Mensch, wer bist du? – Krone der Schöpfung oder biologisches Abfallprodukt?

Lesezeit: 7 Minuten
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by Matt Studer | 28. Okt. 2024 | 0 comments

Ent­täuscht vom Affen, schuf Gott den Men­schen. Danach verzichtete er auf weit­ere Exper­i­mente. (Mark Twain)

Wir sind Über­lebens­maschi­nen – Robot­er, blind, pro­gram­miert zur Erhal­tung der selb­st­süchti­gen Moleküle, die Gene genan­nt wer­den. (Richard Dawkins, Das ego­is­tis­che Gen)

Was ist der Men­sch, dass du sein­er gedenkst, und des Men­schen Kind, dass du dich sein­er annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Her­rlichkeit hast du ihn gekrönt. (Die Bibel, Psalm 8)

Der Men­sch ist das einzige Wesen, dass selb­stre­flek­tierend Gedanken darüber anstellt, wer er ist. Wie Mar­tin Hei­deg­ger es sagte: «Der Men­sch ist das einzige Wesen, das nach seinem Sein fragt.»[1] Im Gegen­satz zu den Tieren, die ein­fach sind, wie sie sind (zumin­d­est nehmen wir das so an), denkt der Men­sch über sich selb­st nach. Für den griechis­chen Philosophen Aris­tote­les ist der Men­sch ein Zoon logikon, ein ratio­nales «Tier». Und gemäss John Locke ist es ger­ade diese Ratio, «die den Men­schen über den Rest der anderen Wesen stellt und ihm den ganzen Vorteil und die Herrschaft ver­lei­ht, die er über sie hat.»[2]

In der mod­er­nen Zeit, in der wir leben, wurde dieses Nar­ra­tiv – dass der Men­sch sich wesens­mäs­sig von allen anderen Geschöpfen abhebt – durch Charles Dar­wins Evo­lu­tion­s­the­o­rie hin­ter­fragt. Wir Men­schen mögen zwar viel weit­er­en­twick­el­ter als alle anderen Lebe­we­sen sein, doch sind wir eben nur weit­er-entwick­elt, aber nicht gen­uin anders. Dar­win hat es einst so formuliert:

Wir haben gese­hen, dass die Sinne und Intu­itio­nen, die ver­schiede­nen Emo­tio­nen und Fähigkeit­en wie Liebe, Gedächt­nis, Aufmerk­samkeit, Neugi­er, Nachah­mung, Ver­nun­ft usw., mit denen der Men­sch so prahlt, bei den niederen Tieren bere­its in einem anfänglichen und manch­mal in einem bere­its weit-entwick­el­ten Zus­tand zu find­en sind.[3]

Das würde bedeuten, dass es zwis­chen Tier und Men­sch nur einen gradu­ellen Über­gang gäbe. Wenn dann die Biolo­gie oder Bio­chemie (oder die Neu­rolo­gie) uns offen­bart, dass wir durch bio­chemis­che Reak­tio­nen in unserem Kör­p­er ges­teuert (getrieben?) wer­den und es nur so scheint, als hät­ten wir «eigene» freie Gedanken und Gefüh­le – dann bekom­men wir plöt­zlich das «Gefühl», dass der Men­sch vielle­icht doch nicht so wesens­mäs­sig anders sei wie das Tier. Von ein­er anderen Seite her gedacht, wenn wir sowieso nur aus Materie bestün­den, was unter­schei­det uns dann von ander­er Materie? Was recht­fer­tigt den Son­der­sta­tus, den wir uns selb­st geben? Um es mit einem Song­text von Helge Schnei­der zu beschreiben: «Sind wir denn mehr wert, ist der Men­sch mehr wert wie der Wurm?! Die Amöbe, das Geschnetz, die Suppe?» 

