men. Sie geht von der Annahme aus, dass den bib­lis­chen Tex­ten ver­schiedene mündliche Über­liefer­un­gen und bes­timmte the­ol­o­gis­che Tra­di­tio­nen voraus­gin­gen. Sie will zum Beispiel unter­suchen, ob die Geschicht­en der Glaubensväter im ersten Buch Mose auf mündlichen Leg­en­den aufbauen.

Das Auf­spüren von mündlichen Über­liefer­ungsstof­fen ist stark von den weltan­schaulichen Grund­sätzen bes­timmt, denen sich der Ausleger verpflichtet fühlt. Das gilt ins­beson­dere für das Alte Tes­ta­ment, das während eines ver­gle­ich­sweisen lan­gen Zeitraums ent­stand. In gewis­sen Fällen kann die Herkun­ft eines Textes erhellt wer­den, in den meis­ten Fällen jedoch kön­nen nur Ver­mu­tun­gen angestellt wer­den. Die mod­erne Bibel­wis­senschaft war im 19. Jahrhun­dert noch sehr zuver­sichtlich, jeden Satz und jedes Wort ein­er bes­timmten Ursprungssi­t­u­a­tion oder Über­liefer­ungss­chicht zuord­nen zu kön­nen. Heute ist man zurück­hal­tender gewor­den. Geblieben ist in der akademis­chen Welt eine tief­greifende Skep­sis gegenüber der Echtheit von bib­lis­chen Stof­fen. Bei vie­len alttes­ta­mentlichen Tex­ten geht die kri­tis­che Forschung davon aus, dass ihr Ursprung in alten baby­lonis­chen oder kanaani­tis­chen Sagen liegen. Diese seien im Laufe der Zeit zu «Sagenkränzen» weit­er­en­twick­elt und schliesslich in ganze Erzäh­lkom­plexe einge­fügt wor­den. Je länger dieser Prozess gedacht wird, desto geringer ist der his­torische Wert, der den Tex­ten beigelegt wird.

In der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft wird den ver­muteten schriftlichen und mündlichen Vor­for­men des Bibel­texts grosse Aufmerk­samkeit geschenkt. Viele gehen kri­tisch hin­ter den bib­lis­chen Text, weil sie diesen anzweifeln und glauben, dass die Wahrheit eher in den Vor­for­men steckt. Für evan­ge­likale Ausleger hinge­gen ist der kanon­is­che (von der Kirche anerkan­nte) End­text mass­gebend, so dass sie den ver­schiede­nen Über­liefer­ungsvorgän­gen weniger Bedeu­tung beimessen.

Formgeschichte – Literarische Gattungen unterscheiden

Die For­mgeschichte befasst sich mit den sprach­lichen Aus­druck­sweisen und der the­ol­o­gis­chen Bedeu­tung von lit­er­arischen Gat­tun­gen. Sie wird darum auch Gat­tungs­analyse genan­nt. Eine Gat­tung ist ein sprach­lich­es Muster, nach dem ein Text aufge­baut ist. Wir haben es täglich mit unter­schiedlichen Gat­tun­gen zu tun, wie Geschäfts­briefe, Romane, Gedichte, Geburt­sanzeigen und vie­len anderen lit­er­arischen For­men. Jede Gat­tung fol­gt ein­er für sie typ­is­chen Form. So begin­nt ein Geschäfts­brief mit ein­er formellen Anrede. Ein Gedicht erken­nen wir an der rhyth­mis­chen Sprache oder weil es sich reimt. Jede Gat­tung hat ihre eigene Art zu kom­mu­nizieren und ihr Ort, wo sie hinge­hört. Es käme nie­man­dem in den Sinn, ein Bewer­bungss­chreiben in Form eines Gedichts zu verfassen.

