Das Buch, das die Welt bedeutet — die Erhabenheit der Bibel, mit den Augen eines Philosophen

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by Alin Cucu | 06. Dez. 2024 | 1 comment

In diesem Artikel werfe ich etwas philosophis­ches Licht auf die protes­tantis­che Lehre von der Schrift. Während die Bibel als Gottes Wort zen­trale Bedeu­tung für das Glaubens- und Kirchen­leben hat, haben wir zusät­zlich allein in ihr das Anti­dot gegen die philosophis­che Krise des mod­er­nen Geistes. Sie ist wirk­lich “das Buch, das die Welt bedeutet”. 

Es drängt sich aber zunächst ein­mal die Frage auf, ob ich nicht Eulen nach Athen trage, wenn ich hier, angesichts ein­er ver­mut­lich grössten­teils evan­ge­likalen[1] Leser­schaft, über die Erhaben­heit der Bibel schreibe?

Ich meine nein, aus zwei Grün­den. Erstens ist selb­st uns Evan­ge­likalen – ich schliesse mich offen­sichtlich mit ein – das Aus­mass der Zen­tral­ität der Bibel oft nicht vol­lends bewusst. Als Beweis führe ich mich selb­st an: Von ein­er bren­nen­den Liebe zum Wort Gottes und seinem Studi­um durch­drun­gen war ich den­noch über­wältigt davon, was die evan­ge­likalen Lehren von der Schrift im Detail bedeuten, als ich mich mit ihnen jüngst einge­hen­der beschäftigte. Zweit­ens betra­chte ich diese zen­tralen (Meta-)Doktrinen unseres Glaubens mit philosophis­chen Augen; Augen, die Dinge sehen, die The­olo­gen gewöhn­licher­weise ver­bor­gen bleiben. Ich möchte her­ausstellen, dass die Lehren von der Autorität, Wahrheit, Unfehlbarkeit, Klarheit, Notwendigkeit und Zulänglichkeit der Bibel nicht ein­fach nur blind zu glaubende ex cathe­dra-Dok­tri­nen sind, son­dern wir ihre Bedeu­tung und Imp­lika­tio­nen tat­säch­lich ratio­nal erfassen können.

Dieser Artikel zehrt wesentlich von Wayne Grudems her­vor­ra­gen­dem Lehrbuch Sys­tem­at­ic The­ol­o­gy[2], was die the­ol­o­gis­chen Grund­la­gen ange­ht; in diese pfropfe ich philosophis­che Über­legun­gen ein, die, so hoffe ich, dem Leser die majestätis­che Erhaben­heit des geschriebe­nen Wortes Gottes noch gröss­er und wun­der­bar­er erscheinen lassen. 

Das epistemische[3] Problem, oder: wie wir sicheres Wissen erlangen können

Ich möchte die nach­fol­gen­den Aus­führun­gen in den Kon­text ein­er nun­mehr seit vier Jahrhun­derten andauern­den philosophis­chen Krise stellen: der Krise des (sicheren) Wis­sens. Was viele Evan­ge­likale nicht real­isieren, ist, dass Bibelkri­tik, oder auch nur ein Abrück­en von der Zen­tral­ität der Bibel, nicht nur das religiöse Leben desta­bil­isiert. Um es unverblümt zu sagen: Die Bibel ist das einzige Fun­da­ment für sicheres und sta­biles Wis­sen, auf das men­schliche Kul­turen aufge­baut wer­den können.

Wie kön­nen wir von irgen­dein­er Infor­ma­tion wis­sen, dass sie wahr ist, wenn wir nicht alle Fak­ten kennen?

So radikal diese Aus­sage auch scheinen mag, wir kom­men um sie nicht herum. Gru­dem offeriert einen fak­ten­be­zo­ge­nen Ansatz, sie zu ver­ste­hen. Er fragt: Wie kön­nen wir von irgen­dein­er Infor­ma­tion wis­sen, dass sie wahr ist, wenn wir nicht alle Fak­ten ken­nen? Denn es kön­nte sein, dass ein bish­er unbekan­ntes Fak­tum auf­taucht, das unser ver­meintlich­es Wis­sen über den Haufen wirft. Eine Lösung dieses Prob­lems wäre natür­lich, alle Fak­ten zu ken­nen, was aber nicht möglich ist. Möglich ist hinge­gen, Den zu ken­nen, der alle Fak­ten ken­nt, und uns auf Sein Wort stützen. So haben wir jeden­falls epis­temis­che Gewis­sheit über all jene Aus­sagen, die in der Schrift ste­hen; und da die Schrift uni­versell genug ist, auf alle Lebens­fra­gen und ‑umstände angewen­det wer­den zu kön­nen, bekom­men wir in der Bibel einen ulti­ma­tiv­en Stan­dard für Wahrheit und somit sicheres Wissen.

Sicheres Wis­sen ist unter Philosophen seit einiger Zeit kein Aller­welts­d­ing mehr, son­dern ähnelt eher dem Stein der Weisen, von dem man nicht ein­mal weiss, ob er existiert (der dro­hende infi­nite Regress ist wohl kein Zufall)[4]. In der Tat wer­den und wur­den viele Ver­suche gemacht, die Natur des Wis­sens richtig zu erfassen, aber bei jedem von ihnen bleibt natür­lich immer noch die (Meta-)Frage, woher man weiss, dass der jew­eilige Ansatz richtig ist. René Descartes (1596–1650) war gequält von der Frage, wie er über­haupt wis­sen könne, dass die Aussen­welt existiert; seine Antwort ist, dass das gar nicht möglich sei, dass aber die Exis­tenz des eige­nen Ichs ein sicher­er Anker sei (“Cog­i­to ergo sum”). Das mag stim­men, und den­noch ist alles ausser­halb des Egos zunächst ein­mal der epis­temis­chen Unsicher­heit unter­wor­fen; nur indem er Gott ins Bild ein­baut, kann Descartes Wis­sen über die Aussen­welt wieder ver­wurzeln. Die Wunde des Skep­tizis­mus scheint philoso­phiegeschichtlich jedoch zu tief geris­sen wor­den zu sein, um wieder ganz zu ver­heilen. David Hume (1711–1776) zweifelte so ziem­lich alles an, von Wun­der über das eigene Ich bis hin zur Exis­tenz von Kausal­ität. Immanuel Kant (1724–1804) schliesslich, tief beein­druckt von Hume, ver­suchte unser intu­itives Bild von der Welt (gemäss dem wir sehr wohl Wis­sen über die Aussen­welt, inklu­sive Gott, haben kön­nen) zu ret­ten, indem er den Spiess umdrehte: Statt nach ein­er Möglichkeit zu suchen, wie unser Geist das Wis­sen in der Welt erfasst, erk­lärte er, dass unser Geist die Ein­drücke aus der Welt (die Phe­nom­e­na) in ein­er bes­timmten, unhin­terge­hbaren Weise ord­net. Laut Kant ist er müs­sig, nach den “Din­gen an sich” (den Noume­na) zu fra­gen; wir müssen uns mit den Phe­nom­e­na zufriedengeben.

