Ist Theologie etwas, das Gott nutzen kann, damit wir ihn besser kennenlernen? Oder steht Theologie einem Kennenlernen von Gott im Weg? Die Meinungen gehen mitunter weit auseinander. Eine kleine Reflexion am Ende meines ersten Semesters als Dozent für Dogmatik am TSC.
In den sozialen Medien kursiert regelmässig ein Bild des ‘Naked Pastor’. Dieses Bild weckt interessante Fragen. Es soll allem voran eine Entlarvung von Theologie, welche Gott ‘in eine Box’ pressen will, sein:
Da ist etwas dran! Wir kennen vermutlich den Gedanken, der hier zum Ausdruck gebracht werden will: Theologen insbesondere, aber auch Christen allgemein, reduzieren Gott manchmal auf das, was wir als Menschen über ihn aussagen können. Gott auf diese Weise einzugrenzen ist tatsächlich ein Missbrauch von Theologie, und ein Symptom der Selbstüberschätzung unserer menschlichen Fähigkeit, Gott umfassend verstehen und erkennen zu können.
Nebst diesem aus meiner Sicht berechtigten Anliegen, begegnen mir in den sozialen Medien und in Gesprächen regelmässig Aussagen, welche einen viel grösseren oder umfassenderen Anspruch zu erheben scheinen. “Wer Theologie betreibt, steckt Gott in eine Box”, meinen einige sinngemäss . “Wir können letztlich nichts über Gott sagen”, lassen andere verlauten. “Theologie ist ein Hindernis, den wahren Gott kennenzulernen”, sagen mir manche. In den sozialen Medien wird das Bild des ‘Naked Pastor’ immer wieder benutzt, um derartige Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Ein solch umfassender Anspruch ist mit sich selbst kaum vereinbar und bringt Theologie ganz allgemein in Verruf. Leider.
Es lohnt sich zu überlegen, ob der umfassende Anspruch, dass Theologie uns hindert zu Gott zu kommen, mit sich selbst vereinbar ist. Dieser Anspruch ist ja selbst eine zutiefst theologische Aussage. Und: Wer diese oder ähnliche Aussagen macht, muss etwas über Gott wissen, nämlich, dass Gott grösser ist als die Box. Woher soll so eine Person das wissen, wenn Theologie uns angeblich keine verlässliche Information über Gott geben kann? Wer also das Bild vom ‘Naked Pastor’ in einem umfassenden Sinn auf das Reden und Nachdenken über Gott anwendet, wird Aussagen machen, die mit sich selbst unvereinbar sind.
Und überhaupt: Ist denn dieser angeblich so grosse Gott unfähig, auf eine Weise mit uns zu reden, dass wir Wahres über ihn erkennen? Macht er sich in seiner unfassbaren Grösse für uns wirklich nur unfassbar? Ist die Behauptung, Theologie stehe einer Begegnung mit Gott im Wege, nicht genauso ein Akt der Reduktion von Gott auf die ominöse Schachtel? Wer sagt, wir können von Gott theologisch nichts oder kaum etwas sagen, macht aus meiner Sicht nicht nur Aussagen, die mit sich selbst unvereinbar sind, sondern steckt Gott genauso in eine Box, wie der ‘Naked Pastor’ es zeichnet.
Wir müssen, glaube ich, eingestehen, dass wir auf bedeutungsvolle Weise über Gott reden können. Damit ist auch gesagt, dass Theologie möglich ist und dass sie durchaus zu einer Begegnung mit Gott verhelfen kann. Ich stelle deshalb das Bild des ‘Naked Pastor’ einem anderen Bild gegenüber, das eine meiner Studentinnen am TSC gemalt hat. Die Künstlerin heisst Simone Knierim und sie sitzt jeden Donnerstag in meinem Dogmatik Unterricht. Simone hat vom Unterricht inspiriert, das Bild von ‘Naked Pastor’ genommen und uminterpretiert:
Dieses Bild gefällt mir sehr gut! Es zeigt die nötigen Grenzen der Theologie auf, aber ohne gleichzeitig selbst eine unnötige Begrenzung zu machen, wie sie das Bild vom ‘Naked Pastor’ zu suggerieren scheint. In diesem Bild ist Theologie positiv dargestellt. Gott nutzt sie, um uns so viel mehr zu zeigen als wir ohne Theologie sehen könnten. Theologie als Entdeckung von mehr! Theologie als Abenteuer mit Gott! Theologie als etwas, das Charles Spurgeon in einer Predigt als eine der wichtigsten Disziplinen von Christen bezeichnet:
Nichts wird den Verstand so erweitern, nichts wird den Intellekt so erweitern, nichts die ganze Seele des Menschen so vergrößern, wie eine andächtige, ernsthafte, fortgesetzte Erforschung des großen Themas der Gottheit. CH Spurgeon, Predigt vom 7. Januar 1855, eigene Übersetzung
Paulus erlebt das. Nachdem er durch theologische Reflexion etwas Neues und Tiefes über Gott erkennt, platzt staunende Anbetung aus ihm heraus:
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. (Röm 11:33–36)
Wie schön, dass Paulus in diesem Lobpreis nicht nur das anerkennt, was der ‘Naked Pastor’ zum Ausdruck bringen will, sondern auch das, was Simone Knierim erkannt hat und so gut in ihrem Bild vereint! Paulus spricht sowohl über die Grenze unserer Fähigkeit, Gott zu verstehen, wie auch davon, dass wir Gott verstehen können! Dies passt ausgezeichnet zum Bild von Simone. Gute Theologie ist für Paulus eine Schachtel, die in die Begegnung mit Gott führt und in staunende Anbetung über ihn und seine Welt!