Dass wir Texte ver­ste­hen, weil uns ihre For­men ver­traut sind, gilt auch für die Bibel, in der unter­schiedlich­ste Gat­tun­gen Ver­wen­dung find­en. Ein Psalm lebt vom hebräis­chen Par­al­lelis­mus mit seinen Spielarten und dem reichen Klang ein­er ein­fachen Sprache. Ein Gle­ich­nis will als ver­gle­ichende Erzäh­lung inter­pretiert wer­den, die eine bes­timmte Wahrheit anschaulich macht. Ein Brief fol­gt anderen Regeln lit­er­arisch­er Aus­druck­sweise als ein prophetis­ches Buch.

Lit­er­arische Gat­tung zu erforschen ist ein lohnen­des Unternehmen. Richtig angewen­det wer­fen sie ein helles Licht auf die Bedeu­tung bib­lis­ch­er Texte. Sie kön­nen Zugang zu ganzen bib­lis­chen Büch­ern schaffen.

Die For­mgeschichte ist im Wis­senschafts­be­trieb eng ver­bun­den mit der Über­liefer­ungs­geschichte. In bei­den Diszi­plinen wird davon aus­ge­gan­gen, dass sowohl die mündliche als auch die schriftliche Weit­er­gabe bib­lis­ch­er Stoffe bes­timmte For­men annah­men. Bei­de Meth­o­d­en sind uner­lässlich für die his­torisch-kri­tis­che Ausle­gung und auch viele Evan­ge­likale schätzen die For­mgeschichte, um bib­lis­che Texte bess­er zu verstehen.

Aus der for­mgeschichtlichen Betra­ch­tung schliessen viele Vertreter der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft, dass die bib­lis­chen Texte his­torisch nicht ver­lässlich seien. Hin­ter dieser Auf­fas­sung ste­ht die Grundüberzeu­gung, dass bes­timmte «Bedürfnisse» bes­timmte Gat­tun­gen und Texte her­vor­bracht­en. So habe das Bedürf­nis der ersten Chris­ten­heit nach ein­er Klärung des Sab­bat­ge­bots beispiel­sweise die Geschichte vom «Ähren­raufen am Sab­bat» her­vorge­bracht (Mk 2,23–28). Die Jünger Jesu raufen Ähren am Sab­bat, was die Geset­zeshüter auf den Plan ruft. Der Satz «Der Men­schen­sohn ist Herr über den Sab­bat», mit dem die Geschichte endet, gehe nicht auf Jesus zurück. Die Geschichte vom Ähren­raufen habe sich so gar nie zuge­tra­gen, jeden­falls nicht im berichteten Kon­text. Sie sei von Markus «geschaf­fen» wor­den, um dem Bedürf­nis der ersten Chris­ten nach ein­er Klärung der Sab­bat­frage nachzukom­men. «Geschaf­fen» heisst hier so viel wie «erfun­den». Nach diesem for­mgeschichtlichen Grund­satz wer­den viele Evan­gelien­texte aus­gelegt. For­mgeschichtliche und über­liefer­ungs­geschichtliche Über­legun­gen führen so dazu, dass man den Evan­gelien ihre his­torische Ver­lässlichkeit abspricht.

Redaktionsgeschichte – Gute Nachrichten weiterverarbeiten

Wenn ein Nachricht­en­magazin wie der «Spiegel» einen Hin­ter­grun­dar­tikel zu einem aktuellen The­ma ver­fasst, wird von einem Jour­nal­is­ten­team eine Fülle von Mate­r­i­al ver­ar­beit­et. Infor­ma­tio­nen von Nachricht­e­na­gen­turen, Recherchen vor Ort, Inter­views mit Gewährsleuten, Beiträge aus Fach­lit­er­atur und andere Infor­ma­tion­squellen dienen als Grund­lage. Auf der Redak­tion wer­den die Infor­ma­tio­nen gesam­melt und geord­net, unnötige aus­geschieden, wichtige über­prüft und für die Leser­schaft aufbereitet.

Zahlre­iche bib­lis­che Büch­er sind auf ähn­liche Weise ent­standen. In eini­gen Fällen wer­den die Quellen, die zur Nieder­schrift beige­zo­gen wur­den, offen­gelegt. Lukas erwäh­nt in der Ein­führung zu seinem Dop­pel­w­erk (Luka­se­van­geli­um und Apos­telgeschichte), dass er aus­gedehnte Recherchen unter­nahm, um seinen Bericht über Jesus zu erstellen. Die Ver­fass­er der Chronikbüch­er führen Dutzende von Quellen an, der­er sie sich bedi­en­ten, um ihr Geschichtswerk zu ver­fassen (z.B. 1Chr 5,17; 9,1; 29,29).