Es ist möglich, Den zu ken­nen, der alle Fak­ten ken­nt, und sich auf Sein Wort zu stützen.

Es ist auf­fäl­lig, dass jedes philosophis­che Sys­tem – auch die skep­tis­chen – ja sog­ar jede einzelne Per­son am Ende des Tages an eine höch­ste Autorität glaubt, von der alle anderen Überzeu­gun­gen abgeleit­et sind. Es ist epis­te­mol­o­gisch gar nicht möglich, anders zu denken: denn für jede Überzeu­gung kann man nach den Grün­den fra­gen, weshalb man diese Überzeu­gung hat. Für diese Gründe kann man wiederum nach Grün­den fra­gen. Das kann aber offen­sichtlich nicht ad infini­tum gehen, denn dann gäbe es ja über­haupt keine Grund­lage für unser Wis­sen. Deswe­gen appel­liert jed­er irgend­wann an eine Autorität, die er nicht mehr hin­ter­fragt: kleine Kinder zitieren hier ihre Eltern, Erwach­sene vielle­icht Experten oder aber ihre eigene Intu­ition. Die Frage ist nicht, ob wir eine höch­ste Autorität anerken­nen (sollen), son­dern ob die Autorität, die wir anerken­nen, eine tragfähige Basis für unser Leben ist.

Die Mod­erne hin­ter­lässt ein epis­temis­ches Machtvakuum.

Das Prob­lem der Mod­erne ist, dass sie ein epis­temis­ches Macht­vaku­um hin­ter­lässt; die von ihr ange­bote­nen Autoritäten bieten zu wenig Halt für Denken und Han­deln. Die Bibel zeich­net ein ganz anderes Bild. Hier spricht Gott, der sich zuver­läs­sig in einem prinzip­iell für alle zugänglichen Buch offen­bart. Sicheres Wis­sen über Gott und die Welt – und die Zuver­sicht, es auch tat­säch­lich erlangt zu haben – sind verfügbar.

Warum wir Gottes Wort in schriftlicher Form haben

Wir nen­nen die Bibel auch “Das Wort Gottes”, aber natür­lich kann Gott prinzip­iell auch anders sprechen, z.B. durch direk­te Kom­mu­nika­tion mit Indi­viduen, oder ver­bal durch berufene Men­schen (Propheten, Apos­tel etc.). Es gibt dur­chaus einen Trend heutzu­tage unter freien protes­tantis­chen Kirchen, ver­stärkt auf per­sön­liche “Ein­drücke” oder das (ver­meintliche) Reden des Heili­gen Geistes zu hören, zu Las­ten von Bibel­studi­um und ‑predigt. Die schriftliche Dar­re­ichungs­form jedoch hat einige mas­sive Vorteile, auf die Gru­dem hin­weist (S. 50):

  • Genauigkeit in der Überlieferung.
  • Erlaubt das genaue Studi­um der Worte Gottes.
  • Zugänglichkeit für viel mehr Menschen.

Da nun das Chris­ten­tum seit Anbe­ginn schon immer eine “Reli­gion des Buch­es” war, fol­gen daraus zwei über­raschende Implikationen :

  • Die erfol­gre­iche Ausübung des Chris­ten­tums erfordert die intellek­tuelle Fähigkeit, die Bibel zu lesen und zu ver­ste­hen. Das Lesen der Bibel ist natür­lich eine geistliche, aber eben auch intellek­tuelle Angele­gen­heit. Man muss sich intellek­tuell Mühe geben, die Bibel zu ver­ste­hen; sorgfältiges Studi­um der Schrift ist von Gott gewollt und bringt gute Resul­tate (Psalm 1,1–3; Apos­telgeschichte 17,11). Es ist das Erbe der Ref­or­ma­tion, Bil­dung zu fördern, weil die Reformer von dem Gedanken beseelt waren, dass jed­er Men­sch Zugang zur Bibel haben sollte. Anti­in­tellek­tu­al­is­mus ist eine der Bibel und dem Chris­ten­tum fremde Hal­tung.

In einem tief­er­en Sinne deutet die Tat­sache, dass die Bibel auch mit dem Intellekt gele­sen wer­den muss, auf unsere Beschaf­fen­heit als Men­schen hin. Wir haben den Geist, der sozusagen direk­ten Kon­takt mit Gott her­stellen kann (1. Korinther 2,9–16); wir haben aber eben auch den Intellekt, der ana­lytisch und klein­schrit­tig arbeit­et, der Schlussfol­gerun­gen aus Prämis­sen zieht. Ein Chris­ten­tum, das die Rolle des Geistes herun­ter­spielt, degener­iert zu trock­en­er Gelehrsamkeit; eines, das den Intellekt ver­nach­läs­sigt, zu unreifer Schwärmerei.

  • Im Kon­trast zu lediglich indi­vidu­ellen Offen­barun­gen erlaubt die Bibel gemein­same Forschung und Debat­ten, weil sie eine für alle zugängliche, unab­hängige Ref­erenz darstellt. Dieser Punkt ist enorm zen­tral. Stellen wir uns ein­mal vor, Gott gäbe uns spez­i­fis­che Offen­barun­gen (also nicht die all­ge­meinen, die wir in der Schöp­fung find­en) je indi­vidu­ell. Abge­se­hen davon, dass dies wahrschein­lich zu dok­trinärem Chaos führen würde, wäre das eine ziem­lich ein­same Angele­gen­heit. Schon der Aus­tausch der per­sön­lichen Offen­barun­gen wäre schwierig, da es kein mil­liar­den­fach gedruck­tes Buch gäbe, auf das sich alle beziehen kön­nen; noch viel schwieriger wären Studi­um und Debat­ten über die Worte Gottes. Wenn man sich jedoch einig ist, dass die Bibel Gottes Wort ist, hat man einen Bezugspunkt, auf den man trotz aller Mei­n­ungsver­schieden­heit­en zurück­kom­men kann; eine Wahrheit, die unab­hängig von per­sön­lichen Befind­lichkeit­en und Agen­den existiert.