Men­sch­sein kön­nte dann vielle­icht bess­er gelin­gen, wenn wir diese materiellen Abläufe in uns bess­er ver­ste­hen und entsprechend reg­ulieren kön­nen, sowie man eine Mas­chine reg­uliert, damit diese rei­bungs­frei funk­tion­iert.[4] Wir sind aber dann nur einen kleinen Schritt davon ent­fer­nt, auch andere Men­schen als Maschi­nen zu behan­deln und sie gegebe­nen­falls für unsere Zwecke zu manip­ulieren. Christo­pher Watkin meint diesbezüglich:

Sich die Men­schheit im Bild der Mas­chine vorzustellen … ist keine unschuldige Meta­pher. Wenn Men­schen im Wesentlichen aus Fed­ern, Fäden und Rädern beste­hen, dann ist es legit­im, sie auf bes­timmte Weise zu behan­deln und zu manip­ulieren, so wie wir es mit jed­er anderen Mas­chine auch tun wür­den.[5]

Ein Blick in die Schöpfungsgeschichte – eine tierisch-menschliche Story, mit Pflanzenanteilen

Wer die Schöp­fungs­geschichte am Anfang der Bibel mit einem lit­er­arischen Blick liest, dem kön­nen ver­schiedene Details auf­fall­en. Die Schöp­fungssto­ry ist ein fein gewoben­er, lit­er­arisch-poet­is­ch­er Tep­pich mit vie­len Far­ben, Mustern und Verknüp­fun­gen. So sticht ins Auge, dass Gott die Pflanzen, die Meeres‑, Luft- und Landtiere jew­eils «nach ihrer Art» schuf (siehe Gen 1,12.21.24). Aber als der Men­sch an die Rei­he kam, sagte Gott nicht «nach sein­er Art», son­dern «nach unserem Bild»:

Dann sprach Gott: Lasst uns Men­schen machen als unser Bild, uns ähn­lich! Sie sollen wal­ten über die Fis­che des Meeres, über die Vögel des Him­mels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. (Vers 26)

Bei der Schöp­fung des Men­schen erklingt defin­i­tiv noch eine neuar­tige Melodie an. Kein Wun­der, hat man den Men­schen als Kro­ne der Schöp­fung beze­ich­net. The­olo­gen reden gewöhn­lich vom Ima­go Dei, von der Ähn­lichkeit des Men­schen zu Gott, sein­er Got­teben­bildlichkeit. Doch bevor wir in solche Höhen auf­steigen, soll­ten wir noch tiefer im Boden­laub der Schöp­fungs­geschichte herumwühlen. Watkin meint: «Und doch ist es wichtig zu erken­nen, dass auch Adam und Eva nicht völ­lig einzi­gar­tig sind.»[6] So wurde für den Men­schen kein sep­a­rater Schöp­fungstag reserviert. Er wurde am sech­sten Tag geschaf­fen, zusam­men mit allen Landtieren – sor­ry! Der Men­sch ist diesen Tieren auch nicht ganz unähn­lich: Auch er muss essen um zu leben (Gen 1,29–34) und er repro­duziert, wie die Tiere es auch tun (Gen 1, 22.28). Wie Chris Watkin weit­er ela­bori­ert, schuf Gott den Men­schen auch nicht aus irgen­dein­er überirdis­chen oder himm­lis­chen Sub­stanz. Nein, er nahm das Mate­r­i­al der Erde, die ganz gewöhn­liche «Erde vom Acker­bo­den» (Gen 2,7). Es ist also nicht falsch, wenn wir sagen, der Men­sch bestünde aus Materie. Der Philosoph Mark Gabriel beze­ich­net den Men­schen gar als eine Art Zoo.[7] Der Men­sch ist Teil dieser materiellen Welt oder Natur und diese Welt oder Natur ist Teil von ihm. Wir sind von Mikroor­gan­is­men wie Pilzen, Bak­te­rien und Viren besiedelt. Wie Gabriel es aus­drückt: «Die Natur ist nicht nur ausser­halb von uns, son­dern auch in uns.» Darum: «Wir sind somit in einem viel radikaleren Sinn Teil der Natur, als uns dies deut­lich wird.»

Und doch ist der Men­sch mehr als Materie. Ihn auf Materie zu reduzieren wäre eben eine Reduk­tion. Wie es der NZZ Artikel zu Mark Gabriel beschreibt: «So geht der Men­sch in seinem ver­let­zlichen Tierkör­p­er, in seinen Genen oder in seinen Ner­ven­zellen niemals ganz auf. Zwar hän­gen neu­ronale Prozesse und geistige Zustände zusam­men, doch der Autor [gemeint ist Gabriel] beste­ht auf ihrer kat­e­go­ri­alen Unter­schei­dung.» Gabriel sagt dazu:

Der Men­sch existiert sozusagen an der Schnittstelle von Geist und Natur. Wir ken­nen bei­des und wis­sen gle­ichzeit­ig, dass wir bei­des nicht voll­ständig kennen.