Die Redak­tion­s­geschichte ist eine der haupt­säch­lichen Arbeitsmeth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft. Sie befasst sich mit redak­tionellen Vorgän­gen, die zur Nieder­schrift der bib­lis­chen Büch­er führten. Es lohnt sich, den etwas anspruchsvollen Text von Udo Schnelle aufmerk­sam zu lesen:

«Die Redak­tion­s­geschichte geht von der grundle­gen­den Ein­sicht aus, dass uns die Über­liefer­ung des Neuen Tes­ta­ments in ihrer Let­zt­gestalt durch die neutes­ta­mentlichen Schrift­steller (End-Redak­toren) ver­mit­telt ist. Deshalb fragt sie nach den the­ol­o­gis­chen und lit­er­arischen Gesicht­spunk­ten, unter denen die einzel­nen Autoren ihr Mate­r­i­al aus­gewählt und zusam­mengestellt haben. Sie arbeit­et das Beziehungs­ge­flecht her­aus, das inner­halb eines Werkes zwis­chen den einzel­nen Tex­ten (Intra­tex­tu­al­ität) und zwis­chen einzel­nen Schriften (Inter­tex­tu­al­ität) beste­ht. Die Redak­tion­s­geschichte unter­sucht dem­nach Texte hin­sichtlich ihrer Bear­beitung und Kom­po­si­tion durch den Endredak­tor, um zur Inter­pre­ta­tion des gesamten Textes zu gelan­gen. Ihr umfassendes Ziel liegt in der Angabe des his­torischen und the­ol­o­gis­chen Stan­dorts des neutes­ta­mentlichen Ver­fassers.»[1]

Schon die Kirchen­väter beschäftigten sich mit redak­tionellen Vorgän­gen. Der Kirchen­his­torik­er Euse­bius und die Kirchen­väter Irenäus und Augusti­nus befassten sich mit den Unter­schieden zwis­chen den Evan­gelien. So inter­essierte die Frage, weshalb das Johan­ne­se­van­geli­um sich von den Syn­op­tik­ern (Mt, Mk, Lk) unter­schied. In der mit­te­lal­ter­lichen und der refor­ma­torischen Bibelausle­gung spiel­ten redak­tion­s­geschichtliche Fragestel­lun­gen keine nen­nenswerte Rolle. Man nahm zwar die Unter­schiede zwis­chen den Evan­gelien wahr, aber sie stell­ten kein Prob­lem dar, weil man davon aus­ging, dass sie sich nicht wider­sprachen, son­dern ergänzten. Als eigene Diszi­plin entwick­elte sich die Redak­tion­s­geschichte ab Mitte des 20. Jahrhun­derts als Ergänzung zur Formgeschichte.

Wie die anderen Meth­o­d­en, welche die mod­erne Bibel­wis­senschaft anwen­det, ist auch die Redak­tion­s­geschichte ein zweis­chnei­di­ges Schw­ert. Sie ist ein hil­fre­ich­es Arbeitsin­stru­ment, wenn es darum geht, bib­lis­che Texte auf ihre Eige­nart und auf die the­ol­o­gis­che Absicht ihrer Ver­fass­er zu unter­suchen. Sie ver­mag den spez­i­fis­chen Beitrag des Ver­fassers sowie Absicht und Nutzen seines Texts her­auszuar­beit­en. Dadurch kann sie die Bedeu­tung des Texts, sowohl für die Erstempfänger als auch uns heute, entschei­dend her­vortreten lassen.