Die Autorität der Bibel

Neulich hörte ich einen Pas­tor sagen: “Wir müssen auf­passen, dass die Bibel nicht zum Götzen wird.” Wenn die Bibel wirk­lich Gottes Wort im nach­fol­gend beschriebe­nen Sinn ist, dann beste­ht diese Gefahr nicht. 

Die Bibel ist für (protes­tantis­che) Chris­ten die ober­ste Autorität in Fra­gen der Lehre und Prax­is ist. Gru­dem: «Die Autorität der Schrift bedeutet, dass alle Worte in der Schrift Gottes Worte sind, sodass Unge­hor­sam oder Unglaube gegenüber irgen­deinem Wort der Schrift das Gle­iche ist wie Unge­hor­sam oder Unglaube Gott gegenüber.»[5] (73) Es gibt also keine Autorität über der Bibel, weil es keine Autorität über Gott gibt. Es beste­ht in dieser Hin­sicht kein Unter­schied zwis­chen Gott und der Bibel[6]. Dies ist das Anti­dot gegen die mod­erne epis­temis­che Krise: hier spricht die höch­ste Autorität in ein­er Form, die wir ver­ste­hen und anwen­den können. 

Es ist gut, uns vor Augen zu führen, was aus der Lehre von der Autorität der Schrift folgt:

  1. Die Bibel ist nicht deswe­gen wahr, weil sie sich an die Geset­ze der Logik hält (auch wenn das zutrifft);
  2. Die Bibel ist nicht deswe­gen wahr, weil sie his­torisch akku­rat ist (auch wenn das zutrifft);
  3. wenn Natur­wis­senschaftler, His­torik­er oder andere Wis­senschaftler etwas sagen, dass der Bibel wider­spricht, liegen immer diese Men­schen falsch, auch wenn wir vielle­icht den Grund ihres Irrtums nicht sofort erken­nen können.
  4. Im weit­eren Sinne sind die Aus­sagen der Schrift immer ver­lässlich­er als unsere Sinneswahrnehmungen: Nicht umson­st stellt Jesus her­aus, dass das Wort Gottes sog­ar gewiss­er ist als das Zeug­nis eines von den Toten aufer­stande­nen (Lukas 16,30–31).

Ich möchte diese Punk­te gerne etwas näher beleucht­en. Zunächst ein­mal ist es wichtig zu unter­stre­ichen, dass sich die Bibel natür­lich an die Geset­ze der Logik hält (wie es Gott selb­st auch tut). Es gibt keinen Beweis dafür, dass Gott eine andere Logik hat als wir (auss­er in einem über­tra­ge­nen Sinn) – Jesa­ja 55,8–9 wird hierzu völ­lig aus dem Kon­text geris­sen zitiert[7]. Der Punkt ist nicht, dass Gott das Nichtwider­spruchs­ge­setz oder das Gesetz der aus­geschlosse­nen Mitte[8] für sich selb­st auss­er Kraft set­zt, son­dern dass Logik nicht die Grund­feste von Gottes Wort ist – vielmehr ist es umgekehrt.

Es gibt keine Autorität über der Bibel, weil es keine Autorität über Gott gibt.

Ähn­lich­es gilt für die his­torische Genauigkeit (2). Natür­lich ist die Schrift his­torisch kor­rekt (mehr dazu unter Unfehlbarkeit der Bibel), aber die geschichtliche Kor­rek­theit begrün­det nicht ihren Wahrheit­sanspruch; schon allein deswe­gen, weil wesentliche bib­lis­che Aus­sagen nicht his­torisch­er Natur sind (z.B. dass Gott Licht und Liebe ist, 1. Johannes 4,8).

Ein starkes Span­nungs­feld für unsere west­liche Kul­tur tut sich auf, wenn es um die natur­wis­senschaftliche Genauigkeit der Bibel geht (3). Viele Chris­ten sind bere­it, der Natur­wis­senschaft epis­temis­che Pri­or­ität einzuräu­men, und die Deu­tung der Schrift dem anzu­passen, was (ver­meintlich) unum­stössliche natur­wis­senschaftliche Erken­nt­nis ist. Doch wenn wir die Schrift wirk­lich als die aller­höch­ste Autorität betra­cht­en, dann müssen wir a pri­ori[9] zunächst ihr zuhören und glauben, bevor wir die Natur­wis­senschaft kon­sul­tieren. Das ist kein Rück­fall in prim­i­tiv­en Fideis­mus, son­dern die logis­che Kon­se­quenz der Lehre von der Autorität der Bibel. Natür­lich müssen wir dann immer noch die Texte der Schrift richtig ver­ste­hen; das epis­temis­che Pri­mat gehört aber der Bibel.

Wenn unsere empirischen Erfahrun­gen in Kon­flikt mit der Schrift ste­hen, bzw. die Schrift etwas sagt, das wir mit unseren Sin­nen (noch) nicht bestäti­gen kön­nen, gewin­nt immer die Schrift.

In die gle­iche Kerbe schlägt let­ztlich Punkt 4). Wenn unsere empirischen Erfahrun­gen in Kon­flikt mit der Schrift ste­hen, bzw. die Schrift etwas sagt, das wir mit unseren Sin­nen (noch) nicht bestäti­gen kön­nen, gewin­nt immer die Schrift (Johannes 20,29; 2. Korinther 5,7). Die Empirie mag Ihnen sagen, dass Sie mit Ihrem Lebenslauf bei der derzeit­i­gen Arbeits­mark­t­si­t­u­a­tion keinen Job kriege; Gott jedoch sagt, dass er uns “nicht aufgeben und nicht ver­lassen” wird (Hebräer 13,5).

Die Wahrheit der Bibel

Die Bibel ist Wahrheit (gr. aletheia), nicht ein­fach nur wahr (Johannes 17,17). Wahre Aus­sagen sind wahr, weil sie mit der Real­ität übere­in­stim­men; die Bibel als Gottes Wort ist eben jene Realität.