Man kön­nte an der Stelle darüber nachsin­nen, dass der Men­sch, im Bilde Gottes geschaf­fen, eine imma­terielle, geistige oder geistliche Dimen­sion haben muss, da sein Schöpfer selb­st imma­teriell ist: «Gott ist Geist». (Joh 4,24) Aber der Schöp­fungs­bericht begin­nt hier nicht philosophisch abzu­driften. Er beschreibt vielmehr ganz sim­pel, wie Gott mit dem Men­schen kom­mu­niziert. Und dieser Fakt fällt auf. Gott spricht son­st nur zu sein­er Schöp­fung – den Seekrea­turen, Lan­drat­ten und Vogelschwär­men – aber er spricht nicht mit ihnen.[8] Aber am sech­sten Tag spricht Gott mit dem Men­schen. Und später spricht der Men­sch auch mit Gott (spätestens ab Gen 3). Was bedeutet das anderes, als dass Gott mit dem Men­schen eine spezielle Gemein­schaft pflegt, eine einzi­gar­tige Fre­und­schaft mit ihm einge­ht. Die Sprach­fähigkeit des Men­schen wiederum erre­icht ihren Höhep­unkt in Poe­sie, einem Liebeslied – ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte:

Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen, denn vom Mann ist sie genom­men. (Gen 2,23)

Das Geschenk der Ebenbildlichkeit 

The­olo­gen haben schon viel darüber disku­tiert, worin die Eben­bildlichkeit des Men­schen beste­ht. In welchen Aspek­ten seines Men­sch­seins ist der Men­sch ähn­lich wie Gott? Was immer dieses Ima­go Dei genau bein­hal­tet (wir haben einige Facetten besprochen), es ist entschei­dend zu sehen, dass es von Gott geschenkt ist. Watkin hält fest:

Adam und Eva wur­den nach dem Bild Gottes geschaf­fen. Sie erre­ichen diesen Sta­tus nicht im Schweiße ihres Angesichts.[9]

Got­teben­bildlichkeit ist eine Schöp­fungsre­al­ität und keine men­schliche Errun­gen­schaft. Vielle­icht ist es ger­ade gut, dass der Schöp­fungs­bericht nicht detail­liert­er benen­nt, worin unsere Eben­bildlichkeit beste­ht, son­dern betont, dass sie von Gott geschenkt wird. Denn son­st stün­den wir in der Gefahr, uns selb­st an irgen­dein­er men­schlichen Eigen­schaft zu messen. Aber was, wenn jemand diesen Test ver­fehlte? Sagen wir, Eben­bildlichkeit bestünde primär in der Ratio­nal­ität des Men­schen. Was wäre mit den Men­schen mit Behin­derung, deren ratio­nale Kapaz­ität nur eingeschränkt funk­tion­iert? Oder mit Kindern? Oder mit älteren Men­schen, die ihre Denk­fähigkeit auf­grund ein­er Krankheit ver­lieren? Ich erin­nere mich gut, als der Alzheimer meines Gross­vaters in Schüben zunahm und er nicht mehr fähig war, sich klar und eben ratio­nal zu artikulieren. War er deswe­gen weniger Men­sch? Watkins kri­tisiert zu Recht, dass wir Eben­bildlichkeit nicht ein­er her­vorge­hobe­nen men­schlichen Eigen­schaft zuschreiben soll­ten, weil wir son­st denen, die diese Eigen­schaft nicht in aus­re­ichen­dem Maß besitzen «kein Recht auf die Würde oder den Schutz, die das Men­sch­sein bietet» geben.[10]

Zum Schluss: Was ist der Mensch? Er ist weniger und gleichzeitig ist er mehr!