Die Redak­tion­s­geschichte ist dage­gen prob­lema­tisch, wenn davon aus­ge­gan­gen wird, dass die Unter­schiede zwis­chen den Evan­gelien einem man­gel­nden Inter­esse an his­torisch­er Wahrheit geschuldet sind. Viele Vertreter der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft begeg­nen den Evan­gelien mit sys­tem­a­tis­chem Zweifel. Sie gehen davon aus, dass das the­ol­o­gis­che Inter­esse der Ver­fass­er zu Ungun­sten ein­er wahrheits­ge­treuen Darstel­lung über­wog, und sprechen den Evan­gelien die his­torische Glaub­würdigkeit ab.

Ein Beispiel zum Schluss

Nach zwei­hun­dertjähriger Forschung ist es unüberse­hbar, nicht zulet­zt an leeren Kirchen­bänken: Die rig­orose Anwen­dung der Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft haben in vie­len Fällen den Grundbe­stand des evan­ge­lis­chen Glaubens aufgelöst oder zumin­d­est stark in Zweifel gezo­gen. Das Übel aber liegt nicht in der Meth­ode, son­dern in ihrer Anwen­dung. Ich möchte am Beispiel von Phil 2,5–11 zeigen, dass lit­er­arkri­tis­che und über­liefer­ungs­geschichtliche Über­legun­gen einen Text erhellen kön­nen, wenn man diese Meth­o­d­en mit Augen­mass anwen­det. Dabei möchte ich bewusst ein­mal etwas anspruchsvoller im Inhalt sein, um zu zeigen, dass eine sachgerechte Ausle­gung der Bibel sorgfältige Arbeit, Sachken­nt­nis und Geschick ver­langt.[2] Der Text lautet:

«Seid untere­inan­der so gesin­nt, wie es dem Leben in Chris­tus Jesus entspricht: Er war Gott gle­ich, hielt aber nicht daran fest, Gott gle­ich zu sein, son­dern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Men­schen gle­ich. Sein Leben war das eines Men­schen; er erniedrigte sich und war gehor­sam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen ver­liehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Him­mel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beu­gen vor dem Namen Jesu und jed­er Mund beken­nt: Jesus Chris­tus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters» (Phil 2,5–11).

Phil 2,5–11 ist ein ein­drück­lich­es Zeug­nis für den Glauben der Urkirche an Jesus als Sohn Gottes und Herr der Welt. Es herrscht in der the­ol­o­gis­chen Wis­senschaft rel­a­tive Einigkeit darüber, dass Paulus in diesem Text einen vorgegebe­nen Inhalt auf­greift. All­ge­mein wird davon aus­ge­gan­gen, dass der «Chris­tushym­nus», wie dieser Text genan­nt wird, sehr früh im urchristlichen Gottes­di­enst beken­nt­nis­ar­tig gesun­gen oder rez­i­tiert wurde. Ob er nur in Philip­pi ver­wen­det wurde und ob Paulus ihn ganz oder nur teil­weise zitiert oder ihn bear­beit­et, kann nur ver­mutet wer­den. Auf die Ver­wen­dung eines vorgegebe­nen Inhalts weisen die fol­gen­den lit­er­arkri­tis­chen und über­liefer­ungs­geschichtlichen Beobach­tun­gen hin:

Erstens legt es die Analyse des Kon­texts nahe, dass 2,5–11 in den grösseren Abschnitt von 2,1–18 hineingeschoben wurde. Es geht in 2,1–18 um die Ein­heit der Kirche in Philip­pi und das rechte Ver­hal­ten als christliche Gemein­schaft. Paulus mah­nt in 2,1–4 Einigkeit an und ruft zur Demut auf. 2,5 schlägt die Brücke zum Chris­tushym­nus, indem Paulus darauf hin­weist, dass Jesus mit seinem Leben Vor­bild für christlich­es Ver­hal­ten ist. 2,6–11 ist der eigentliche Hym­nus. 2,12ff nimmt den Gedanken wieder auf, dass die Philip­per dem Vor­bild Jesu fol­gen und miteinan­der als auf Chris­tus bezo­gene Gemein­schaft funk­tion­ieren sollen. Streng genom­men hätte Paulus von 2,4 direkt zu 2,12ff gehen kön­nen und wir wür­den nichts ver­mis­sen. Das weist darauf hin, dass 2,5–11 ein in das Argu­ment von 2,1–18 hineingeschoben­er Abschnitt ist. Weltan­schauliche Über­legun­gen kom­men bei dieser Fol­gerung nicht zum Tra­gen, es han­delt sich um bloss­es aufmerk­sames Lesen des Textes.