Das sorgt für Stirn­fal­ten beson­ders bei philosophisch trainierten Men­schen. Sie erwarten – zurecht – dass Wahrheit uni­versell ist. Doch die Bibel macht ver­gle­ich­sweise wenige uni­verselle Aus­sagen; zum grössten Teil beste­ht sie aus Geschicht­en, Poe­sie, Prophetie oder Briefen, alles sehr par­tiku­lare[10] For­men von Lit­er­atur. Ihre Aus­sagen scheinen zunächst nur für eine bes­timmte Gruppe zu ein­er bes­timmten Zeit zu gel­ten. Es ist tat­säch­lich auf den ersten Blick selt­sam, dass die ulti­ma­tive Wahrheit ein Buch ist, ent­standen vor langer Zeit, zunächst in ein­er hebrais­tis­chen und dann in ein­er hel­lenis­tis­chen Kul­tur. Doch genau das ist der Anspruch der Bibel. Die Par­tiku­lar­ität ihrer lit­er­arischen For­men erfüllt dabei eine wichtige, ja unverzicht­bare Funk­tion: Sie ist wie ein Gewand für die zeit­losen und uni­versellen Lehren der Schrift, und ver­lei­ht ihnen zugle­ich Kraft und Sub­stanz. Zwei Beispiele: Die Teilung des Roten Meeres (2. Mose 14) war ein par­tiku­lares Ereig­nis, und den­noch kön­nen wir (uni­ver­sal) von grossen Schwierigkeit­en als dem metapho­rischen Roten Meer sprechen, das Gott wun­der­sam teilt. Genau­so kön­nen wir ver­ste­hen, was geistliche Blind­heit (uni­ver­sal) bedeutet, wenn wir die (par­tiku­lare) Geschichte ein­er Blind­en­heilung in den Evan­gelien lesen. Zudem sehen wir in diesem Attrib­ut widerge­spiegelt, was ich bere­its in Bezug auf die Autorität der Bibel sagte. Wahrheit­en sind wahr kraft ihrer Teil­habe an der Wahrheit. Gottes Wort ist diese Wahrheit; natür­lich ist es his­torisch, philosophisch, natur­wis­senschaftlich etc. wahr, aber seine Eigen­schaft als Wahrheit resul­tiert nicht daraus, son­dern vielmehr ist die Bibel der Stan­dard für alle anderen Wahrheiten.

Dein Wort ist Wahrheit.

Jesus in Johannes 17,17

Hier bietet es sich an, eine nicht sel­tene Fehlvorstel­lung aufzu­greifen. Die Bibel ist Wahrheit, aber sie enthält nicht alle Wahrheit­en, die es gibt (s.a. Notwendigkeit der Bibel). Sie sagt uns nicht, dass das Heilige Römis­che Reich Deutsch­er Nation 1806 durch die Abdankung der Hab­s­burg­er endete oder dass Wass­er bei 100°C siedet. Oft hat die Bibel wed­er expliz­it noch impliz­it etwas über ein Forschungs­feld (z.B. Chemie) zu sagen; ihr Ein­fluss kann sehr indi­rekt sein, etwa indem sie, wie Alfred North White­head sagte, die früh­neuzeitlichen Wis­senschaftler (die alle Chris­ten) waren, zum Suchen nach Geset­zen in der Natur ani­mierte, weil sie an einen Geset­zge­ber glaubten[11].

Die Unfehlbarkeit der Bibel

«Die Unfehlbarkeit der Schrift bedeutet, dass die Schrift in ihren orig­i­nalen Manuskripten nichts behauptet, das im Wider­spruch zu den Fak­ten ste­ht.» (Gru­dem 91).

Die Unfehlbarkeit­slehre ist in den let­zten Jahrzehn­ten auch in evan­ge­likalen Kreisen stark unter Beschuss gekom­men und wurde gar von vie­len Kirchen aufgegeben. Es herrscht weit­er­hin eine inner­protes­tantis­che Debat­te über die genaue For­mulierung der Unfehlbarkeit­slehre, die ich hier wed­er nachze­ich­nen kann noch muss; Grudems Def­i­n­i­tion spiegelt jeden­falls meine eigene Posi­tion gut wider. Natür­lich fol­gt die Unfehlbarkeit der Schrift aus ihrer Wahrheit und Chris­tus selb­st behauptet die Wahrheit der Schrift (Johannes 17,17); insofern ist die Unfehlbarkeit­slehre für Chris­ten nicht option­al. Es ist den­noch hil­fre­ich, ein paar gängige Fehlvorstel­lun­gen zur Unfehlbarkeit anzusehen:

  1. Unfehlbarkeit bedeute, dass die Schrift mit wis­senschaftlich­er Präzi­sion spricht, z.B. wenn es um Zahlen geht oder um Beschrei­bun­gen, die astronomis­che Sachver­halte ein­schliessen. Abge­se­hen davon, dass es auch in der Wis­senschaft keine unendliche Präzi­sion gibt, sind auch gerun­dete Zahle­nangaben (z.B. 1000 Män­ner statt 1008) oder Beschrei­bun­gen astronomis­ch­er Sachver­halte in Umgangssprache (“Die Sonne geht auf”) wahr, da sie gar keinen Anspruch auf jene Genauigkeit erheben.
  2. Falschaus­sagen in der Schrift (z.B. Lügen) unter­graben die Unfehlbarkeit der Schrift. Dies ist ein Kat­e­gorien­fehler: während jene Aus­sagen in der Objek­t­sprache falsch sein kön­nen, sind sie in der Metasprache[12] wahr. So ist etwa Ana­nias’ Aus­sage, dass er und seine Frau all ihr Ver­mö­gen der Gemeinde gespendet haben, falsch. Die Aus­sage, dass es wahr ist, dass Ana­nias und Saphi­ra diese Lüge geäussert haben, ist hinge­gen wahr. Eben­so muss man die Reak­tio­nen Gottes und der Gerecht­en auf Falschaus­sagen betra­cht­en. Die Bibel gibt Lügen als Lügen wieder, macht deut­lich, dass sie ver­w­er­flich sind und zeigt die Kon­se­quen­zen von Lüge und Irrtum auf; somit spricht sie Wahrheit.
  3. Zitate kön­nen unge­fähr sein und trotz­dem (aus­re­ichend) akku­rat. Das gilt ins­beson­dere für AT-Zitate im NT[13].

…damit erfüllt wurde, was durch den Propheten Jesa­ja gere­det ist, der spricht: »Er selb­st nahm unsere Schwach­heit­en und trug unsere Krankheit­en.« (Matthäus 8,17)[14]

Der Kon­text beste­ht in wortwörtlichen Kranken­heilun­gen und Dämo­ne­naus­trei­bun­gen (Vers 16).