Wir haben diesen Artikel mit der Frage ges­tartet, wer der Men­sch ist. Selb­stver­ständlich kön­nen wir diese Frage hier nicht abschliessend beant­worten. Der bib­lis­che Schöp­fungs­bericht lehrt uns aber zwei ele­mentare Dinge. Erstens, der Men­sch ist mehr als er vielle­icht denkt. Er ist «Gott ähn­lich».  Der Men­sch ist mehr als eine biol­o­gis­che Mas­chine, die man manip­ulieren kann. Wir devaluieren den Men­schen, wenn wir ihn als biol­o­gis­che Mas­chine definieren. Oder wie leb­st du mit dem Gedanken, dass dein Part­ner oder deine Kinder bio­chemisch ges­teuerte Auto­mat­en sind? Wie ordnest du deine Hingabe zu dieser Materie, dieser Ansamm­lung von Atom­en ein, die du so liebst? 

Gle­ichzeit­ig ist der Men­sch weniger, als er manch­mal denkt: Er ist nicht Gott. Er ist «nur» ein Abbild dieses Gottes, der ihn geschaf­fen hat. Er kreiert sich nicht selb­st. Er lebt inner­halb eines Rah­mens, den ihm sein Schöpfer gesteckt hat. Und seine Eben­bildlichkeit ver­di­ent er sich nicht – sie wird ihm geschenkt. 

Es gibt wieder ein­mal zwei Seit­en, um vom Pferd zu fall­en. Christo­pher Watkin beschreibt es als zwei pathol­o­gis­che Ent­gleisun­gen des Men­sch­seins: Wenn der Men­sch entwed­er zu hoch oder zu niedrig von sich selb­st denkt – und die Kon­se­quen­zen, die das eine oder andere mit sich brin­gen kann. Kein­er brachte dies schön­er zum Aus­druck als der christliche Denker Pas­cal in einem sein­er Pensées: 

Der Men­sch ist wed­er Engel noch Tier, und das Unglück will es, dass, wer einen Engel aus ihm machen will, ein Tier aus ihm macht.[11]

Am Schluss lan­den wir am besten bei den Psalmen. Denn die Psalmen lehren uns bei­des – Demut und Hoff­nung. Psalm 103 besagt: «Denn [Gott] weiss, was für Geschöpfe wir sind, er denkt daran, dass wir nur aus Staub gebildet wur­den.» (Vers 14) Gle­ichzeit­ig hat Gott den Men­schen «wenig niedriger gemacht als Gott selb­st – und mit Ehre und Her­rlichkeit hat er ihn gekrönt.» (Psalm 8,6) Bei­des ist so wichtig für unser Men­sch­sein – hal­ten wir bei­des zusammen.

 


[1] Mar­tin Hei­deg­ger, Sein und Zeit.

[2] John Locke, An Essay con­cern­ing Human Under­stand­ing, Seite 4, meine Über­set­zung.

[3] Charles Dar­win, The Descent of Man, Seite 151. Meine Übersetzung

[4] https://experiencelife.lifetime.life/article/emotional-biochemistry/

[5] Christo­pher Watkins, Bib­li­cal Crit­i­cal The­o­ry: How the Bible’s Unfold­ing Sto­ry Makes Sense of Mod­ern Life and Cul­ture, Seite 98.

[6] Bib­li­cal Crit­i­cal The­o­ry, Seite 84.

[7] https://www.nzz.ch/feuilleton/sind-menschen-tiere-das-sagt-der-philosoph-markus-gabriel-ld.1779461  

[8] Auch diesen Gedanken ver­danke ich Watkin, Seite 85.

[9] Bib­li­cal Crit­i­cal The­o­ry, Seite 88.

[10] Bib­li­cal Crit­i­cal The­o­ry, Seite 88.

[11] Blaise Pas­cal, Pen­sées VI, 358.

 


Bilder: Peter Bruderer

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Matt Studer

Matt Studer, Jahrgang 1980, ist eine Mischung aus freischaffendem Musiker, Musiklehrer und Theologe (Studium an der Akademie für Leiterschaft, DE und Union School of Theology, Wales). Zudem - oder vielleicht besser vor allem - ist er mit Rahel verheiratet und zusammen haben sie zwei Söhne. Er ist ein Nachdenker und Tieftaucher und etwas davon bringt er auf seinem Blog zum Ausdruck. Wenn er nochmals von vorne anfangen könnte, dann würde er wohl Weltenbummler und Bibelschmuggler werden.

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