Zweit­ens weist die gehobene Prosa von 2,6–11 darauf hin, dass Paulus auf einen vorgegebe­nen Inhalt zurück­greift. 2,6–11 hebt sich sprach­lich stark von 2,1–4 und 2,12ff sowie dem Rest des Briefes ab. Beim aufmerk­samen Lesen ist sofort der verän­derte Sprach­duk­tus fest­stell­bar. Die Sätze sind inhaltlich gedrängt und auf­fal­l­end rhyth­misch. Die sprach­liche Analyse ergibt «eine sehr weit­ge­hende sprach­liche Stil­isierung mit Verzicht auf alles, was nicht unbe­d­ingt für die Aus­sage erforder­lich ist (z.B. auf die Artikel), und eine beein­druck­ende Durch­dachtheit des Textes sowie eine Fülle stilis­tis­ch­er Fig­uren».[3] Bei dieser Fol­gerung sind also for­mgeschichtliche Über­legun­gen zum Tra­gen gekom­men, weil davon aus­ge­gan­gen wer­den kann, dass gesproch­ene Beken­nt­nisse im urchristlichen Gottes­di­enst eine andere – eben stil­isierte – Sprach­form haben als Alltagssprache.

Drit­tens nimmt 2,10–11 («damit alle im Him­mel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beu­gen vor dem Namen Jesu und jed­er Mund beken­nt») auf Jes 45,23 Bezug («Vor mir wird jedes Knie sich beu­gen, und jede Zunge wird bei mir schwören»). Die sprach­liche Analyse ergibt, dass die Vor­lage für 2,10–11 die hebräis­che Bibel ist, während Paulus in seinen Briefen meis­tens aus der Sep­tu­ag­in­ta (der griechis­chen Über­set­zung des Alten Tes­ta­ments) zitiert. Die Abwe­ichung von der Gewohn­heit spricht für die Über­nahme eines fest­gelegten Inhalts.

Diese und weit­ere Beobach­tun­gen lassen den Schluss zu, dass Paulus einen Hym­nus zitiert, der in der Urkirche mündlich tradiert wurde und möglicher­weise in schriftlich­er Form vor­lag. Wenn diese Auf­fas­sung kor­rekt ist, haben wir mit Phil 2,5–11 den Nach­weis für eine frühe Aus­bil­dung ein­er hohen Chris­tolo­gie. Die «hohe Chris­tolo­gie» befasst sich mit den Hoheit­stiteln Jesu wie «Herr» oder «Men­schen­sohn» und damit mit der Frage, ob Jesus von Anfang an als göt­tlich­er Erlös­er gedacht wurde oder ob sich diese Sicht erst im Laufe der Zeit ergab und im Wesentlichen eine nachöster­liche Entwick­lung ist. Beson­ders auf­fäl­lig ist die Verbindung von Phil 2,10–11 mit Jes 45. Jes 45,21–23 ist ein­er der haupt­säch­lichen monothe­is­tis­chen Texte des Alten Tes­ta­ments. Er stellt den Gott Israels gegenüber den Göt­tern Babels als den wahren und einzi­gen Gott dar, vor dem sich jedes Knie beu­gen wird. Dieser Text wird im Chris­tushym­nus auf Jesus bezo­gen, so dass Jesus dieselbe Stel­lung zugeschrieben wird wie Gott. Wenn der Philip­per­brief um 60 n.Chr. geschrieben wurde und Paulus auf einen bekan­nten Hym­nus zurück­greift, war eine hohe Chris­tolo­gie in der Urkirche schon in den ersten Jahrzehn­ten nach Pfin­g­sten stark ver­bre­it­et. Das bedeutet, dass die Sicht auf Jesus als Gottes­sohn und Herr keine Erfind­ung der zweit­en oder drit­ten Gen­er­a­tion von Chris­ten war, son­dern dass sie von Anfang an zum Grundbe­stand des Glaubens gehörte.