Im Alten Tes­ta­ment liest sich der zitierte Vers wie folgt:

“Jedoch unsere Lei­den – er hat sie getra­gen, und unsere Schmerzen – er hat sie auf sich geladen.” (Jesa­ja 53,4)

Der AT-Vers zwingt einen nicht dazu, an Kranken­heilun­gen und Dämo­ne­naus­trei­bun­gen zu denken; in der Tat ist man sog­ar geneigt, die “Lei­den” und “Schmerzen” als metapho­risch anzuse­hen, zumal Jesa­ja offen­sichtlich viel in Meta­phern spricht (“Auch wenn eure Sün­den so rot sind wie Karmesin, sollen sie weiß wer­den wie Wolle”, 1,18). Matthäus jedoch, geleit­et durch den Heili­gen Geist, sieht die Anwend­barkeit der mes­sian­is­chen Prophetie auch auf wortwörtliche kör­per­liche Lei­den ein­er­seits, und dämonis­che Bedrück­ung ander­er­seits. Er kann sich solche Frei­heit­en nicht zulet­zt auf­grund der seman­tis­chen Band­bre­ite der zugrun­deliegen­den hebräis­chen Wörter erlauben[15].

Ein weit­eres Beispiel ist die Ver­wen­dung von Josua 1,5 in Hebräer 13,5. Während Gott Josua Seine Treue für die Land­nahme Kanaans zusagt, wen­det der Autor des Hebräer­briefs die Aus­sage auf die Ver­sorgung mit Geld an. Dies zeigt, dass eine “lib­erale” Ver­wen­dung bib­lis­ch­er Zitate abso­lut legit­im ist, sofern der Geist der jew­eili­gen Lehren gewahrt bleibt.

Ein gängiger Ein­wand gegen die totale Unfehlbarkeit der Schrift ist dieser: die Unfehlbarkeit sei nicht total, son­dern beziehe sich nur auf Fra­gen des Glaubens und der Prax­is (Diet­rich Bon­ho­ef­fer und Karl Barth haben zum Beispiel eine solche Sicht vertreten[16]). Abge­se­hen davon, dass die Schrift selb­st dies ganz anders sieht, hier ein philosophis­ches Argu­ment für die Prob­lematik dieser Sicht. Nehmen wir an, die Bibel mache tat­säch­lich falsche Aus­sagen über Geschichte, Natur­wis­senschaft etc.:

P1            Falls die Aus­sagen der Bibel über die Welt und die Geschichte falsch sind, fehlt den darauf auf­bauen­den Dok­tri­nen die Grund­lage und ggf. darauf auf­bauende prak­tis­che Anweisun­gen sind nicht bindend.

P2            Die Bibel macht falsche Aus­sagen über die Welt und die Geschichte.

C               Deshalb, für jede falsche Aus­sage der Bibel über die Welt und die Geschichte, fehlt der darauf auf­bauen­den Dok­tri­nen die Grund­lage und ggf. darauf auf­bauende prak­tis­che Anweisun­gen sind nicht bindend.

Das Argu­ment ist valide[17], weil es ein die Form eines Modus Ponens hat[18]. Um das Argu­ment anzu­greifen, muss man deshalb eine sein­er Prämis­sen entkräften. Das geht nicht mit P2, weil sie ex hypoth­e­si die Überzeu­gung der lib­eralen The­olo­gen darstellt. Also bleibt P1. Ist es wirk­lich wahr, dass bib­lis­che Dok­tri­nen auss­er Kraft geset­zt wer­den, wenn bes­timmte fak­t­be­zo­gene Aus­sagen nicht stim­men? Die Antwort ist schlicht “Ja”. Der Grund ist, dass die Bibel sehr viele ihrer Dok­tri­nen und prak­tis­chen Anweisun­gen an his­torische Ereignisse kop­pelt. Das Parade­beispiel ist die Aufer­ste­hung Christi:

Wenn es aber keine Aufer­ste­hung der Toten gibt, so ist auch Chris­tus nicht aufer­weckt; wenn aber Chris­tus nicht aufer­weckt ist, so ist also auch unsere Predigt inhalt­s­los, inhalt­s­los aber auch euer Glaube. (…) Wenn aber Chris­tus nicht aufer­weckt ist, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sün­den. Also sind auch die, welche in Chris­tus entschlafen sind, ver­loren gegan­gen. Wenn wir allein in diesem Leben auf Chris­tus gehofft haben, so sind wir die elen­desten von allen Men­schen. (1. Korinther 15,13–19)

Wenn Chris­tus nicht von den Toten aufer­weckt wurde, ist unsere Predigt inhalt­s­los. Lib­erale The­olo­gen haben buch­stäblich nichts mehr zu sagen, wenn sie die kör­per­liche Aufer­ste­hung Christi in Raum und Zeit verneinen.

Ein zweites Beispiel bet­rifft den Schöp­fungs­bericht. Falls die Erschaf­fung und Ein­set­zung des ersten Men­schen­paars nicht so ablief wie in Gen­e­sis 1–2 berichtet, dann fehlt der Monogamie ihre Grund­lage; Jesu Argu­ment (Matthäus 19,4–6) liefe dann ins Leere:

Er aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gele­sen, dass der, welch­er sie schuf, sie von Anfang an als Mann und Frau schuf und sprach: »Darum wird ein Men­sch Vater und Mut­ter ver­lassen und sein­er Frau anhän­gen, und es wer­den die zwei ein Fleisch sein « sodass sie nicht mehr zwei sind, son­dern ein Fleisch? Was nun Gott zusam­menge­fügt hat, soll der Men­sch nicht scheiden.

Es ist ein­fach, noch viel mehr Beispiele zu find­en. Wann immer ein his­torisch­er Text des AT zitiert wird, um eine Lehre oder ein Gebot zu unter­mauern, ziehen Zweifel an der his­torischen Genauigkeit der Schrift eine Desta­bil­isierung der Lehre bzw. des Gebots nach sich.

Man kann das Prob­lem auch als ein Sorites-Prob­lem[19] anse­hen: wie viel von der Schrift kann falsch sein, damit die Schrift als Gesamtheit wahr ist? Wo ziehen wir die Gren­ze? Ähn­lich gelagert: wenn min­destens eine Aus­sage der Schrift falsch ist, woher wis­sen wir, dass nicht andere Aus­sagen, oder sog­ar alle Aus­sagen falsch sind? Die epis­temisch sich­er­ste und klarste Sicht auf die Schrift ist deswe­gen schlicht, dass sie unfehlbar ist.