Die Schachtel hat auf Weihnachten hin vielleicht noch einen tieferen Sinn. Ich denke sie mir aktuell auch als Krippe: Dem Ort, wo der Sohn Gottes sich selbst in diese Welt hinein inkarniert (Joh 1:1–3). Damit beweist dieser grosse und angeblich so unfassbare Gott, dass er fähig ist, sich an unsere Lebensdimensionen anzuschliessen. Gott ist nicht nur in der Lage, so mit uns zu reden, dass wir ihn verstehen und dann über ihn und mit ihm reden können. Er ist auch fähig mit uns zu leben, sodass wir mit ihm leben und in Beziehung kommen können! Die Krippe und das theologische Nachdenken über die Menschwerdung Gottes, wird zu einem Hotspot der Offenbarung, von dem aus Gott uns so viel mehr von sich selbst zeigt, als wir bisher erkannt haben. Die Krippe ist genau die Schachtel, wie sie Simone gemalt hat!
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (Joh 1:14)
Ich schliesse hier eine Bemerkung an von Dr. Andreas Hahn in seinem Kommentar zur vorherigen Version dieses Artikels:
Joh 1:18 bringt es prima zusammen: “Niemand hat Gott je gesehen” — darin liegt das Wahrheitsmoment der apophatischen Theologie (die nur Negativ-Aussagen über Gott zulässt). Dann geht es weiter: “… der einziggezeugte Gott, der in des Vaters Schoß ist, hat Aufschluss über ihn gegeben” — und deshalb sollten wir nicht so tun, als könnten wir gar nichts über Gott sagen.
Ich wünsche allen Christen, die etwas tiefer über unseren, an Weihnachten menschgewordenen und offenbarten Gott nachdenken, gesegnete Festtage und im neuen Jahr ein theologisches Abenteuer mit Gott, so wie Simone’s Bild es uns zeigt.
Danke Simone für die Veranschaulichung, danke Paul für deine Gedanken dazu. Das Gesamtpaket dieses Artikels zeigt mir einmal mehr, dass Gott zusammen mit mir sich in die Schuhschachtel meiner kleinen Welt, begibt, wenn ich bedürftig darauf warte und hoffe. Vermutlich heisst die Kiste auch nicht immer gleich und vor allem nicht unbedingt immer Theologie. Sie könnte ja auch Neugier, Hoffnung, Trost oder was auch immer heissen. Zudem sind es ja vielmehr Milliarden von Kisten, in die Gott sich begibt, um in der Vielfalt der Milliarden sich zu offenbaren. Problematisch wird es ja erst, wenn es nur die EINE, allgemeingültige Box zu geben scheint. Insofern lässt sich Gott nicht in EINE Box sperren.
Nochmals danke und ebenfalls frohe Festtage.
Schön — danke Stefan 👍
Schön und anschaulich erklärt! Joh 1,18 bringt es schön zusammen: “Niemand hat Gott je gesehen” — darin liegt das Wahrheitsmoment der apophatischen Theologie (die nur Negativ-Aussagen über Gott zulässt). Dann geht es weiter: “… der einziggezeugte Gott, der in des Vaters Schoß ist, hat Aufschluss über ihn gegeben” — und deshalb dürfen wir nicht so tun, als könnten wir gar nichts über Gott sagen.
Herzlichen Dank Andreas 🙏
Wow! Mit wenigen Worten (ein Bild sagt bekanntlich mehr als 1000 Worte) voll auf den Punkt gebracht! Da sage ich von Herzen Merci, Paul!
Vielen Dank Daniel!