Ergebnis

Am Beispiel von Phil 2,5–11 zeigt sich, dass die lit­er­arische Analyse erhe­blich zur Erhel­lung bib­lis­ch­er Texte beitra­gen kann und für die Ausle­gung unverzicht­bar ist. Die Meth­o­d­en der mod­er­nen Bibel­wis­senschaft sind also nicht entwed­er gut oder schlecht. Viele Evan­ge­likale Ausleger arbeit­en bewusst mit ihnen. Wenn sie mit Augen­mass angewen­det wer­den und sich der Zweifel nicht zum Richter über den Bibel­text erhebt, sind sie wertvoll.

Artikel als PDF herunterladen


Fuss­noten:
[1] Schnelle, Ein­führung in die neutes­ta­mentliche Exegese, 163–164.
[2] Vgl. für das Fol­gende Neu­dor­fer, Lit­er­arische Analyse, 254f.
[3] Ebd., 255.

Über den Kanal

Roland Hardmeier

Dr. theol. Roland Hardmeier wohnt und arbeitet in Riedikon bei Uster. Er war 15 Jahre lang Pastor im Bund der Freien Evangelischen Gemeinden der Schweiz. Heute ist er als selbständiger Dozent, Referent und Autor tätig. Einblicke in seine Tätigkeit gibt seine Website www.roland-hardmeier.ch

Werde Teil der Diskussion

Kommentare zu diesen Beitrag

4 Comments

  1. Micha

    Extrem zuge­spitzt: Die Meth­o­d­en sind also nur dann gut, wenn dem Her­rn Hard­meier ihre Resul­tate auch gefallen?

    Reply
    • Paul Bruderer

      Darf ich ihm das im post-serien-Inter­view mal fragen?

      Reply
    • Andy

      Ich finde es nicht zuge­spitzt. Bei der Auseinan­der­set­zung mit den Meth­o­d­en lässt er es offen, zu welchem Resul­tat der Leser let­ztlich kommt. Habe ich eine grund­sät­zlich zweifel­nde Hal­tung gegenüber den Absicht­en der Redak­tion oder gehe ich eher vom Ver­ständ­nis aus, dass sie sich der Wahrheit gegenüber verpflichtet sahen. Gehe ich bei der For­mgeschichte davon aus, dass die Schreiber — wenn nötig — ein wenig geschum­melt haben, um Span­nun­gen aufheben zu kön­nen, wur­den Span­nun­gen ste­hen gelassen oder gab es tat­säch­lich eine Auflö­sung, die nicht “erfun­den” wurde. Im Kern geht es doch auch um die Frage: Ist mir die Beurteilung möglich, einen Text einem “Bedürf­nis” zuzuord­nen, ohne dass es der Schreiber selb­st for­muliert? Wenn er es nicht for­muliert — wie soll ich es dann 2000 Jahre später tun? Wie oft unter­schieben wir heute einan­der Absicht­en, die nie da waren? Da finde ich die Grund­frage schon berechtigt, ob ich mit einem grund­sät­zlichen Zweifel oder mit einem grund­sät­zlichen Ver­trauen den Tex­ten gegenüber ste­he. Das kann jed­er für sich beurteilen, ohne dass Herr Hard­meier sein Gutze­ichen dahin­ter set­zen muss.

      Reply
      • Martin Mächler

        Finde ich überzeu­gent argu­men­tiert, Andy!

        Reply

Submit a Comment

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Jetzt weiterstöbern

Mehr Blogposts entdecken

Das Alte Testament vom Glaubensbekenntnis her verstehen

Das Alte Testament vom Glaubensbekenntnis her verstehen

Rezension von Benjamin Rodriguez Weber, 03.10.2024 Benjamin Kilchör beleuchtet das Alte Testament aus der Perspektive des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und zeigt, wie alttestamentliche Texte zentrale Glaubensaussagen des Christentums vertiefen und verdeutlichen....