Die Klarheit der Bibel

«Die Klarheit der Schrift bedeutet, dass die Bibel in ein­er Art und Weise geschrieben ist, dass ihre Lehren von allen ver­standen wer­den kön­nen die sie lesen indem sie Gottes Hil­fe suchen und gewil­lt sind, ihren Lehren zu fol­gen.» (Gru­dem, 108)

Obwohl es natür­lich wahr ist, dass die Schrift von Chris­ten unter­schiedlich aus­gelegt wird – jeden­falls in nicht-zen­tralen Lehrfra­gen – ist die Schrift den­noch klar genug, um von jedem, der genug guten Willen besitzt, ver­standen wer­den zu kön­nen. Grudems Def­i­n­i­tion weist dabei auf einen epis­te­mol­o­gisch[20] hochin­ter­es­san­ten Punkt hin: Denn das Ver­ste­hen der Schrift ist in erster Lin­ie eine moralis­che Frage. Benötigt wer­den die Suche nach Gottes Hil­fe sowie der Wille, den bib­lis­chen Lehren zu fol­gen. Diese Konzep­tion von der Klarheit der Bibel fol­gt aus der Schrift selb­st (Johannes 7,17) und wird gestützt durch die Beobach­tung, dass viele hochin­tel­li­gente und gebildete Men­schen die Bibel nicht ver­ste­hen, weil sie sie in gewiss­er Weise sie nicht ver­ste­hen wollen, nicht oder nicht wirk­lich Gottes Willen tun wollen. Während ein reines Herz die Schau Gottes ermöglicht (Matthäus 5,8), bewirkt moralis­che Ver­drehtheit epis­temis­che Blind­heit (Matthäus 6,22–23).

Das Ver­ste­hen der Schrift ist in erster Lin­ie eine moralis­che Frage.

Die Notwendigkeit der Bibel

Die Bibel ist nicht nur wahr, autori­ta­tiv und klar, son­dern auch notwendig für unser geistlich­es Leben, “um das Evan­geli­um zu ken­nen, um ein geistlich­es Leben aufrechtzuer­hal­ten, und um Gottes Willen zu ken­nen” (Gru­dem 116). Jesus selb­st bestätigt diese Sicht von Gottes Wort, wobei er beze­ich­nen­der­weise das AT zitiert: “Nicht von Brot allein soll der Men­sch leben, son­dern von jedem Wort, das durch den Mund Gottes aus­ge­ht.” (Matthäus 4,4) Es gibt gute bib­lis­che Präze­denz dafür, dass das tägliche Lesen der Bibel unverzicht­bar ist (Psalm 1,1–3). Philosophisch betra­chtet haben wir es in der Notwendigkeit der Bibel mit ein­er notwendi­gen Bedin­gung für geistlich­es Leben zu tun – ein­er Bedin­gung, deren Fehlen zum Nichtzu­s­tandekom­men der gewün­scht­en Wirkung führt. Das bedeutet offen­sichtlich, dass die Bibel entschei­dend wichtig für das geistliche Leben ist. Eine notwendi­ge Bedin­gung ist noch nicht zwin­gend eine hin­re­ichende Bedin­gung; im Falle der Bibel trifft aber auch dies zu (siehe Zulänglichkeit der Bibel).

Notwendig ist die Schrift allerd­ings nicht für Wis­sen über Gottes Exis­tenz (siehe Römer 1,20) oder grundle­gende moralis­che Geset­ze (siehe Römer 2,14–15). Kon­terkari­ert das nicht die Zulänglichkeit der Bibel? Nicht wirk­lich. Denn erstens ist es die Bibel selb­st, die ein­räumt, dass manche Ein­sicht­en auch ohne sie zu haben sind. Und zweit­ens sind diese ausser­bib­lis­chen Ein­sicht­en lim­i­tiert. Eines mein­er Lieblings­beispiele ist Pla­ton. Ohne Bibel kommt er zu dem Ver­ständ­nis, dass es etwas Absolutes geben muss, das sowohl für die Exis­tenz alles Seien­den als auch für unsere moralis­chen Ein­sicht­en ver­ant­wortlich ist (das Gute); und er zeich­net ein Bild von der Schöp­fung dieser Welt, das oft frap­pierend an den bib­lis­chen Schöp­fungs­bericht erin­nert (im Timaios). Den­noch sind Pla­tons Ein­sicht­en in die Natur Gottes sowie des Men­schen von Makeln behaftet (die Idee des Ima­go Dei etwa ist ihm unbekan­nt), weil es an der detail­lierten Offen­barung Gottes in der Bibel fehlt.

Pla­ton hat­te ohne die Bibel erstaunliche Einsichten

Die Zulänglichkeit der Bibel

«Die Zulänglichkeit der Schrift bedeutet, dass die Schrift alle Worte Gottes enthält, von denen Er wollte dass Sein Volk sie zu jedem gegeben­em Zeit­punkt der Heils­geschichte habe, und dass sie jet­zt alle Worte Gottes enthält, die wir zur Ret­tung brauchen, um Ihm vol­lkom­men zu ver­trauen und Ihm vol­lkom­men zu gehorchen.» (Gru­dem, 127)

Was sich wie eine leicht abge­drosch­ene evan­ge­likale Phrase anhört, ist in Wahrheit eine Kamp­fansage an den langsamen aber steten Drall in evan­ge­likalen Kreisen weg von der Zen­tral­ität der Bibel für das geistliche Leben. “Zulänglich” kön­nen wir hier philosophisch im Sinne von “hin­re­ichende Bedin­gung” ver­ste­hen. Die Schrift ist also nicht nur notwendig für das geistliche Leben, sie ist auch hin­re­ichend. Das bedeutet, dass, wenn wir alles glauben und tun, was sie sagt, wir alles haben, das wir zum geistlichen Leben brauchen (vgl. 2. Petrus 1,3). Und wieder stossen wir auf eben diesen Punkt: Sta­biles Wis­sen bekom­men wir nur mit der Schrift; zusät­zlich kön­nen wir sagen, dass die Schrift wirk­lich alle Antworten enthält, die wir brauchen, entwed­er expliz­it oder impliz­it, entwed­er direkt oder indirekt.

Da seine göt­tliche Kraft uns alles zum Leben und zur Gottes­furcht geschenkt hat durch die Erken­nt­nis dessen, der uns berufen hat durch ⟨seine⟩ eigene Her­rlichkeit und Tugend, durch die er uns die kost­baren und größten Ver­heißun­gen geschenkt hat, damit ihr durch sie Teil­haber der göt­tlichen Natur werdet, die ihr dem Verder­ben, das durch die Begierde in der Welt ist, ent­flo­hen seid

2. Petrus 1,3–4

Ich will ein per­sön­lich­es Zeug­nis davon geben. Ver­gan­genen Som­mer, ich war ger­ade mit meinen bei­den Jungs unter­wegs zum Zürcher Flughafen, wurde ich plöt­zlich von unge­mein­er See­len­qual heimge­sucht über Aspek­te des früheren, vorchristlichen Lebens mein­er jet­zi­gen Frau, mit der ich damals bere­its in ein­er Beziehung war. Ich fragte Gott: Welchen Trost kannst Du mir jet­zt durch die Bibel geben? So sehr meine Frau auch ihr früheres Leben bedauerte, sie kon­nte es ja nicht rück­gängig machen. Also fing ich an, in meinem Gedächt­nis nach passenden Bibel­stellen zu kra­men. Und siehe da, der Heilige Geist hob einige für mich hervor:

Wenn eure Sün­den ⟨rot⟩ wie Karmesin sind, wie Schnee sollen sie weiß wer­den. (Jesa­ja 1,18)

Denkt nicht an das Frühere, und auf das Ver­gan­gene achtet nicht! Siehe, ich wirke Neues! Jet­zt sprosst es auf. Erken­nt ihr es nicht? Ja, ich lege durch die Wüste einen Weg, Ströme durch die Einöde.  (Jesa­ja 43,18–19)

Daher, wenn jemand in Chris­tus ist, so ist er eine neue Schöp­fung; das Alte ist ver­gan­gen, siehe, Neues ist gewor­den. (2. Korinther 5,17)

Die Kraft des Evan­geli­ums in diesen Versen – obwohl sie nicht expliz­it über roman­tis­che Liebes­beziehun­gen sprechen – tröstete mich gewaltig, inner­halb von Minuten. Als wir am Flughafen anka­men, kon­nte ich mein­er Herzens­dame die gute Botschaft brin­gen, dass ich wieder vol­lkomme­nen See­len­frieden hatte.

Ein weit­eres Beispiel möchte ich auch noch erwäh­nen. Vor Jahren hörte ich einen recht ein­flussre­ichen Gemein­de­grün­der aus Frankre­ich sagen, er wisse bis zum heuti­gen Tag nicht, ob es Gottes Wille gewe­sen sei dass er seine Frau heirate. Angemessene epis­temis­che Demut? Die Bibel sagt, dass wer eine Frau gefun­den hat, Gutes gefun­den und Wohlge­fall­en von Gott erlangt hat (Sprüche 18,22); und weit­er­hin, dass, wenn wir unsere Lust an Gott haben, Er uns die Begehren unseres Herzens gibt (Psalm 37,4). Wenn man also das Begehren zu heirat­en hat, ern­sthaft zu Gott betet und dann eine passende Per­son find­et, kann man sehr wohl wis­sen, dass es Gottes Wille war diese Per­son zu heirat­en! Die Schrift ist zulänglich auch für solche prak­tis­chen Lebensfragen.

Zusammenfassung

Vielle­icht erscheint dem einen oder anderen Leser die in diesem Artikel vertretene Sicht auf die Schrift als zu radikal. Mir selb­st ging es eine Zeit lang so. Wir alle sind mehr oder weniger vom Virus der Mod­erne infiziert. Dieser Virus bewirkt falsche Demut: Dort, wo Wis­sen tat­säch­lich möglich ist, herrscht ungerecht­fer­tigte Zurück­hal­tung. Das Prob­lem ist, dass wir aber unser Leben nach irgen­deinem Massstab leben müssen; wir brauchen Richtlin­ien, um Entschei­dun­gen zu tre­f­fen. Wenn nicht die Bibel unser Fun­da­ment ist, wom­it wer­den wir sie erset­zen? Mit bloss men­schlich­er Weisheit? Oder mit unseren Gefühlen? Ein kurz­er Moment der Reflek­tion sollte zeigen, dass keines dieser Fun­da­mente auf Dauer tra­gen kann. Ich hoffe, in diesem Artikel gezeigt haben zu kön­nen, dass die Lehren von der Erhaben­heit der Bibel ratio­nal glaub­würdig, und, vor allem, bib­lisch sind. Die Bibel ist wirk­lich das Buch, das die Welt bedeutet.


[1] Ich ver­wende “evan­ge­likal” als losen Sam­mel­be­griff für alle Chris­ten gemäss der Quadri­lat­er­al-Defin­tion von David Beb­bing­ton (Beb­bing­ton, David W. (1989). Evan­gel­i­cal­ism in Mod­ern Britain: A His­to­ry from the 1730s to the 1980s. Lon­don: Unwin Hyman. pp. 2–17.)

[2] Gru­dem, Wayne: Sys­tem­at­ic The­ol­o­gy. Zon­der­van 1994

[3] “Epis­temisch” bedeutet mit Wis­sen bzw. Erken­nt­nis zu tun habendm (von gr. epis­teme, Wissen/Erkenntnis).

[4] Ein infiniter Regress liegt dann vor, wenn das Definien­dum (das zu Definierede) im Definiens (dem Definieren­den) ver­wen­det wird. Hier. “X ist ein Fall von Wis­sen, wenn man wis­sen kann, dass Y über X wahr ist.” Ich muss also Wis­sen richtig erfasst haben bevor ich Wis­sen definieren kann. Für die Erfas­sung jenes Wis­sens brauche ich wiederum eine Idee davon, was Wis­sen ist. Und so weit­er ad infini­tum. Tat­säch­lich ähnelt dieser infi­nite Regress dem Prob­lem, das Pla­ton im Meno auf­greift: Wie kann ich wis­sen, dass ich etwas weiss? Wenn ich es schon weiss, brauche ich keine weit­ere Bestä­ti­gung. Wenn ich es aber nicht weiss, dann fällt die Frage ganz flach.

[5] Meine Über­set­zung, wie auch sonst.

[6] In ander­er Hin­sicht mag ein Unter­schied beste­hen. So ist wohl das Lesen der Schrift nicht das Gle­iche wie eine direk­te Gotte­ser­fahrung zu haben.

[7] “Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR. Denn ⟨so viel⟩ der Him­mel höher ist als die Erde, so sind meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.” Zuvor lädt Gott Sün­der zur Umkehr ein: “Sucht den HERRN, während er sich find­en lässt! Ruft ihn an, während er nahe ist. Der Got­t­lose ver­lasse seinen Weg und der Mann der Bosheit seine Gedanken! Und er kehre um zu dem HERRN, so wird er sich über ihn erbar­men, und zu unserem Gott, denn er ist reich an Verge­bung!” (Jesa­ja 55,6–7). Gottes Gedanken ste­hen also über men­schlichen Gedanken in dem Sinn, dass Gott der Sinn viel mehr nach Verge­bung und Wieder­her­stel­lung ste­ht als bei Men­schen für gewöhn­lich der Fall.

[8] Das Nichtwider­spruchs­ge­setz sagt, dass ein Sachver­halt und sein Gegen­teil nicht zugle­ich wahr sein kön­nen: Eine Frau kann nicht schwanger und nicht-schwanger zugle­ich sein. Das Gesetz der aus­geschlosse­nen Mitte sagt, dass es zwis­chen einem Sachver­halt und seinem Gegen­teil keinen drit­ten Zus­tand gibt: Eine Frau ist entwed­er schwanger oder nicht schwanger; sie kann nicht “halb schwanger” sein.

[9] A pri­ori-Aus­sagen sind Aus­sagen, die man durch reines Nach­denken, ohne empirische Nach­forschun­gen tre­f­fen kann.

[10] “Par­tiku­lar” bedeutet “beson­ders” ste­ht im Gegen­satz zu “uni­ver­sal”. In der Meta­physik macht man den Unter­schied zwis­chen Uni­ver­salen (z.B. dem Uni­ver­sale Men­sch) und ihren par­tiku­laren Instanzi­ierun­gen (hier, einem bes­timmten Men­schen). Geschichtliche Ereignisse wie der Fall Kon­stan­tinopels oder die Nieder­lage der Spanis­chen Arma­da 1588 sind par­tiku­lare Ereignisse.

[11] So jeden­falls fasst C.S. Lewis White­heads Sicht zusam­men (Lewis, C.S.: Mir­a­cles (revised ed.), MacMil­lan 1960)

[12] Objek­t­sprache ist schlicht die Sprache, die wir benutzen, um Aus­sagen zu machen: „Paris ist eine faszinierende Stadt.“ Metasprache ist Sprache über Sprache: „Der Satz ‚Paris ist eine schöne Stadt‘ hat fünf Wörter.“

[13] Ich bin mir bewusst, dass die NT-Autoren für gewöhn­lich aus der Sep­tu­ag­in­ta (LXX) zitieren. Das ändert aber nichts an meinem Argu­ment, denn selb­st wenn die unter­schiedliche Wieder­gabe auf die LXX zurück­ge­ht, dann sind es eben die LXX-Über­set­zung, die sich diese legit­ime Frei­heit nah­men.. Zum Beispiel gibt Matthäus Jesa­ja 53,4 wie fol­gt wieder:

[14] Alle Bibelz­i­tate aus der Rev­i­dierten Elber­felder Über­set­zung (2006)

[15] Z.B. ste­ht für “Lei­den” das Wort חﬥי (choli), das auch „Krankheit“ oder „Unglück“ bedeuten kann.

[16] Siehe Weikart, R., “The Trou­bling Truth About Bonhoeffer’s The­ol­o­gy”. Chris­t­ian Research Mag­a­zine, 2015 (aktu­al­isiert 2024). https://www.equip.org/articles/troubling-truth-bonhoeffers-theology/ (abgerufen am 5.12.2024).

[17] In einem vali­den Argu­ment ist es unmöglich, dass die Kon­klu­sion nicht fol­gt, wenn die Prämis­sen wahr sind.

[18] Modus Ponens-Argu­ment haben die Form “Falls A, dann B; A; deshalb B.”

[19] Die klas­sis­che For­mulierung eines Sorites-Prob­lems ist diese: Wie viele Körn­er kann man von einem Sand­haufen ent­fer­nen, bevor der Haufen aufhört ein Haufen zu sein? Ent­fer­nt man alle bis auf einen, kann man nicht mehr von einem Haufen sprechen. Zwei Körn­er scheinen auch zu wenig zu sein. Wo die Gren­ze zwis­chen Haufen und Nicht-Haufen liegt, ist unklar.

[20] Epis­te­molo­gie (von gr. epis­teme, Wis­sen und logos, Lehre oder Wis­senschaft) ist die „Wis­senschaft vom Wis­sen“, der Zweig der Philoso­phie, der sich mit der Frage, wie und was wir wis­sen kön­nen, auseinandersetzt.

Über den Kanal

Alin Cucu

Alin Cucu, Jahrgang 1981, als Kind rumänischer Eltern in Bayern aufgewachsen. Lebt seit 2017 in Arbon, kam in die Schweiz um seiner eigentlichen Berufung – Philosoph zu sein – zu folgen, zuvor arbeitete er als Gymnasiallehrer für Biologie und Chemie. 2017 bis 2020 Forschungstätigkeit an der IAP in Liechtenstein, seit 2020 an der Uni Lausanne, 2022 Promotion ebenfalls in Lausanne. Alin ist geschieden und hat zwei Söhne.

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Kommentare zu diesen Beitrag

1 Comment

  1. Zumbrunn Claudius

    Gerne noch zwei drei Anmerkungen;

    - Fran­cis Bacon (ꝉ 1626), ein­er der Mit­be­grün­der der mod­er­nen Natur­wis­senschaft, war der Sohn ein­er streng gläu­bi­gen, ortho­dox-reformierten Puri­taner­in (Vor­läufer der pietis­tis­chen Bewe­gung). Bacon schreib in seinem Werk 1605 «The Advance­ment of Learn­ing»: «Zum Abschluss sei deshalb gesagt, dass nie­mand – sei es aus falsch­er Beschei­den­heit oder gekün­stel­ter Zurück­hal­tung –, denken oder die Mei­n­ung vertreten darf, dass man in dem Buch vom Wort Gottes oder das Buch der Werke Gottes zu viel studieren oder zu gut ken­nen könnte…»

    Zu sein­er Zeit war seine Aus­sage rev­o­lu­tionär, weil es das wis­senschaftliche betonte. Heute ist es rev­o­lu­tionär weil es das Bibel­studi­um betont…

    - Kön­nte man “lib­er­al” nicht auch als Philoso­phie ein­er Organ­i­sa­tion­slehre ver­ste­hen? Macht (nach unten) verteilen, beto­nen des Indi­vidu­um, schlanke Zen­trale, kleine autarke Grup­pen, usw.

    - Danke für die wertvollen Gedanken zu ein­er freikirch­lichen Ge‑,Wissens Lehre.

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